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Durchlass-Öffnung
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Hahnküken
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Einstellschieber
Deutsche Vierteljahrsschrift für
öffentliche Gesundheitspflege
Alexander Spiess, Moritz Pistor, Emanuel Roth, Sigmund
Merkel, Deutscher Verein für öffentliche Gesundheitspflege
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Deutsche Vierteljahrsschrift
für
öffentliche Gesundheitspflege
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Deutsche Yierteljahrsschrift
~~ für
öffentliche Gesundheitspflege
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„Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege“
Herausgegeben von
Oberbürgermeister Dr. F. Adickes (Frankfurt a. M.), Prof. Dr. Hans
Bnchner (München), Oberbürgermeister P. Fass (Kiel), Geh. Med.-
Rath Prof. Dr. G. Gaffky (Giessen), Geh. Baurath Dr. J. Hobrecht
(Berlin), Geh. Ober-Medicinalrath Dr. M. Pistor (Berlin), Medicinal-
rath Dr. J. J. Reineke (Hamburg), Regierungs- und Medicinalrath
Dr. Roth (Potsdam), Geh. Sanitätsrath Dr. A. Spiess (Frankfurt a. M.),
Geh. Baurath J. Stübben (Köln), Regierungs- und Medicinalrath
Dr. R. Wehmer (Berlin)
Redigirt von
Dr. A. Spiess und Dr. M. Pistor
Frankfurt a. M. Berlin
Vierunddreissigster Band
Braunschweig
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn
1902
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Alle Hechte, namentlich dasjenige der Uebersetzung in fremde Sprachen,
Vorbehalten
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Inhalt des vierunddreissigsten Bandes.
Erstes Heft. .
Bericht des Ausschusses über die sechsundzwanzigste Versammlung: idfes
„Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege“ zu Rostock
am 18., 19. und 20. September 1901.
Erste Sitzung.
Eröffnung der Versammlung. 1
Rechenschaftsbericht. 6
Tagesordnung. 6
Nr. I. Die örtlichen Gesundheitscommissionen in ihrer
Bedeutung für Staat und Gemeinde, sowie für
die amtliche Thätigkeit der Medicinalbeamteu . 11
Leitsätze der Referenten Regierungs- und Geh. Medi-
cinalrath Dr. Rapmund (Minden) und Privatdocent
Stadtrath Dr. Jastrow (Charlottenburg). 11
Referat von Regierungs- und Geh. Medicinalrath Dr.
Rapmund.11, 41
Correferat von Privatdocent Stadtrath Dr. Jastrow . 23
Discussion. 24
Nr. II. Hygiene der Molkereiproduote. 64
Schlusssätze des Referenten Geh. Medicinalrath Pro¬
fessor Dr. Löffler (Greifswald). 54
Referat von Geh. Medicinalrath Professor Dr. Löffler 65
Discussion. 75
Zweite Sitzung.
Nr. Hi. Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs¬
und Lüftungsanlagen für Wohnhäuser und
öffentliche Gebäude im letzten Jahrzehnt .... 89
Referat von Landes-Maschinen-Ingenieur Oslender
(Düsseldorf). 89
Schlusssätze.106
Discussion.106
Nr. IV. Die Bedeutung der hygienisch wichtigen Metalle
(Aluminium, Blei, Kupfer, Nickel, Zinn und Zink)
im Haushalt und in den Nahrungsgewerben . . 119
Schlusssätze der Referenten Professor Dr. K. B. Leh¬
mann (Würzburg).119
Referat von Professor Dr. K. B. Lehmann.119
Discussion.132
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VI
Inhalt des vierunddreissigsten Randes.
Beit«
Dritte Sitzung.
Neuwahl des Ausschusses.. 1S5
Nr. V. Strassenbefestigungsmaterialien und Ausführungs¬
arten sowie ihr Einfluss auf die Gesundheit. . . 135
Leitsätze der Referenten Stadtbaurath E. Genzmer
(Halle a. S.) und Privatdocent Dr. Th. Weyl
(Charlottenburg).135
Referat von Stadtbaurath E. Genzmer.136
Correferat von Privatdocent Dr. Th. Weyl . .. . . . 151
Discussion.158
Schluss der Versammlung.168
Kritiken kintt Besprechungen.
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0; Rj^pj&iund: Das öffentliche Gesundheitswesen. (Roth, Potsdam) . 171
Ssihlockow — Roth-Lippmann: Der Kreisarzt. I. Band. (M. P.) 172
Dr. Ernst Joest: Grundlage der bacteriologischen Diagnostik der
thierischen Infectionskrankheiten. (D.). 173
Medicinalrath Dr. Hensgen: Leitfaden der Desinfectoren. (D.) . . . 173
Dr. Fritz Kirstein: Leitfaden für Desinfectoren in Frage und Ant¬
wort. (M. Neisser, Frankfurt a. M.) . ..174
Hofrath Dr. Blass: Die Impfung und ihre Technik. (Fl. P.) .... 174
Neu erschienene Schriften über öffentliche Gesundheitspflege. (91. Ver-
zeichniBs).175
Zweites Heft.
Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren im Kleingewerbe und in
der Hausindustrie, vom gesundheitlichen und sittlichen Standpunkte be¬
trachtet. Von Dr. Paul Schenk (Berlin).185
Ueber die Beaufsichtigung der in entgeltliche Aussenpflege gegebenen Kin¬
der, mit besonderer Berücksichtigung eines in Temesvar angewandten
neuen Systems. Von Dr. Alexander Szana (Temesvar).205
Die Verunreinigung der öffentlichen Gewässer zu Berlin. Von Wasserbau¬
inspector Schümann (Berlin).226
Wodurch unterscheiden sich die Gesundheitsverhältnisse in Gressstädten
von denen auf dem Lande? Von Dr. A. Noder (Türkheim).251
Versuche mit Nachbehandlung der Frankfurter Abwässer in Oxydations¬
filtern. Von Prof. Dr. Freund (Frankfurt a. M.) und H. Uhlfelder
(Frankfurt a. M.).294
Die Beschaffenheit der Luft in den Lade- und Formirräumen von Accumu-
latorenbatterieen und ihre hygienische Beurtheilung. Von Fritz Kir¬
stein (Giessen).308
Ueber Pikrinsäure. Von Dr. Kittsteiner (Hanau).320
Naturheilkunde und öffentliche Gesundheitspflege. Von Medicinalrath Dr.
Dornblüth (Rostock). 324
Kritiken nnd Besprechungen.
Troels-Lund: Gesundheit und Krankheit in der Anschauung alter
Zeiten. (Wodtke, Köslin).331
Dr. A. Gottstein: Geschichte der Hygiene im XIX. Jahrhundert.
(Wodtke, Köslin).332
Gesundheitsbüchlein. (A. S.).332
Th. Weyl: Handbuch der Hygiene. 1. Supplemeutband. (Roth, Potsdam) 332
Otto Janke: Grundriss der Schulhygiene. (Altschul, Prag) .... 333
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Inhalt des vierunddreissigsten Bandes. VII
Seite
Th. Oehmcke: Mittheilungen über die Luft in Versammlungssälen,
Schulen und in Räumen für öffentliche Erholung und Belehrung.
(H. Chr. Nussbaum).335
Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder, Heft 5 u. 6
(A. S.).335
P. Schmidt: Ueber Hitzschlag an Bord von Dampfern der Handels¬
flotte, seine Ursachen und seine Abwehr. (F. Reiche, Hamburg). 336
Neu erschienene Schriften über öffentliche Gesundheitspflege. (92. Ver¬
zeichniss) .337
Drittes Heft.
Bacteriologie,~ Epidemiologie und medicinische Statistik. Unmoderne Be¬
trachtungen von Dr. Theodor Altschul, k. k. Sanitätsrath (Prag) . 346
Rinder- und Menschentuberculose. Von Dr. Tjaden, Director des bacterio-
logischen Staatsinstituts in Bremen.366
Wie ist es nach unseren Kenntnissen der Alkoholwirkung und nach den
Erfahrungen der Tropenbewohner zu erklären, dass die Trmksitte ein
wesentliches Hindern iss für die Acclimatisation der weissen Rasse in
den Tropen bildet? Von Sanitätsrath Dr. Wulffert, in Berlin .... 393
Hygienische Verhältnisse auf dem platten Lande nach im Regierungsbezirke
Stade gemachten Beobachtungen. Von Dr. Ritter und Kreisthierarzt
Nevermann in Bremervörde.414
Das Verhalten einer Diphtherieepidemie in einem Genossenschafternolkerei¬
bezirke. Von Dr. Fritz Prölss (Scheesei).446
Ueber die Anforderungen, welche vom gesundheitlichen Standpunkte aus an
ein öffentliches Schlachthaus zu stellen sind. Von Dr. G. Feldmann
in Stuttgart .464
Das Abdeckereiwesen und seine Regelung. Von Dr. Boretius, Königl.
Kreis-Assistenzarzt (Waldenburg i. Schl.).475
Kritiken und Besprechungen.
Dr. R. Wehm er, Regierungs- und Medicinalrath: Die neuen Medicin al¬
gesetze PreusBens. (M. P.).499
Dr. med. G. Bonne: Die Nothwendigkeit der Reinhaltung der deutschen
Gewässer. (Curt Merckel, Hamburg).499
Dr. Hermann Haefcke: Städtische und Fabrikabwässer. Ihre Natur,
Schädlichkeit und Reinigung. (Curt Merckel, Hamburg) .... 506
W. Assmann in Bochum, B. Röhrecke und Dr. Weyl in Berlin: Fort¬
schritte der Strassenhygiene. (J. St.).607
Dr. Leo Burgerstein und Dr. August Netolitzky: Handbuch der
Schulhygiene. (A. S.).508
Alexander Bennstein: Die Reinigung der Schulzimmer. (Altschul,
Prag).508
Dr. Paul Jacob und Dr. Gotthold Pannwitz: Entstehung und Be¬
kämpfung der Lungentuberculose auf Grund ihrer in den deutschen
Lungenheilstätten angestellten Sammelforschung. (Kolim, Berlin) 611
Dr. E. Marx: Die experimentelle Diagnostik, Serumtherapie und Pro¬
phylaxe der Infectionskrankheiten. (Neisser, Frankfurt a. M.) . . 515
Dr. Otto Hess: Das Formaldehyd. (Neisser, Frankfurt a. M.) . . . 516
Henri Bertin-Sans: L’Habitation. (J. St.).616
K. Weisbach: Wohnhäuser. (N.).516
Vereine und Versammlungen:
Preussischer Medicinalbeamten - Verein. Achtzehnte Haupt¬
versammlung zu Cassel am 13. September 1902. 517
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VIII
Inhalt dos vierunddreissigeten Bandes.
Seite
Deutscher Medicinalbeamten-Verein. Erste Hauptversammlung
zu München am 15. und 16. September 1902. 517
Deutscher Verein für öffentliche Gesundheitspflege. Sieben¬
undzwanzigste Versammlung zu München vom 17. bis 20. Sept. 1902 518
Neu erschienene Schriften über öffentliche Gesundheitspflege. (93. Ver¬
zeichniss) .519
Viertes Heft: Erste Hälfte.
Ueber Gesundheitsschädigungen in Accumulatorenfabriken und gesundheits¬
polizeiliche Maassregeln dagegen. Von Dr. med. Oskar Wagener
(Niesky, Schlesien).529
Zur Bekämpfung des Typhus. Von Oberstabsarzt Dr. P. Mus eh old (Strass-
burg i. E.).579
Zur Hygiene im Schneidergewerbe. Von Dr. med. Sigmund Merkel
(Nürnberg).597
Die österreichischen Bauordnungen in hygienischer Beziehung. Von Ober¬
bezirksarzt Dr. Eugen Hofmokl (Wien).615
Beobachtungen über Wohnungsklima. Von Dr. Franz Spaet (Ebern) 631
Die Frau als Krankenpflegerin. Von Dr. Pfeil Schneider (Schönebeck,
Elbe).649
Kritiken und Besprechungen:
Arbeiten aus dem kaiserlichen Gesundheitsamt. XVIII. Bd. (Dr. Kiss-
kalt, Giessen).660
Das Sanitätswesen des Preussisohen Staates während der Jahre 1895,
1896, 1897. (Pfeiffer, Hamburg).666
Dr. Basil Klaczenko: Sanitätsbericht der Bukowina für die Jahre
1899 und 1900. (M. P.).668
Dr. Stefan Ingerle: Die Anstalten für Reoonvalescenten, Erholungs¬
bedürftige und Tuberculöse der Krankenkassen und Versicherungs¬
anstalten Deutschlands. (Dr. E. Fromm, Frankfurt a. M.) .... 669
Karl Hinträger, Professor an der Technischen Hochschule in Wien:
Volksschulhäuser in Oesterreich-Ungarn, Bosnien und der Herze¬
gowina. (N.).671
Long-Preusse: Praktische Anleitung zur Trichinenschau. (D.) . . . 671
Vereine und Versammlungen:
Preussischer Medicinalbeamten-Verein. Neunzehnte Haupt¬
versammlung zu Cassel, Freitag den 12. September 1902 . 672
Deutscher Medicinalbeamten-Verein. Erste Hauptversammlung
zu München am 15. und 16. September 1902 . 678
Deutscher Verein für öffentliche Gesundheitspflege. Sieben¬
undzwanzigste Versammlung zu München vom 16. bis 20. Septem¬
ber 1902 . 674
Verband deutscher Bahnärzte. Fünfte Versammlung zu München
am 18. und 19. September 1902 . 676
Neu erschienene Schriften über öffentliche Gesundheitspflege. (94. Ver¬
zeichniss) .677
Viertes Heft: Zweite Hälfte.
Rückblicke auf die zweite internationale Syphilis-Conferenz zu Brüssel vom
1. bis 6. September 1902. Von R. Wehmer (Berlin).689
Kritiken und Besprechungen«
Prof. Dr. Dun bar und Dr. R. Thumm: Beitrag zum derzeitigen
Stande der Abwässerreinigungsfrage mit besonderer Berücksich¬
tigung der biologischen Reinigungsverfahren. (Roth, Potsdam) . 711
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Inhalt des vierunddreissigsten Bandes. IX
Seite
Prof. Dr. A. Gärtner: Die Quellen in ihren Beziehungen zum Grund-
wasser und zum Typhus. (J. J. Reineke« Hamburg).712
Dr. A. Riffel: Weitere pathogenetische Studien über Schwindsucht
und Krebs und einige andere Krankheiten. (Dr. Emil Fromm«
Frankfurt a. M.).715
Geheimrath Prof. Dr. E. von Leyden: Verhütung der Tuberculose
(Dr. Emil Fromm, Frankfurt a. M.).717
Dr. Philalethes Kuhn: Ueber eine Impfung gegeu Malaria. (Roth«
Potsdam).718
B. Scheube: Die venerischen Krankheiten in den warmen Ländern.
(Dr. Emil Fromm, Frankfurt a. M.).719
Bericht über die vom Comite für Krebsforschung am 15. October 1900
erhobene Sammelforschung. (Dr. Emil Fromm, Frankfurt a. M.) 719
Dr. Emil Ekstein: Geburtshülfliehe Neuorganisation in Oesterreich.
(Altschul, Prag) . '.722
Georges Reverdy: Contribution ä l’etude de l’hopital modele. (KoUm,
Berlin).722
Dr. Alfred Spitzner: Die pädagogische Pathologie im Seminarunter¬
richt. (L. Laquer, Frankfurt a. M.).725
Dr. med. K. Schmid-Monnard und Rudolf Schmidt: Schulgesund¬
heitspflege. (Altschul, Prag).726
Dr. Alfred Baur: l)a9 kranke Schulkind. (L. Laquer, Frankfurt a. M.) 726
H. Griesbach: Gesundheit und Schule. (Altschul, Prag).727
Dr. Fr. Schmied: Die schulhygienischen Vorschi iften in der Schweiz.
(Altschul, Prag) .728
E. v. Schenckendorff und Dr. med. F. Schmidt: Jahrbuch für Volks¬
und Jugendspiele, XI. Jahrgang. (Alt sch ul, Prag).728
Dr. K. Doll: Aerztliche Untersuchungen aus der Hülfsschule für
schwachsinnige Kinder zu Karlsruhe. (L. Laquer, Frankfurt a. M.) 730
Prof. Dr. Oster tag: Handbuch der Fleischbeschau für Thierärzte,
Aerzte und Richter. (Reissmann, Berlin).732
Geh. Baurath J. Stübben: Die Bedeutung der Bauordnungen und Be¬
bauungspläne für das Wohnungswesen. (N.).732
Neu erschienene Schriften über öffentliche Gesundheitspflege (95. Ver-
zeichniss).733
Repertorium der im Laufe des Jahres 1901 in deutschen und ausländischen
Zeitschriften erschienenen Aufsätze über öffentliche Gesundheitspflege.
Zusammengestellt von Geh. San.-Rath Dr. Spiess.741
General-Register des XXXIII. und XXXIV. Bandes.951
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Bericht des Ausschusses
über die
Sechsundzwanzigste Versammlung
des
Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege
zu Rostock
am 18., 19. und 20. September 1901.
Erste Sitzung.
Mittwoch, den 18. September 1901, Vormittags 9 Uhr.
Vorsitzender Oberbürgermeister Schneider (Magdeburg):
„Meine Damen und Herren! Indem ich meiner Freude über Ihr zahl¬
reiches Erscheinen am hiesigen Platze Ausdruck verleihe, erkläre ich die
sechsundzwanzigste Jahresversammlung des Deutschen Vereins für öffent¬
liche Gesundheitspflege für eröffnet.
„Zunächst ertheile ich das Wort dem Herrn Vertreter der Grossherzog¬
lich Mecklenburgischen Staatsregierung, Herrn Geheimen Ministerial-
rath Mühlenbruch.“
Geh. Ministerialrath Mühlenbruch: „Seine Königliche Hoheit der
Grossherzog hatte den Minister für Medicinalangelegenheiten beauftragt,
der Versammlung seinen fürstlichen Grass zu überbringen und die Hoffnung
auszusprechen, dass auch die Tagung in Rostock das hohe Ziel fördern möge,
welches sich der Verein gesteckt hat, und welches das ganze Interesse des
Hohen Herrn besitzt.
„Aber seine Excellenz Herr Staatsrath von Arnsberg ist leider
plötzlich erkrankt, und so liegt es mir ob, den Allerhöchsten Auftrag aus¬
zuführen und den Deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege im
Namen der Mecklenburgischen Regierung hier im Lande willkommen zu
heissen. Der Verein ist wie kaum ein anderer Verein in einem anderen
Fache, ein Mitarbeiter und oft auch Promotor der Staatsverwaltung auf
dem Gebiete der Volksgesundheit geworden, von welchem der Staatsmann
Disraeli gesagt hat: die öffentliche Gesundheitspflege ist eine der Grund¬
lagen, auf welchen die Wohlfahrt des Volkes und die Macht des Staates
beruhen. Der Verein hat, wenn ich recht sehe, diese bedeutsame Stellung
wesentlich durch den Umstand errungen, dass er einmüthig in seltener
Weise in sich Männer der Wissenschaft, der Technik und der Verwaltung
vereinigt, und dass er die Hygiene aus dem Gesichtspunkte einer socialen
Kunst behandelt.
VTerteüehrsschrift für Gesundheitspflege, 1902. j
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2
XXVI. Versammlung des Deutschen Vereins
„Meine Herren! Sie tagen heute in einem Lande, welches mit Lust
und Liebe ein Agriculturstaat ist. Wer, wie Sie, für Sonnenlicht, frische
Luft, klares Wasser und reine Lebensmittel plaidirt, der ist naturgemäss
sicher, in diesem Lande ein gern gesehener Gast zu sein, und ich bin über¬
zeugt, dass die Themata Ihres Programms, insbesondere die Ziffern II und
III, auch in weiteren Kreisen der Bevölkerung ein offenes und williges Ohr
finden werden.
„So heisse ich Sie nochmals im Namen der Mecklenburgischen Regierung
hier im Lande willkommen, mit dem Wunsche, dass die Aussaat auch dieser
gegenwärtigen Versammlung weithin auf einen tragkräftigen Boden fallen
möge.“
Bürgermeister Br. Massmann (Rostock): „Hochverehrte Ver¬
sammlung! Ein Ehrbarer Rath der Stadt Rostock hat mich beauftragt, den
Deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege freundlich st zu begrüssen
und Ihnen seine aufrichtige Freude darüber auszusprechen, dass der Verein
in diesem Jahre unsere Stadt zum Sitze seiner Berathungen und zum Orte
seiner Versammlung gewählt hat. Wir haben dadurch den Vorzug, gewisser-
maa8sen in der Vorhand zu sein beim Erlernen, Prüfen und Anwenden des¬
jenigen, was durch Ihre Berathungen festgestellt worden ist. Diese Ihre
Berathungen, meine Herren, beziehen sich ja theilweise auf Gegenstände,
welche hauptsächlich für die städtischen Verwaltungen von Bedeutung sind,
theilweise aber auch auf andere, welche für Stadt und Land das gleiche
Interesse haben. So blicken denn alle deutschen Gemeinden mit Spannung
auf Ihre Berathungen und Ihre Arbeiten hin, die ja im letzten Grunde an¬
geregt sind durch unsere gemeinsame Liebe für unser gemeinsames deutsches
Vaterland, und die zum Ziele haben, die sanitären Einrichtungen desselben
in dem Wettkampfe der Nationen auf diesem Gebiete zu möglichst voll¬
kommenen zu gestalten. Es ist uns von ganz besonderem Werthe, meine
hochgeehrten Herren, so viele von Ihnen persönlich kennen zu lernen, die
die gleichen Aufgaben wie wir zu lösen haben, und von denen wir ja dem¬
nächst Rath und Auskunft über die Bewährung neuer communaler Ein¬
richtungen uns erbitten können. Vor allen Dingen aber liegt uns daran,
dass es Ihnen in unserer Stadt gut gefallen möge, und dass Sie eine freund¬
liche Erinnerung an unsere Stadt und ihre Bewohner demnächst mit in Ihre
Heimath nehmen mögen. Wir werden alles thun, um Ihnen den Aufenthalt
in hiesiger Stadt so angenehm wie möglich zu gestalten, und so, meine
verehrten Herren, heisse ich Sie denn, den Deutschen Verein für öffentliche
Gesundheitspflege mit allen seinen Mitgliedern, auch Namens der Stadt aufs
herzlichste willkommen!“
Professor Dr. Staude (Rostock): „Hochverehrte Versammlung!
Auch im Namen der Landesuniversität erlaube ich mir, dem Deutschen
Verein für öffentliche Gesundheitspflege einen herzlichen Willkommensgruss
darzubringen.
„In der Universität sind die verschiedenartigsten Wissenschaften zu
einem Organismus verbunden, der belebt und zusammengehalten wird
von dem gemeinsamen Streben nach Erweiterung und Vervollkommnung
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3
für öffentliche Gesundheitspflege zu Rostock.
unserer Erkenntnisse. So laufen auch in dem Verein, den ich hier zu
begrüssen die Ehre habe, die Fäden der mannigfachsten Interessen zusammen.
Nicht nur, dass in seinen Händen die sämmtlichen Naturwissenschaften, die
Medicin, die Statistik, die Geschichte zu wichtigen Werkzeugen werden,
auch das Interesse des Staates an demWohle seiner Bürger und das Interesse
des einzelnen an seiner eigenen Gesundheit müssen sich in dem Wirken des
Vereins vereinigen und ihm allseitige Anerkennung und dankbares Entgegen¬
kommen sichern.
„So möge denn Ihr Verein, wie in den vergangenen Decennien, auch
fernerhin blühen und gedeihen zum Wohle des Vaterlandes und zu seiner
eigenen Genugthuung und Befriedigung!“
Medicinalrath Dr. Dornblüth, Vertreter des Rostocker Vereins
für öffentliche Gesundheitspflege: „Ich bin von unserem Verein
beauftragt worden, hier seine grosse Freude auszusprechen darüber, dass
Sie so zahlreich der Einladung der Stadt Rostock gefolgt sind. Wir sind hier
gewissermaassen Prediger in der Wüste gewesen lange Zeit, haben aber doch
Einiges erreicht, was wir glauben, Ihnen zeigen zu können. Wenn Sie darüber
befriedigt sein werden, bitte ich, die Anerkennung uns nicht zu versagen.
Aber ich bitte Sie auch zugleich im Namen des Vereins, wenn Sie etwas
finden, was Ihnen weniger gefällt, uns das zu sagen, damit wir nachholen
können und weiter streben. Wir wissen sehr wohl, dass wir erst am An¬
fänge stehen. Wir sind nicht zufrieden mit dem Wort Magna voluisse sat
este, es ist nicht genug, Grosses zu wollen, sondern es genügt erst die
That. Den Anfang haben wir gemacht, die That wollen wir weiter führen,
und dazu erbitten wir Ihren Beistand. Wir wünschen, dass es Ihnen bei
uns gut gefallen möge, und dass wir viel von Ihnen lernen u .
Vorsitzender Oberbfirgermeistcr Schneider (zu Geh. Ministerial-
rath Mühlenbruch): „Hochverehrter Herr Geheimrath! Es ist uns allen
gewiss ein tief empfundenes Bedürfniss, Ihnen als Vertreter der Grossherzog¬
lichen Staatsregierung von Herzen für die überaus freundlichen Worte zu
danken, die Sie beim Beginn unserer Verhandlungen an uns gerichtet haben.
Wir sind tief davon durchdrungen, dass wir die Bestrebungen, die wir in
der Theorie verfolgen, in die Praxis nur übersetzen können, wenn wir der
thatkräftigen Hülfe der Hohen Staatsregierungen und der Gemeindebehörden
jeder Zeit versichert sein dürfen, und es war uns stets eine grosse Freude,
dass wir bisher an allen Orten, wo wir getagt haben, uns des freundlichen
Entgegenkommens dieser Behörden zu erfreuen hatten. Es ist uns eine
grosse Genugthuung, dass uns das jetzt auch hier zu Theil geworden ist
seitens der Grossherzoglichen Regierung. Wir können Ihnen versichern,
dass, wie wir seither bestrebt gewesen sind, in objectiver Weise zu erforschen,
wo Mängel auf dem Gebiete des öffentlichen Gesundheitswesens sich finden,
und mit erreichbaren Mitteln thunlichst dafür zu sorgen, dass diesen Mängeln
Abhülfe geschaffen wird, wir diesen unseren Bestrebungen auch für alle
Zukunft treu bleiben werden. Wir dürfen Sie wohl bitten, uns das freund¬
liche Wohlwollen, welches Sie uns heute dargebracht haben, auch fernerhin
erhalten zu wollen.
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4 (2/ XXVI. Versammlung des Deutschen Vereins
(Zum Oberbürgermeister Dr. Massmann): „Hochverehrter Herr College!
Es ist mir ein ganz besonderes Bedürfniss, Ihnen und der Stadt Rostock zu
danken für die überaus freundliche Aufnahme, die wir bei Ihnen gefunden
haben, und der Sie eben ja in so herzlichen Worten Ausdruck verliehen haben.
Ich darf wohl Namens aller Anwesenden versichern, dass die Nachricht, dass
wir hier im Norden' unseres Vaterlandes, in dieser altberühmten, durch
.Handel und Industrie von je her hervorragenden Hansastadt, der bedeutendsten
Stadt des Grossherzogthums, unsere Tagung halten dürften, uns zur besonderen
Genugthuung gereichte. Ihre Stadt liegt ja nicht an der grossen Heeres¬
strasse, die Sommer- und sonstigen Ausflüge, die uns ins deutsche Vater¬
land und über dasselbe hinaus zu entführen pflegen, nehmen nur ausnahms¬
weise ihren Weg nach Ihrer Stadt. Aber eine um so grössere Freude ist
es uns, dass diese Veranlassung uns Gelegenheit bietet, Ihre schöne Stadt,
von der wir in der Ferne schon so Manches, und berechtigter Weise Gutes,
gehört haben, auch näher kennen zu lernen. Ich danke Ihnen nochmals
Namens der Versammlung für Ihre freundlichen Worte und Ihre herzliche
Begrü8sung. a
(Zu Professor Dr. Staude): „Hochverehrter Herr Professor! Magni-
flcenz! Sie haben Namens der Landesuniversität Rostock uns in überaus
sympathischer Weise begrüsst, und Ihnen und der Universität bin ich für
diesen Beweis Ihres Wohlwollens herzlichen Dank schuldig. Wir Männer
der Praxis — und aus denen besteht ja unser Verein zum grossen Theil,
Verwaltungsbeamten und Technikern — wir wissen sehr wohl, dass wir ohne
fortlaufende Fühlung mit der Wissenschaft nicht im Stande sind, die Auf¬
gaben, die wir uns gestellt haben, zu erfüllen. Wir wissen sehr wohl, dass
die Wissenschaft der Nährboden ist, auf dem allein diejenigen Bestrebungen
gedeihen können, die wir uns zum Ziele gesetzt haben, und mit besonderem
Stolze, mit besonderer Freude haben wir es jeder Zeit empfunden, dass wir
zahlreiche Vertreter auch der Universitäten als unsere hochverehrten und
hochgeschätzten Mitglieder unter uns haben begrüssen dürfen. Wir haben
häufig Gelegenheit gehabt, gerade aus dem Stande der Universitätsprofessoren
belehrende und anregende Vorträge zu hören, und gerade von den Uni¬
versitäten ist manches Samenkorn gesäet worden, welche wir demnächst
bemüht gewesen sind, in der Praxis zur Frucht heranreifen zu lassen.
Nochmals Euerer Magnificenz herzlichen Dank!“
(Zu Medicinalrath Dr. Dornblüth): „Und Ihnen, mein verehrter
Herr Medicinalrath, dem Vertreter des hiesigen Ortsvereins für öffentliche
Gesundheitspflege, Ihnen kommen wir ja entgegen als einem alten, lieben
.und bewährten Freunde und Bekannten, denn seit einer langen Reihe von
Jahren gehören Sie als eines unserer thätigsten Mitglieder unserem Verein
an. Das, was Sie gesagt haben, möchten wir nur bedingungsweise unter¬
schreiben. Wir sind überzeugt, wie Sie hier in unserem Verein jeder Zeit
bemüht gewesen sind, unsere Aufgaben zu fördern, so sind Sie es zweifellos
auch in dem Rostocker Localvereine gewesen und ganz gewiss auch mit
entsprechendem Erfolge. Davon werden wir uns nun hier voll überzeugen
dürfen. Die localen Gesundheitsvereine sind ja gewissermaassen Fleisch
von unserem Fleisch und Bein von unserem Bein. Es sind Glieder von uns,
deren thatkräftiger Mitwirkung wir in allererster Reihe bedürfen, um uns
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für öffentliche Gesundheitspflege zu RostookJ
kräftig entwickeln zu können. Das, was wir theoretisch lehren und predigen,
da® kann nur dann in die Praxis übersetzt werden, wenn in den Gemeinden
sich Männer finden, die die Propaganda verbreiten für das Verständnis des¬
jenigen in weiten Kreisen, was wir auf unseren jährlichen Versammlungen
immer nur einem beschränkten Kreise von Gesinnungsgenossen sagen kön¬
nen. Also nochmals, hochverehrter Herr Medicinalrath, Ihnen und dem
Verein für öffentliche Gesundheitspflege in Rostock den herzlichsten Dank
für Ihre freundlichen Worte!“
„Ich ertheile nunmehr das Wort unserem ständigen Secretär, Herrn
Geheimrath Dr. Spiess zur Mittheilung des Rechenschaftsberichts.“
Der ständige Secretär Dr/ Spiess verliest hierauf den
Rechenschafts-Bericht 1
des Ausschusses des Deutschen Vereins für öffentliche Gesund¬
heitspflege für das Rechnungsjahr 1900 bis 1901.
Durch Beschluss der Vereinsversammlung in Trier wurde der Aus¬
schuss für das Geschäftsjahr 1900/1901, wie folgt, zusammengesetzt:
Oberbürgermeister Delbrück (Danzig),
Stadtbaurath Hopfner (Cassel),
Medicinalrath Dr. Reineke (Hamburg),
Oberbürgermeister Schneider (Magdeburg),
Hofrath Dr. Stich (Nürnberg),
Geh. Baurath Stübben (Köln) und
Dr. Spies8 (Frankfurt a. M.), ständiger Secretär.
Nach Schluss der Versammlung trat der Ausschuss zu einer Sitzung
zusammen und wählte gemäss §. 7 der Satzungen Herrn Oberbürger¬
meister Schneider zum Vorsitzen den für das Geschäftsjahr 1900/1901.
Der Ausschuss trat sodann satzungsgemäss am 2. und 3. Februar zu
einer vollzähligen Sitzung in Frankfurt a. M. zusammen.
Zunächst beschloss der Ausschuss in Betreff der von der Versammlung
in Trier angenommenen Resolution für Einführung der allgemeinen ärzt¬
lichen Leichenschau eine dahin gehende Eingabe an den Reichskanzler
zu richten; dieselbe ist am 15. Februar abgegangen.
In Betreff eines von Herrn Oberbürgermeister Dr. Ebeling bei Gelegen¬
heit der Discussion über die} Wohnungsfrage in Trier ausgesprochenen
Wunsches, der Ausschuss möge durch Rundfrage in Erfahrung zu bringen
suchen, was in Folge der diesjährigen Verhandlung in den einzelnen Ge¬
meinden geleistet worden sei, wurde beschlossen, erst noch einige Zeit
vorübergehen zu lassen und dann im Laufe des kommenden Winters einen
dahin zielenden Fragebogen an die Gemeinden zu versenden.
Sodann berichtete der ständige Secretär über das Ergebniss des Preis¬
ausschreibens, das der Ausschuss des Vereins im Anschluss an das Refe¬
rat des Herrn Prof. Dr. Heim auf der Nürnberger Versammlung betr.
grösserer Sauberkeit im Nahrungsmittelverkehr erlassen hat.
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XXVI. Versammlung des Deutschen Vereins
Es sind 194 Arbeiten zur Preisbewerbung eingegangen, und wur¬
den von diesen nach dem Urtheil der Preisrichter 18 Aufsätze prämiirt.
Es erhielten Preise:
Frau Landgerichtsrath Laura Frost (Königsberg i. Pr.),
Frl. Marie Landmann (Breslau),
„ H. Strosser, Lehrerin a. D. (Münster i. W.),
Herr Sanitätsrath Dr. Th. Altschul (Prag),
„ Dr. med. C. Baron (Dresden),
„ Dr. med. E. Bornemann (Limbach i. S.),
„ Wilhelm Eberling, Lehrer (Bad Ems),
„ Adolf Küppers, Lehrer (Duisburg): zwei Aufsätze,
„ Dr. med. Georg Lustig (Breslau),
„ Pfarrer Ernst Marti (Grossaffottern i. d. Schweiz),
„ Dr. med. Paul Schenk (Berlin),
„ Joh. Schneiderhahn, Seminaroberlehrer (Schwäb. Gmünd),
„ Pfarrer 0. Schnizer, Schulinspector (Altenmünster i. W.),
„ E. Schulz, Lehrer (Krassow i. Mecklenburg),
„ Dr. med. Georg Seelhorst (Ilmenau),
„ Dr. med. Ignaz Steinhardt (Nürnberg) und
„ Dr. med. Robert Stierlin (Winterthur, Schweiz).
Diese 18 Aufsätze, in ein Heftchen von 76 Seiten zusammengedruckt,
sind zum Nachdruck und möglichster Verbreitung an ca. 350 Unterhaltungs¬
blätter, Sonntagsblätter, Frauenzeitungen, Volks- und Schullesebücher,
Familien- und Hauskalender u. dergl. versandt worden. Die Kosten, die
der Verein für diese Preisaufgabe aufwendete, belaufen sich auf ungefähr
2015 M.
Des weiteren bestimmte der Ausschuss Rostock als Ort der nächsten
Versammlung, als Zeit die Tage vom 18. bis 21. September und stellte
die Tagesordnung in folgender Fassung auf:
Mittwoch, den 18. September.
I. Die örtlichen Gesundheit»-Commissionen in ihrer Bedeutung für
Staat und Gemeinde, sowie für die amtliche Thätigkeit der
Medicinalbeamten.
Referenten: Reg.- und Geh. Med.-Rath Dr. Rapmund (Minden),
Stadtrath Privatdocent Dr. Jastrow (Charlottenburg).
n. Hygiene der Molkereiproducte.
Referent: Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Löffler (Greifswald).
Donnerstag, den 10. September.
III. Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungs¬
anlagen für Wohnhäuser und öffentliche Gebäude im letzten
Jahrzehnt«
Referent: Landes - Maschineningenieur A. Os len der (Düsseldorf).
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für öffentliche Gesundheitspflege zu Rostock. 7
IV. Die Bedeutung der hygienisch wichtigen Metalle (Aluminium, Blei,
Kupfer, Nickel, Zinn und Zink) im Haushalt und in den Nahrungs*
geworben.
Referent: Prof. Dr. K. B. Lehmann (Würzburg).
Freitag, den 20. September.
V. Strassenhefestigungsmaterialien und Ausfflhrungsarten, sowie ihr
Einfluss auf die Gesundheit.
Referenten: Stadtbaurath E. Genzmer .(Halle a. d. S.),
Privatdocent Dr. Th. Weyl (Charlottenburg).
Auf Wunsch des Herrn Referenten Dr. Jastrow wurde dann seitens
des Ausschusses bei 72 deutschen Städten Rundfrage gehalten über die
dortigen Verhältnisse betr. Kreisarzt, Stadtarzt, deren Verhältnis zu ein¬
ander, Gesundheitscommission etc., damit diese als zur Grundlage des dies¬
bezüglichen Referates auf der diesjährigen Versammlung diene.
Die Rechnungsablage für das Jahr 1900 wurde vom Ausschuss
geprüft und richtig befunden.
Es betrug danach:
Cassensaldo am 1. Januar 1900 . 2829*94 M.
Einnahmen durch Mitgliederbeiträge und Zinsen . . 9379*50 „
Mithin zusammen Einnahmen 12 209*44 M.
Dagegen an Ausgaben. 7765*94 „
Bleibt ein Cassensaldo für 1901 von . . . 4443*50 M.
Die Mitgliederzahl des Vereins betrug zu Ende des Jahres 1900
1533. Von diesen sind im laufenden Jahre ausgetreten 110, davon 35
durch Tod.
Es sind dies die Herren:
Geh. Medicinalrath Dr. Ab egg (Danzig),
Dr. med. Asch sen. (Breslau),
Sanitätsrath Dr. de Bra (Gandersheim),
Hofrath Dr. Brauser (Regensburg),
Stadtphysicus Dr. Buszek (Krakau),
Dr. Paul Degner (Braunschweig),
Baurath Fischer (Bad Manheim),
Professor Dr. v. Fodor (Budapest),
Sanitätsrath Dr. Hachtmann (Weissenfels a. d. S.),
Geheimerath Prof. Dr. v. Heusinger (Marburg),
Regierungsrath Kraus (Kiel),
Director Dr. Kurth (Bremen),
Wirkl. Geheimerath v. Kusserow Exc (Schloss Bassenheim),
Director Prof. Dr. Lion (Leipzig),
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XXVI. Versammlung des Deutschen Vereins
Bezirksarzt Dr. Maar er (Erlangen),
Sanitätsrath Dr. Meissner (Trier),
Oberingenieur Andreas Meyer (Hamburg),
Polizeiarzt Dr. Osann (Kiel),
Geh. Obermedicinalrath Prof. Dr. v. Pettenkofer, Exc. (München), .
Geh. Obermedieinalrath Dr. Pfeiffer (Darmstadt),
Dr. med. Pletzer (Bremen),
Badeanstaltsbesitzer Johann Presl (Wien),
Ober-Bezirksarzt Dr. Rauchegger (Wien),
Bezirksarzt Dr. Roeder (Würzburg),
Kreisarzt Dr. Schmiedel (Breslau),
Stadtbaurath Rudolf Schmidt (Kiel),
Dr. med. Schorer (Lübeck),
Beigeordneter Seyffardt (Krefeld),
Geh. Oberregierungsrath Spinola (Berlin),
Sanitätsrath Dr. Steinmeyer (Braunschweig),
Banquier Theodor Stern (Frankfurt a. M.),
Corps-Stabsapotheker Dr. Thiele (Leipzig),
Stadtrath Wen dt (Danzig),
Sanitätsrath Dr. Wenz (Cannstadt) und
Senator Wülbern (Hannover).
Neu eingetreten sind 107 Mitglieder, so dass der Verein zur Zeit 1 )
1530 Mitglieder-zählt, von denen 301 in Rostock anwesend sind.
Vorsitzender, Oberbürgermeister Schneider (Magdeburg):
„Meine verehrten Damen und Herren! Sie haben aus dem Bericht
unseres Herrn Generalsecretärs wohl mit grosser Betrübniss Alle entnommen,
dass der unerbittliche Tod auch in dem vergangenen Geschäftsjahre eine
Ernte unter unseren Mitgliedern gehalten hat. Wir beklagen unter den
soeben namhaft gemachten Herren eine grosse Anzahl von lieben Freunden
und Bekannten, die wir gewohnt waren, in unserer Mitte thatkräftig mit¬
wirkend an unseren Zielen zu begrüssen, und die wir jederzeit mit Freuden
unter uns gesehen haben. Sämmtliche Ihnen genannte Herren sind treue
Mitglieder unseres Vereins gewesen, und allen werden wir ein treues An¬
denken bewahren.
„Sie werden es aber begreiflich finden, meine verehrten Damen und
Herren, und ich bin Ihrer aller Uebereinstimmung sicher, wenn ich zweier
Namen, die unter diesen Verstorbenen sich befinden, doch auch noch an
dieser Stelle ganz besonders Erwähnung thue: des Namens des nun leider
verewigten Wirklichen Geheimen Raths Dr. Max von Pettenkofer und
des Namens des Oberingenieurs der Stadt Hamburg Andreas Meyer.
„Was von Pettenkofer der Wissenschaft gewesen ist, darüber brauche
ich an dieser Stelle kein Wort zu sagen. Seit langen Jahren hat sein Name wie
ein Stern vorangestrahlt in allen Landen, in denen überhaupt Cultur existirt,
in denen wissenschaftliche Bestrebungen des Gebietes, welches hier in Frage
1 ) Die Zahlen sind die nach Schluss der Versammlung festgestellten.
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für öffentliche Gesundheitspflege zu Rostock.
kommt, überhaupt einen Boden gefunden haben, und sein Ruhm wird, wie
ich überzeugt bin, die Jahrhunderte überdauern. Aber sprechen will ich
von dem, was dieser Mann gerade uns gewesen ist, und ich kann mit Stolz
davon sprechen. Er ist es gewesen, der Begründer der modernen Hygiene,
der auch unseren Verein mitbegründet und dadurch Zeugniss davon ab¬
gelegt hat, dass er die Vereinigung von Wissenschaft und Praxis, wie sie in
unserem Vereine sich darbietet, für ein öffentliches Bedürfnis erster Ord¬
nung erachtete. Er ist uns demnächst jederzeit ein treuer Freund und
Berather gewesen, der bis in die letzten Jahre vielfach an unseren Ver¬
sammlungen theilgenommen hat, und dessen Worten wir hier häufig mit
Andacht gelauscht haben. Er hat in werkthätiger Weise sich bei der Her¬
ausgabe unserer Vierteljahrsschrift betheiligt, und mit Stolz haben wir ihn
während der letzten acht Jahre seines Lebens als unser, vorläufig erstes,
Ehrenmitglied ganz besonders den Unseren nennen dürfen. So kann ich
dessen sicher sein, dass aiich in unserem Vereine sein Name für alle Zeit
bestehen wird, und bis in die fernsten Zeiten wir seinem Andenken den
Zoll ehrerbietiger Dankbarkeit darbringen werden.
„Und, meine verehrten Damen und Herren, kaum weniger kann ich
von dem anderen Manne sagen, den ich erwähnt habe, dem Oberingenieur
Andreas Meyer. Wie Pettenkofer, eine Leuchte der Wissenschaft,
unsere wissenschaftlichen Bestrebungen in erster Reihe gefördert hat, so
war Andreas Meyer der Mann der Praxis, der unsere Bestrebungen viel¬
fach in das tägliche Leben übersetzt hat. Um seine Heimathstadt Ham¬
burg — das wird dort von allen Seiten einmütig anerkannt — hat er sich
unvergängliche.Verdienste erworben, und auch uns ist er jederzeit ein treues
und ganz besonders werkthätiges Mitglied gewesen. Er ist uns allen ja
ein lieber und alter Bekannter. Sie Alle, die frühere Congresse besucht
haben, werden sich seiner freundlichen und liebenswürdigen Gestalt mit
ganz besonderer Freude erinnern und mit ganz besonderer Freude des leb¬
haften Eingreifens in unsere Discussionen. Er war ein temperamentvoller
Mann, der jederzeit Leben und Interesse in unsere Verhandlungen zu bringen
verstand, dabei ausgezeichnet durch die liebenswürdigsten Eigenschaften
des Geistes und des Herzens, und Alle, die im vorigen Jahre Gelegenheit
hatten, ihn in Trier scheinbar noch in voller Manneskraft zu sehen, ahnten
wohl nicht, dass schon damals der Keim des Todes an seinem Herzen nagte.
Sie hatten sich gefreut, ihn heute wieder in ihrer Mitte nach altgewohnter
Weise zu sehen. Es hat nicht sein sollen. Er ist dahin geschieden vor
der Zeit. Aber auch er darf versichert sein, dass wir jederzeit ihm ein
treues Andenken bewahren werden.
„Meine verehrten Damen und Herren, ich bitte Sie, zum Zeichen Ihrer
Trauer um alle die lieben und verehrten Dahingeschiedenen des letzten
Jahres, und insbesondere um die beiden Männer, die ich Ihnen noch her¬
vorhob, sich von Ihren Sitzen zu erheben. (Geschieht.) Sie haben das
gethan und haben der Uebereinstimmung mit meinen Worten dadurch Aus¬
druck verliehen.“
Der Vo-sitzende schreitet nunmehr zur Bildung des Bureaus und
beruft zum ersten stellvertretenden Vorsitzenden Herrn Bürgermeister
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10 XXVL’ Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Dr. von Bo recht aus München, znm zweiten Stellvertreter Herrn Medicin&l-
rath Dr. Dornblüth aus Rostock, zum Schriftführer neben dem ständigen
Secretär Herrn Prof. Dr. Pfeiffer (Rostock).
Vor Eintritt in die Tagesordnung ertheilt der Vorsitzende das Wort
Herrn
Oberbürgermeister Pagels (Oppeln), der darauf hinweist, dass
eine Bewegung, die in ihren Anfängen auf die Bestrebungen des Deutschen
Vereins für öffentliche Gesundheitspflege zurückzuführen sei, seit etwa
Jahresfrist im Bundesstaate Preussen praktische Gestalt angenommen habe.
Es handle sich um die Beseitigung städtischer Abwässer, die seit langen
Jahren eine schwere Sorge für die grösseren Stadtverwaltungen bilde. Nun
habe bereits im März vorigen Jahres eine Anzahl Interessenten grösserer
Städte und anderer Interessentengruppen sich zusammengethan, um den An¬
trag zu stellen, der Herr Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-
angelegenheiten möge hei der Berathung des Jahreshaushaltetats für
1900/1901 eine Summe für Errichtung einer staatlichen Unter¬
suchungsanstalt für die Angelegenheiten der Wassergewinnung
und Abwässerbeseitigung fordern. Erstaunlicher Weise sei von beiden
Häusern des Landtages die Summe von 45000 Mk. zunächst versuchsweise
für diesen Zweck eingestellt worden, dabei aber habe man durchhlicken
lassen, dass an eine Weitergewährung dieser Summe nur dann zu denken
sei, wenn die Kreise der Interessenten einerseits durch ausreichende laufende
Beiträge, andererseits durch Inanspruchnahme des Institutes für besondere
locale Fragen die Angelegenheit unterstützen würden. Man habe sich
desshalb zunächst an die grösseren Städte gewandt; und von etwa 50 dieser
Städte seien bereits feste jährliche Beiträge zugesagt worden.
Neben den Städten sei aber auch die Vereinsthätigkeit herangezogen
und in den Dienst der Sache gestellt worden und eine ähnliche Anfrage
wegen pecuniärer Betheiligung werde auch an den Deutschen Verein für
öffentliche Gesundheitspflege gelangen. Er bitte, dass der Verein nach
Maassgabe der verfügbaren Mittel die Bestrebungen dieser Centralstelle
unterstützen wolle. m
Der Vorsitzende sagt zu, dass die Anregung den Gegenstand ernster
Erwägung des Ausschusses bilden werde; Beschlüsse nach dieser Richtung
seien einstweilen noch nicht gefasst.
Es wird hierauf in die Berathung des ersten Gegenstandes der Tages¬
ordnung eingetreten:
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen etc.
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen in ihrer
Bedeutung für Staat und Gemeinde, sowie für die
amtliche Thätigkeit der Medicinalbeamten.
Es lauten die von den Referenten Regierangs- und Geheimer Medicinal-
r&th Dr. Rapmund (Minden) und Privatdocent Stadtrath Dr. J&8trOW,
(Charlottenburg-Berlin), aufgestellten
Leitsätze:
(Abstimmung Vorbehalten.)
1. Für die Erfüllung der Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege ist die
Einrichtung örtlicher Gesundheitscommissionen nothwendig.
2. Die Thätigkeit der Gesundheitscommission soll
a) nicht bloss eine begutachtende und anregende, sondern auch eine
verwaltende sein, sowie
b) unter Mitwirkung und gegenseitiger Unterstützung des beamteten
Arztes stattfinden.
3. Bei Regelung der Befugnisse der Gesundheitscommissionen dürfen die
Grundsätze der communalen Selbstverwaltung nicht verletzt werden.
Referent, Regierung»- und Geh. Medicinalrath Dr. Rapmund
(Minden):
„Meine Herren! Das Thema, über welches ich das Referat auf Er¬
suchen des Vereins Vorstandes übernommen habe, hatte, wie Ihnen erinner¬
lich sein wird, anfangs einen anderen und zwar folgenden Wortlaut: »Der
Kreisarzt und die Gesundheitscommissionen nach dem neuen preussischen
Gesetz und ihre Bedeutung für Staat und Gemeinde.“ Die jetzige weiter¬
gehende Fassung ist auf meinen Vorschlag gewählt und bin ich dem Vor¬
stande und dem Herrn Correferenten sehr dankbar, dass sie denselben
sofort angenommen und meine Gründe für diese Abänderung als berechtigt
anerkannt haben. Auch Sie werden mir sicherlich zugeben, dass es der
Zusammensetzung, den Aufgaben und Zielen eines Vereins, der sich über
ganz Deutschland, ja sogar über dessen Grenzen hinaus erstreckt, nicht
entspricht, wenn bei einer doch immerhin sehr wichtigen Frage des öffent¬
lichen Gesundheitswesens nur die Verhältnisse in einem einzigen Bundes¬
staat zur Erörterung gelangen. Es könnte dies nur dann einigermaassen
gerechtfertigt sein, wenn die einschlägigen Verhältnisse in diesem Staate
besonders reformbedürftig wären und in Folge ihrer Unzulänglichkeit
gleichsam rückwirkend einen nachtheiligen Einfluss auf die Gesammtheit
aller Bundesstaaten ausübten. Dieser Fall liegt hier aber keinesfalls vor;
im Gegentheil, man kann viel eher behaupten, dass gerade die Frage
der örtlichen Gesundheitscommissionen in Preussen, wenigstens
jetzt, weit besser, als in den meisten anderen deutschen Bundes¬
staaten geregelt und dass es desshalb um so mehr angezeigt ist, bei
ihrer Besprechung auch diese zu berücksichtigen. Ausserdem darf man
nicht ausser Acht lassen, dass erst ein Vergleich zwischen den in den
verschiedenen Staaten bestehenden, derartigen Einrichtungen, deren Zweck-
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12 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
mässigkeit, Thätigkeit u. 8. w. ausreichende Unterlagen gewährt, um sich
ein zutreffendes Urtheil zu bilden über die Bedeutung der Gesundheits¬
commissionen für die Erfüllung der Aufgaben der öffentlichen Gesundheits¬
pflege und damit auch für den Staat und die Gemeinde.
„Meine Herren! Die in Ihren Händen befindlichen kurzen Leitsätze
sind von uns beiden Referenten gemeinsam aufgestellt; betreffs ihrer Be¬
gründung haben wir uns nun dahin geeinigt, dass von mir hauptsächlich
die Nothwendigkeit örtlicher Gesundheitscommissionen überhaupt, sowie
die Aufgaben derselben und die Mitwirkung des beamteten Arztes bei ihrer
Thätigkeit vom hygienischen Standpunkte aus erörtert werden wird, wäh¬
rend mein Herr Gorreferent die Beleuchtung der Frage vom verwaltungs¬
rechtlichen Standpunkte aus übernommen hat. Ich bemerke jedoch, dass
ich bei meinen Ausführungen nicht nur die grösseren Städte im Auge habe,
sondern auch die kleineren Städte, Flecken und das platte Land. Wenn
in dieser Versammlung auch unter den Verwaltungsbeamten die Vertreter
der grösseren Städte überwiegen, so bin ich doch überzeugt, dass diesen
eine derartige Ausdehnung meines Referats schon mit Rücksicht auf die
Nachbarschaft und den regen Verkehr der Städte mit den Landgemeinden
nicht unerwünscht sein dürfte; noch mehr wird dies aber voraussichtlich
bei meinen, hier nicht minder zahlreich vertretenen Fachcollegen der Fall
sein, zu deren Obliegenheiten die Ueberwachung und Förderung der öffent¬
lichen Gesundheit gehört, ohne Unterschied zwischen Stadt und Land. Ich
habe überhaupt das Gefühl, dass es im Interesse des Allgemeinwohles
gar nichts schaden könnte, wenn ein so hoch geachteter, einflussreicher, in
vieler Beziehung als Autorität geltender Verein, wie der Deutsche Verein
für öffentliche Gesundheitspflege, bei seinen Verhandlungen die gesundheit¬
lichen Verhältnisse auch der kleineren Städte und Ortschaften nicht völlig
unberücksichtigt lässt; denn hier giebt es bekanntlich noch recht viel zu
bessern und zwar mehr, wie in vielen Grossstädten!
„Meine Herren! Die Einrichtung örtlicher Gestindheitscommissionen
— ich würde den deutschen Ausdruck „Gesundheitsausschüsse“ vorziehen —
lässt sich in Deutschland ziemlich weit zurückverfolgen; denn die während
des Herrschens der Pest im 16. und 17. Jahrhundert an manchen Orten
gebildeten Pestcommissionen, die aus städtischen Beamten, Geistlichen,
Bürgern u. s. w. bestanden, sind zweifellos als solche Commissionen an¬
zusehen. In Italien, namentlich in der damaligen Republik Venedig, sind
sogar schon im 14. und 15. Jahrhundert in sehr vielen Städten, besonders
in den Seestädten, Ortsgesundheitsrätbe gebildet, denen die Ueberwachung
der öffentlichen Gesundheitspflege und vor Allem die Controle des Scbiff-
fahrtsverkehrs mit Rücksicht auf die Einschleppung von Seuchen aus dem
Orient her oblag. Aber alle diese Anläufe, das Laienelement zur Mit¬
wirkung auf dem Gebiete des öffentlichen Gesundheitswesens heranzuziehen,
blieben doch bis zum vorigen Jahrhundert nur vereinzelt, obwohl man im
Uebrigen gerade früher weit mehr, als dies jetzt glücklicher Weise der
Fall ist, die Neigung hatte, in gesundheitlichen Fragen statt der Hülfe der
Aerzte lieber diejenige ehrbarer Laien in Anspruch zu nehmen, da diese
wegen ihrer angeblichen Unbefangenheit als besser geeignet dazu angesehen
wurden.
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen etc.
13
„Wie nach vielen anderen Richtungen hin, so hat das im Jahre 1831
erfolgte Hereinbrechen der Cholera in Deutschland auch auf die Bildung von
Gesundheitscommissionen einen entscheidenden Einfluss ausgeübt; nament¬
lich inPreussen, wo durch das für damalige Verhältnisse vorzügliche Regu¬
lativ vom 8. August 1835 ihre Errichtung behufs Verhütung und Be¬
kämpfung ansteckender Krankheiten vorgeschrieben wurde, und zwar in
Städten von 5000 und mehr Einwohnern als ständige Einrichtung, während
ihre Bildung in kleineren Städten und auf dem Lande den Regierungen
bezw. den Regierungspräsidenten überlassen blieb. Die betreffenden Com¬
missionen sollten sich aus dem Vorsteher der Orts Polizeibehörde als Vor¬
sitzenden, mehreren von der Ortspolizeibehörde zu wählenden Aerzten,
und von den Vertretern der Communen zu wählenden geeigneten Orts¬
angesessenen, sowie in Garnisonorten aus einem oder mehreren von dem
Militarbefehlshaber zu bestimmenden Offleieren und einem oberen Militärärzte
zusammensetzen, und für die Ortspolizeibehörde nicht nur Rath gebende,
sondern auch ausführende Behörden sein. Insbesondere lag ihnen ob, über
den Gesundheitszustand des Ortes zu wachen, die Ursachen der Entstehung
und Verschleppung ansteckender Krankheiten aufzudecken und für ihre
Beseitigung Sorge zu tragen, das Publicum über die Erscheinungen der
wichtigeren ansteckenden Krankheiten und die dabei zu beobachtenden
Vorsichten)aassregeln zu belehren, die Errichtung der erforderlichen Heil-
und Verpflegungsanstalten vorzubereiten und sich über die Beschaffung der
Mittel, die zur Durchführung der von ihnen als nothwendig anerkannten
Maassregeln erforderlich waren, mit der Communalbehörde zu verständigen,
sowie im Falle, dass sich diese säumig zeigen sollte, darüber der Vorge¬
setzten Behörde unverzüglich Anzeige zu machen. Meine Herren! Ich will
hier nicht weiter auf die Aufgaben dieser Sanitätscommissionen, die 4 durch
spätere Ministerialerlasse, insbesondere durch den Erlass vom 14. Juli 1884,
noch genauer geregelt wurden, eingehen; das Mitgetheilte dürfte für Sie
schon genügen, um daraus den Schluss zu ziehen, dass dieselben eigentlich
eine recht segensreiche Thätigkeit hätten entfalten müssen, wenn sie jenen
gerecht geworden wären und von den ihnen eingeräumten Befugnissen pflicht¬
gemäss Gebrauch gemacht hätten. Dass dies nicht geschehen ist, wird
Ihnen Allen bekannt sein; es ist überhaupt an sehr vielen Orten gar nicht zur
Bildung von Sanitätscommissionen gekommen, oder wenn eine solche beim
erneuten Ausbruch einer Epidemie erfolgte, so war die Thätigkeit der
Commission meist nur eine kurz vorbeigehende. Die Ursache davon lag
wohl hauptsächlich daran, dass ihr eine erforderliche Fühlung mit den
betreffenden Communalbehörden, vor Allem aber die Bachverständige Lei¬
tung fehlte, durch die sie immer wieder von Neuem zur Thätigkeit angeregt
und ihr Interesse für diese wach gehalten wurde.
„Meine Herren! Nicht viel besser als in Preussen hat sich die Wirk¬
samkeit der örtlichen Gesundheitscommissionen in den anderen deutschen
Bundesstaaten gestaltet, in denen solche überhaupt gebildet sind. Es ist dies
keineswegs überall der Fall! Im Gegentheil, nur in einigen Staaten, z.B. in
Anhalt und Wal deck, sind ähnliche Bestimmungen wie in Preussen ge¬
troffen ; auch im Grossherzogthum Hessen ist die Bildung von Kreis- und
Ortsgesundheitsräthen vorgesehen, während man solche in den meisten
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14 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öflentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
übrigen Bundesstaaten entweder nur für alle Städte (z. B. in Baden ge¬
mäss §. 19 a der Stadtordnung vom 24. Juni 1874) oder nur für einzelne
Städte (z. B. in Oldenburg, Sachsen-Weimar, Sachsen-Meiningen,
Schwarzburg-Rudolstadt, Reuss j. Linie) kennt. In einer dritten
Gruppe von Bundesstaaten ist ferner die Bildung von Gesundheitscommissionen
eigentlich nur beim Ausbruch von Epidemieen vorgeschrieben, z. B. in
Bayern und Sachsen — hier giebt es allerdings auch in einzelnen
grosseren Städten derartige ständige Commissionen —, in Württemberg,
Mecklenburg-Schwerin, Altenburg und Schaumburg-Lippe. Gar
keine örtlichen Gesundheitscommissionen existiren in Mecklenburg-
Strelitz, Braunschweig, Coburg-Gotha, Schwarzburg-Sonder s -
hausen, Reuss ältere Linie, während in Elsass-Lothringen Kreis-
gesundheitsräthe bestehen, die noch aus der französischen Zeit
herstammen und aus den durch Decret vom 18. September 1848 gebildeten
Arrondissements-Gesundheitsräthen (Conseils (Thygihie publique et de salu-
brite) hervorgegangen sind.
„Von den drei freien Hansastädten hat Hamburg keine Einrichtung,
die man als Ortsgesundheitscommission ansprechen könnte; in Lübeck
und Bremen sind dagegen dem ausführenden Medicinalamte bezw. der
ausführenden Medicinalcommission berathende und begutachtende Collegien
— Medicinalcollegium bezw. Deputation für das Gesundheitswesen — bei¬
gegeben, die hauptsächlich aus Laienmitgliedern bestehen, aber auch eine
verwaltende Thätigkeit ausüben.
„Während in den deutschen Bundesstaaten, entsprechend dem hier vor¬
herrschenden Verwaltungssystem, durch das die Gesundheitspolizei in allen
Instanzen mit der Staatsgewalt eng verbunden ist, die Ortsgesundheits-
commiBsionen, wo sie überhaupt gebildet sind, nur gleichsam Anhängsel
der ersteren darstellen und fast ausschliesslich nur eine begutachtende und
anregende Thätigkeit ausüben, gestalten sich diese Verhältnisse in denjenigen
Culturstaaten, bei denen das Princip der strengsten Selbstverwaltung der
Gemeinden vorherrscht, ganz anders. Hier bestehen örtliche Gesundheits¬
commissionen als bloss ratbgebende Behörden überhaupt nicht, sondern
nur Ortsgesundheitsämter, die gleichzeitig ausführende Organe sind,
und in deren Händen die Handhabung des ganzen Gesundheitsdienstes in
der Localinstanz ruht, z. B. in England, in den einzelnen Bundesstaaten
Nordamerikas und den englischen Colonial Staaten, ferner in
Schweden, Norwegen und Finnland. Auch die durch das neue
Gesundheitsgesetz vom 17. Juni d. J. in den Niederlanden für alle
Gemeinden über 18000 Einwohner obligatorisch vorgeschriebenen Gesund-
heitBcommissionen, deren Bildung und Zusammensetzung allerdings nicht
auf den Grundsätzen der Selbstverwaltung beruht, sind gleichzeitig aus¬
führende Behörden; dessgleichen können in den einzelnen Cantonen der
Schweiz die Gemeinderäthe die Ausführung und Aufsicht der ihnen
obliegenden Handhabung der öffentlichen Gesundheits- und Lebensmittel¬
polizei besonderen, von ihnen zu ernennenden Ortsgesundheitscommissionen
übertragen. Ebenso sind die den Bürgermeistern in Belgien beigegebenen
Localgesundheitscommissionen (Commissions mtdicales locales) nicht bloss
begutachtende, sondern auch ausführende Behörden; dasselbe gilt betreffs
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Die örtlichen Gesnndheitscommissionen etc.
15
der für die Gemeinden in Italien und für jedes Amt in Dänemark
gebildeten Ortsgesnndheitscommissionen.
„Aehnlich wie in den deutschen Bundesstaaten sind dagegen die Orts¬
gesundheitscommissionen in Oesterreich, wo solche allerdings nicht obli¬
gatorisch sind, in Spanien, wo den Alkalden Gemeindegesundheitsräthe
(Juntas de Sanidad) beigegeben sind, in Portugal, wo durch besondere
Verfügung örtliche Gesundheitscommissionen gebildet werden können, aus¬
schliesslich rathgebende Collegien, ebenso wie die Arrondissements -Gesund-
heitsräthe ( Conseils d’hygi&ie publique et de sdlubriU) und die Comrmssions
d'hygi&ie in den Cantonshauptorten Frankreichs; nur in Ungarn, wo für
jedes Municipium eine Sanitätscommission gebildet werden muss, kann sich
diese beim Ausbruch gefährlicher Epidemieen zu einer Epidemiecommission
constituiren und ist für diesen Fall ermächtigt, die nothwendigen Schutz¬
maassregeln nicht nur vorzuschlagen, sondern auch unmittelbar anzuordnen
und durchzuführen. Der Vollständigkeit wegen sei noch erwähnt, dass in
Rumänien und Russland örtliche Gesundheitscommissionen nicht
bestehen, wohl aber in Japan, das bekanntlich in den letzten Jahrzehnten
gerade auf dem Gebiete des öffentlichen Gesundheitswesens erhebliche Fort¬
schritte aufzuweisen hat, und in dem die Handhabung desselben in unterer
Instanz einem der Polizeibehörde beigegebenen, von den Selbstverwaltungs¬
körpern gebildeten örtlichen Gesundheitsrathe ( Yoto-Jin ) obliegt!
„Meine Herren! Ich muss mich auf diese kurze Uebersicht beschrän¬
ken; denn es würde viel zu weit führen, wenn ich heute auf die in den
einzelnen Staaten über die Obliegenheiten u. s. w. der Gesundheitscom-
missionen geltenden Vorschriften näher eingehen wollte. Die gegebene
Uebersicht dürfte Ihnen auch genügen, um sich ein einigermaassen zutref¬
fendes Bild von den zur Zeit in dieser Beziehung bestehenden Verhält¬
nissen zu machen ; dasselbe bedarf nur noch nach einer Richtung hin einer
Ergänzung, nämlich betreffs der in Preussen durch das Gesetz vom
16. September 1899 und die hierzu erlassenen Ausführungsbestimmungen
gegebenem Vorschriften über die Bildung, Zusammensetzung und Aufgaben
der Gesundheitscommissionen, sowie über das Verhältnis der beamteten
Aerzte zu denselben. Es erscheint dies um so mehr angezeigt, als jene
nicht nur die neuesten derartigen Vorschriften darstellen, sondern auch den
Gegenstand im Vergleich zu den anderen deutschen Bundesstaaten verhält¬
nismässig am besten regeln.
„Meine Herren!* Es ist bereits vorher von mir erwähnt, dass die in
Preussen auf Grund des Regulativs vom 8. August 1835 gebildeten Gesund-
heitscommissionen im Grossen und Ganzen trotz der an sich recht guten
Vorschriften versagt hätten, und dass die Ursache hieran hauptsächlich in
ihrer mangelnden Fühlung mit der CommunalVerwaltung gesucht worden sei.
Ich kann mich dieser Ansicht nicht völlig anschliessen, sondern erblicke
den Hauptgrund davon weit mehr in ihrer zum Theil facultativen Errich¬
tung, sowie in dem Mangel einer sachgemässen Leitung; denn wo diese
beiden Fehler vermieden sind, haben die Sanitätscommissionen recht
Erspriessliches geleistet. Gleichwohl kann man es nur mit Freuden be-
grüssen, dass bei der Umgestaltung der Dienststellung des beamteten
Arztes auch eine solche der Gesundheitscommissionen mit erfolgt, und
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16 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
hierbei, wie es in der Begründung des Gesetzentwurfes heisst, von dem
Gedanken ausgegangen ist: auf der Basis der Selbstverwaltung für die
Zwecke des Gesundheitswesens besonders collegiale Hülfsorgane ins Leben
zu rufen, d. h. gewählt von den Organen der Selbstverwaltung, welche das
Vertrauen in Anspruch nehmen dürfen, dass sie nur Personen berufen, die
den Angelegenheiten der Gesundheitspflege ein warmes Interesse entgegen¬
bringen und eine gründliche Kenntniss der sanitären, wirthschaftlichen und
socialen Verhältnisse des Bezirks besitzen.
„Das Bedürfniss und die Nothwendigkeit der Errichtung
ständiger Gesundheitsausschüsse kann, wie die Begründung weiter mit
Recht sagt, nicht in Abrede gestellt werden. „Sollen die Bemühungen der
staatlichen Medicinalorgane um Besserung der gesundheitlichen Verhält¬
nisse von Erfolg begleitet sein, so ist dies zum grössten Theil davon ab¬
hängig, dass die Organe der Selbstverwaltungskörper diesen Bestrebungen
Interesse entgegenbringen, und, soweit angängig, selbst zu einer intensiven
Mitwirkung auf dem Gebiete des staatlichen Gesundheitswesens heran¬
gezogen werden. Es ist klar, dass eine solche Annäherung zwischen den
staatlichen Organen und den Selbstverwaltungskörpern gerade in der Local¬
instanz von besonderem Werthe ist, wo die Bedürfnisse der öffentlichen
Gesundheitspflege am unmittelbarsten und lebhaftesten hervortreten, und die
Anforderungen des wirthschaftlichen Lebens eine besondere Berücksichtigung
verlangen. Neben den beamteten Aerzten, welchen in erster Linie die
Vertretung der medicinisch-technischen Seite in Gesundheitsangelegenheiten
obliegt, ist die Berathung durch die orts- und sachkundigen Mitglieder der
Gesundheitscommission insofern von hoher Bedeutung, als hierdurch nicht
nur eine erschöpfende und correcte Feststellung auch der thatsächlichen
Unterlagen der Beschlüsse bewirkt, sondern auch zugleich die Aussicht für
die Geneigtheit der Selbstverwaltungskörper, die zur Einführung sanitärer
Verbesserungen erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen, in wirksamer
Weise gesteigert wird.“
„Die hier ausgesprochenen Grundsätze haben in Preussen nunmehr
zur Bildung ständiger örtlicher Gesundheitscommissionen geführt, die
nicht bloss zu den Zwecken der Verhütung und Beschränkung ansteckender
Krankheiten dienen sollen, sondern deren Wirksamkeit mehr oder weniger
auf das ganze Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege ausgedehnt ist. Die¬
selben sind jedoch nach dem Gesetze nach wie vor nur rathgebende und
anregende Hülfsorgane der Ortspolizeibehörden geblieben, ohne jede
verwaltende und ausführende Thätigkeit.
„Meine Herren! Ich glaube kaum, dass in dieser Versammlung betreffs
der Nothwendigkeit und Zweckmässigkeit örtlicher Gesundheitscommissionen
für die Erfüllung der Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege Meinungs¬
verschiedenheit herrscht; sie bezwecken hauptsächlich die Heranziehung
des Laienelementes, und gerade hierin liegt der Schwerpunkt der ganzen
Frage. Durch eine Betheiligung der Laien an den Geschäften und Aufgaben
des Gesundheitswesens wird nicht nur ihr Interesse für hygienische Fragen
geweckt, sondern auch eine werthvolle Rückwirkung auf die Bevölkerung
überhaupt erzielt, indem jene aufklärend, anfeuernd und in Seuchenzeiten
beruhigend auf ihre Mitbürger einwirken können und zwar in weit höherem
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen etc.
17
Grade als die Beamten — gleichgültig ob technische oder nicht tech¬
nische —, denen das Volk leider noch vielfach Misstrauen entgegenbringt.
Der Werth der Belehrung in Bezng auf die Durchführung sanitärer Maass¬
regeln wird aber noch viel zu sehr unterschätzt. Je mehr die Lehren der
Hygiene und die Ergebnisse der hygienischen Forschung in allen Volks¬
schichten Verbreitung finden und Gemeingut werden, je mehr die Bevölke¬
rung über derartige Fragen aufgeklärt wird, desto mehr werden von ihr
auch die Ansprüche der öffentlichen Gesundheitspflege als berechtigt an¬
erkannt werden, desto eher wird sie zur Mitwirkung, sowie zu etwaigen,
durch die sanitäre Gesetzgebung bedingten Unbequemlichkeiten und Opfern
geneigt sein. In dieser Beziehung bleibt aber, trotzdem gerade in jetziger
Zeit die Bevölkerung, namentlich in Folge der socialen Gesetzgebung,
gesundheitlichen Fragen ein wesentlich höheres Interesse als früher ent¬
gegenbringt, noch Manches zu wünschen und zu thun übrig. Desshalb
muss man sich aller Hülfsmittel bedienen, die geeignet sind, jene zu einer
anderen Ansicht zu bekehren und ihr ein grösseres Verständniss für öffent¬
liche Gesundheitspflege wach zu rufen; denn in diesem Verständniss liegt
die kräftigste Triebfeder für sanitäre Maassregeln und eine grosse Gewähr
für ihre Durchführung. Eines der wichtigsten Hülfsmittel hierzu sind aber
die örtlichen Gesundheitscommissionen, die zweifellos wegen ihrer Zusammen¬
setzung und Thätigkeit wesentlich dazu beitragen, dass das Interesse für
gesundheitliche Angelegenheiten die verschiedenen Schichten der Bevölke¬
rung immer mehr durchdringt.
„Die örtlichen Gesundheitscommissionen können aber auch direct sehr
Erspriessliches wirken, indem sie nicht nur den Polizeiorganen und beamte¬
ten Aerzten, sondern auch den betreffenden Verwaltungskörpern mit ihrem
Ratlie zur Seite stehen, ihnen aus eigener Anregung Vorschläge über die Be¬
seitigung gesundheitswidriger Zustände, über die Verbesserung bestehender
Einrichtungen und für die Einführung zweckmässiger Neuerungen machen.
Dazu gehört allerdings vor Allem, dass sie die zuständigen Behörden
bei der Aufdeckung gesundheitlicher Missstände in der that-
kräftigsten Weise unterstützen, und gerade diese Thätigkeit ist meines
Erachtens diejenige, die besonders auf die Nothwendigkeit örtlicher
Gesundheitscommissionen hinweist. Im §. 11 des preussischen Kreis¬
arztgesetzes heisst es daher mit Recht, dass sich die Ortsgesundheits¬
commissionen von den gesundheitlichen Verhältnissen des Ortes durch
gemeinsame Besichtigungen Kenntniss verschaffen sollen; und Sie werden
mir unbedingt zugeben, dass sie sich diese vermöge ihrer jahrelangen und
genauen Vertrautheit mit den örtlichen Verhältnissen weit schneller und
eingehender verschaffen können, als die zuständigen Polizei- und Gesund*
heitsbeamten. Nach dieser Richtung hin ist somit ihre Unterstützung gar
nicht zu entbehren, ganz abgesehen davon, dass es auch für die betreffenden
Beamten von grossem Werthe ist, wenn sie bei ihrer nicht immer ange¬
nehmen Aufgabe des Controlirens, Revidirens, die man von anderer Seite
sogar mit dem Ausdruck „Hineinschnüffeln u bezeichnet hat, von verstän¬
digen und angesehenen Ortseingesessenen begleitet werden; ihre Arbeit
wird dadurch zweifellos wesentlich glatter erledigt und von den betheiligten
Hausbesitzern, Familien u. s. w. vor Allem weniger belästigend empfunden.
Vierteljehrsschrift für Gesundheitspflege, 1002. 2
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18 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
„Meine Herren! Es ist von mancher Seite der Einwand gegen die
Bildung von Gesundheitscommissionen gemacht, dass man in der Verwal¬
tung, speciell in der Gemeindeverwaltung, schon genug Ausschüsse u. s. w.
habe und schliesslich gar nicht mehr in der Lage sei, geeignete Leute zu
den vielen Ehrenämtern zu bekommen. Auch dieser Einwand ist hinfällig;
denn die Geschäfte der Gesundheitscommissionen lassen sich in kleinen
Orten ganz gut mit denjenigen anderer Commissionen, z. B. mit der
Armen- oder Baucommission, verbinden, und in den grösseren Orten ist ein
Personenmangel nicht zu befürchten; hier herrscht ja bekanntlich meist
ein edler Wettstreit um städtische Ehrenämter. Man kann eventuell
auch in Erwägung ziehen, ob sich nicht andere Commissionen vereinigen
oder wohl gar auf heben lassen, die bei Weitem nicht die Bedeutung für
das öffentliche Allgemeinwohl, wie die Gesundheitscommissionen haben.
Jedenfalls werden Sie mir beistimmen, dass diese mindestens die gleiche
Berechtigung wie z. B. die Feuerschaucommissionen haben, die bei den bau¬
fälligsten und ungesundesten Häusern ihrer Pflicht gemäss ein fehlendes
Ofenblech, einen mangelhaften Schornstein mit tödtlicher Sicherheit moniren
und auf diese Weise jene Häuser nach Möglichkeit conserviren, während
es im gesundheitlichen Interesse liegt, wenn dieselben entweder vom Erd¬
boden gänzlich verschwänden oder an sie in hygienischer Hinsicht gleich
strenge Forderungen wie in feuerpolizeilicher gestellt würden.
„Meine Herren! Die Zusammensetzung der Gesundheits¬
commissionen will ich nur kurz berühren. Vom gesundheitlichen
Standpunkte ist hier nur zu verlangen, dass sie sich theils aus
solchen Berufsständen recrutireh, bei denen man schon ein Verständniss
für hygienische Fragen voraussetzen kann, z. B. bei Aerzten, Apothekern,
Bauverständigen, Chemikern, Thierärzten, theils aus Mitgliedern der Ge¬
meinde, bei denen ein warmes Interesse für jene anzunehmen ist. Ob
und wie viel Untercommissionen nothwendig sind, wie gross die Zahl
der Mitglieder einer Commission zu bemessen ist, das sind Fragen, deren
Beantwortung sich nach den örtlichen Verhältnissen richten muss, und auf
die ich hier nicht näher eingehe; betonen will ich jedoch, dass bei der
Bildung von Untercommissionen jedenfalls dafür Sorge zu tragen ist, dass
bei deren Thätigkeit nach einheitlichen Gesichtspunkten verfahren
wird.
„Weit wichtiger ist meines Erachtens die Frage: In welchen Orten
und Gemeinden erscheint die Bildung von Gesundheitscom¬
missionen überhaupt nothwendig?
„Meine Herren! Hier möchte ich nochmals hervorheben, dass, wie die
Jahre lange und allerwärts gemachte Erfahrung gezeigt hat, nichtständige
örtliche Gesundheitscommissionen gar keinen oder nur einen sehr
geringen Werth haben. Die Hauptaufgabe der öffentlichen Gesundheits¬
pflege ist die „Verhütung von Krankheiten u , und zwar nicht nur der soge¬
nannten von auswärts eingeschleppten Weltseuchen, wie Cholera, Pest,
gelbes Fieber u. s. w., sondern vor Allem auch der einheimischen Krank¬
heiten, wie Typhus, Diphtheritis, Scharlach u. s. w., die weit grössere Opfer
als jene erfordern, gegen die sich aber eine gewisse Gleichgültigkeit nicht
nur von Seiten der Behörden, sondern auch von Seiten der Bevölkerung
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen etc. 19
bemerkbar macht, während jeder schon bei dem Namen „Pest tt oder
„Pocken“ das Gruseln bekommt. Gesundheit und Leben müssen aber nicht
erst im Falle der Gefahr geschützt werden, denn dann ist es oft zu spät;
weit wichtiger ist es, rechtzeitig die erforderlichen Vorbeugungsmaassregeln
zu treffen. Desshalb ist auch die Thätigkeit der von Fall zu Fall oder nur
zu einzelnen bestimmten Zwecken einberufenen Gesundheitscommissionen
für die eigentliche Prophylaxe fast werthlos, ganz abgesehen davon, dass
gerade eine solche Thätigkeit für die Mitglieder eine äusserst wenig befrie¬
digende ist. Also vor Allem ständige Commissionen! Nach dieser Rich¬
tung hin weisen die einschlägigen neuen Vorschriften in Preussen einen
wesentlichen Fortschritt auf, den man den anderen Bundesstaaten nur zur
Nachahmung empfehlen kann. Sie haben aber andererseits den Mangel,
dass sie die obligatorische Errichtung von Gesundheitscommissionen nur
auf die Gemeinden mit mehr als 5000 Einwohnern beschränken und für
solche mit und unter 5000 Einwohnern nur deren facultative Einrichtung
Yorsehen, weil angeblich „die einfacheren Verhältnisse in den kleinen Städten
und Landgemeinden das Bedürfnis nach einem ständigen Gesundheits-
collegium weniger in den Vordergrund treten lassen und ihre Bildung auch
schon wegen Mangels geeigneter Persönlichkeiten schwer durchführbar sei“.
Meines Erachtens ist aber in erster Linie nicht die Einwohnerzahl eines
Ortes für die Frage entscheidend, ob in demselben eine örtliche Gesundheits-
commission geboten ist oder nicht, sondern nur die in demselben herr¬
schenden hygienischen Verhältnisse, die bekanntlich in den Landgemeinden
und in den kleinen, oft eng gebauten Flecken und Städten meist viel
schlechter sind als in den Grossstädten. Gerade hier ist daher die Bildung
von Gesundheitscommissionen um so nothwendiger, als auch der Bevölkerung
vorläufig noch das erforderliche Verständniss für hygienische Fragen fehlt,
und desshalb auf den erziehlichen Einfluss der Gesundheitscommissionen
besonderer Werth gelegt werden muss. Fehlt es an geeigneten Persönlich¬
keiten in-einer Gemeinde, dann können auch Gesundheitscommissionen für
mehrere benachbarte Gemeinden, für einen Amtsbezirk u. s. w. gebildet
werden; auf alle Fälle müsste aber ihre Bildung erfolgen, wenn
solche von der Aufsichtsbehörde verlangt wird. In dieser Beziehung
stellt jedoch das preussische Gesetz gegen früher einen Rückschritt dar;
denn während bisher der Regierungspräsident das Recht hatte, in allen
Gemeinden die Einrichtung von Sanitätscommissionen anzuordnen, steht ihm
jetzt dieses nur in den Städten unter 5000 Einwohnern zu, in den Land¬
gemeinden unter 5000 Einwohnern ist dagegen die Bildung der Gesundheits¬
commissionen von der Zustimmung des Kreisausschusses abhängig; dass
diese aber vorkommenden Falles nicht erlangt werden kann, brauche ich
nicht erst besonders hervorzuheben. In meinem Regierungsbezirke haben
z. B. früher fast in allen Landgemeinden Sanitätscommissionen bestanden
und recht gut functionirt; sie sind auch nach dem Erlass des neuen Gesetzes
beibehalten, nur in einem Kreise hat der Kreissausschuss sie nicht in allen
Orten für nothwendig erklärt und sein Ein verständniss versagt. Damit sind
selbstverständlich die früheren Gesundheitscommissionen in Fortfall ge¬
kommen, und wird ihre Bildung selbst beim Auftreten der Pest ohne Zu¬
stimmung des Kreisausschusses nicht erzwungen werden können, ob-
2 *
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20 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
wohl hier durch Ministerialerlass vom 12. Juli d. J. ausdrücklich die unver¬
zügliche Bildung von Gesundheitscommissionen in jeder grösseren Ortschaft
vorgeschrieben ist. Ebenso lässt sich jetzt in kleineren Curorten, Sommer¬
frischen u. s. w. die Errichtung von örtlichen Gesundheitscommissionen nicht
durchsetzen, trotzdem sich gerade hier für diese ein weites Feld der Thätig-
keit bietet. Das sind die Consequenzen eines zu grossen Entgegenkommens
den ländlichen Verhältnissen gegenüber!
„Meine Herren! Die Aufgaben der örtlichen Gesundheits¬
commissionen sind schon vorher von mir so häufig gestreift, dass ich
mich etwas kurz fassen kann. Entsprechend der in den einzelnen deutschen
Bundesstaaten bestehenden Organisation der Verwaltung und speciell der
GesundheitsVerwaltung würden die auf der Grundlage der Selbstverwaltung
hervorgegangenen örtlichen Gesundheitscommissionen in erster Linie immer
rathgebende und begutachtende Collegien für die Ausführungsbehörde
bleiben; dass ihnen hierbei das Vorschlagsrecht, das Recht der Initiative,
eingeräumt werden muss, ist unbedingt erforderlich und das Mindeste, was
sie verlangen können, um das Interesse und die Arbeitsfreudigkeit nicht zu
verlieren. Nun greift die öffentliche Gesundheitspflege fast in alle Gebiete
der Verwaltung ein; das Arbeitsfeld der örtlichen Gesundheitscommissionen ist
demgemäss ein ausserordentlich grosses, so dass es ihnen bei richtiger Leitung
und entsprechendem Verständniss nicht an Arbeitsstoff fehlen wird. Man
braucht nur einen Blick in die für die preussischen Ortsgesundheitscommis¬
sionen erlassene Geschäftsanweisung vom 13. März 1901 zu werfen, so wird
man zugeben, dass aus dem im §. 10 angegebenen Speisezettel: menschliche
Wohnstätten und sonstige zum dauernden Aufenthalt von Menschen bestimmte
Räume, Art der Ansammlung und Beseitigung unreiner Abgänge auf den
einzelnen Grundstücken sowohl, wie für die gesammte Ortschaft, Verbleib
der Schmutzwässer, Wasserversorgung, Verunreinigung der Wasserläufe,
Verkehr mit Nahrungs- und Genussmitteln, gewerbliche Anlagen, Schulen,
Armenkrankenpflege, öffentliche Bade- und Schwimmanstalten, Volksbäder,
Begräbnisstätten u. s. w. schon ein Gang genügt, um die Commission, wenn
sie es mit der Erledigung ihrer Aufgabe ernst nimmt, eine Zeit lang zu be¬
schäftigen ; dabei sind andere Sachen, z. B. Haltekinderwesen, noch unberück¬
sichtigt geblieben. Herr Oberbürgermeister Zweigert in Essen warnt
in seinem an die dortige Stadtverordnetenversammlung gerichteten Bericht
mit Recht vor dem „Multa“ statt des „Multum“; aber es kommt auch hier
alles auf die Leitung an, die besonders einer unnützen Zersplitterung
der Arbeitskräfte der örtlichen Gesundheitscommissionen vorzubeugen
hat. Meine Herren! Man hat schon oft den „Uebereifer“ als ein
namentlich bei beamteten Aerzten vorkommendes Krankheitssymptom be¬
zeichnet — meines Erachtens allerdings völlig mit Unrecht, denn die Herren
sind gar nicht so thatendurstig, wie vielfach angenommen wird —; möglicher
Weise erleben wir aber diese Krankheit bei den örtlichen Gesundheits¬
commissionen und davor möchte ich diese noch besonders warnen. Nichts
ist auf gesundheitlichem Gebiete, namentlich wenn es dabei ans Bezahlen
seitens der Gemeinde geht, verkehrter, als mit einem Male Alles reformiren
wollen ; denn die Folge davon ist leider nur zu oft, dass dann gar nichts
geschieht. „Festina lente“ heisst es auch hier: Erst die Abstellung der
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen etc.
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schlimmsten Missstände verlangt, hierbei aber consequent und
zielbewusst vorgegangen! Im Allgemeinen darf man allerdings seine
Erwartungen an die Leistungsfähigkeit der Gesundheitscommissionen nicht
zu hoch stellen, da ihre Mitglieder doch sämmtlich Gemeindesteuerzahler
und demgemäss sehr vorsichtig sind, wenn es sich um eine Mehrbelastung
der Gemeinde handelt; aber wenn der liebe Herr Nachbar oder das eigene
Interesse dabei in Frage kommt, dann hört man oft ganz rigorose Ansichten,
und die betheiligten Commissionsmitglieder entpuppen sich als so krasse
Hygieniker, dass jeder beamtete Arzt seine helle Freude daran haben würde,
wenn dies auch sonst der Fall wäre. Hier heisst es dann, zur rechten Zeit
„Stopp“ sagen.
„Erfahrungsgemäss will nun Niemand immer nur „rathen“, „anregen“
und sich „gutachtlich äussern“, sondern er will auch „mitthaten“, sonst
liegt die Gefahr vor, dass er bald die Lust zur Arbeit verliert und nicht
mehr mitmacht, besonders wenn er, wie es nicht selten Vorkommen wird,
mit aller seiner gutachtlichen, rathgebenden Thätigkeit den Gemeinde¬
behörden gegenüber keinen Erfolg gehabt, sondern leeres Stroh gedroschen
hat. - Diesem Umstande hat man in Preussen bereits in einer Anzahl
Städte Rechnung getragen und den gleichsam mit staatlichen Functionen
ausgestatteten, aber aus den Wahlen der Selbstverwaltungskörper hervor¬
gegangenen Gesundheitscommissionen eine verwaltende. Thätigkeit, d. h.
ihnen die Verwaltung entweder des ganzen städtischen Gesundheitswesens
(z. B. in Breslau), oder nur einzelner Zweige derselben (z. B. in Essen) über¬
tragen, ein Verfahren, das jedenfalls, so lange die Wohlfahrtspolizei über¬
haupt nicht den Communen überwiesen ist, einen vorzüglichen Ausweg bietet,
um allen Theilen und Wünschen gerecht zu werden. Man hat sich in diesen
Städten auch gar nicht daran gestossen, dass der beamtete Arzt in allen
Verhandlungen der Gesundheitscommission mit berathender Stimme theil-
nehmen und deren Zusammenberufung jederzeit verlangen kann, sowie in
den Versammlungen jederzeit gehört werden muss.
„Meine Herren! Das Verhältniss des beamteten Arztes zu den
Gesundheitscommissionen hat bekanntlich im preussischen Abgeord¬
netenhause und Herrenhause zu lebhaften Debatten Veranlassung gegeben,
verursacht namentlich durch eine Petition der Städte, die in dem eben
erwähnten, dem staatlichen Gesundheitsbeamten eingeräumten Rechte einen
unerhörten Eingriff in die Selbstverwaltung der Städte, gleichsam eine Ver¬
gewaltigung derselben erblickten. Man sah scheinbar in dem beamteten
Arzte eine Art Staatscommissar, der den Städteverwaltungen gehörig auf
die Finger passen und die Aufsichtsbehörde über alle Unterlassungssünden
der Stadtgemeinden thunlichst auf dem Laufenden halten sollte. Meine
Herren! In dieser Weise hat man sich die Mitwirkung des beamteten
Arztes niemals gedacht, selbst in der Zeit nicht, als ihm nach dem Vor¬
schläge des jetzt verstorbenen Herrn Finanzministers Miquel der Vorsitz
in den Commissionen zugedacht war. Die Medicinalbeamten legten, was
ich Ihnen gegenüber bereits auf der Kölner Versammlung betont habe, auf
diese Ehre ebenso wenig Werth als auf das ihnen zugedachte Stimmrecht,
und mit Recht! Denn der Gesundheitsbeamte soll der sachverständige Be-
rather der Gesundheitscommissionen sein, also ihnen gegenüber genau die
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22 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
gleiche Rolle einnehmen wie als Sachverständiger vor Gericht. Damit ver¬
einigt sich aber weder Stimmrecht noch Vorsitz; im Gegentheil, es kann ein
derartiges Recht nur nachtheilig wirken und der Stellung des betreffenden
Beamten schaden, wenn er schliesslich mit seiner Ansicht niedergestimmt
wird. Nothwendig ist es vor Allem, dass er diese überzeugend vertritt, dass
er seine Vorschläge den Commissionsmitgliedern gleichsam mundgerecht
macht, dann werden sie denselben schon stattgeben und zwar um so mehr,
je weniger er sich dabei auf das hohe Pferd setzt.
„Meine Herren! Die immer mehr sich bahnbrechende Erkenntniss,
dass polizeiliche Maassregeln allein nicht zur Hebung des Volksgesundheits-
zustandes ausreichen, sondern dass der Schwerpunkt des öffentlichen Gesund¬
heitsdienstes vielmehr auf eine äusserst umsichtige, emsige, unermüdliche
Vor- und Fürsorge und eine stete Wachsamkeit zu legen ist, damit keine
gesundheitliche Missstände einreissen und sich kein Nährboden für Seuchen¬
keime entwickeln kann, hat dahin geführt, dem technischen Gesundheits¬
beamten, als dem geeignetsten Wächter des gesundheitlichen Wohles, eine
grössere Selbstständigkeit, jetzt auch in Preussen, einzuräumen. Diese er¬
weiterte Machtvollkommenheit nützt ihm aber nichts, wenn er in seiner
amtlichen Thätigkeit, namentlich in Bezug auf die Aufdeckung von
MissBtänden, in den betheiligten Kreisen nicht die nöthige Unter¬
stützung findet, und diese sollen und können ihm die Gesundheitscom-
missionen am besten gewähren. Sie sind auch diejenigen Organe, durch
deren Einfluss er am besten belehrend auf die Bevölkerung ein¬
wirken kann; andererseits bildet er wieder für sie das belebende und
belehrende Element, den technischen Berather in allen zweifelhaften Fragen.
Die Befürchtung, dass eine Betheiligung des Gesundheitsbeamten an den
Sitzungen der Gesundheitscommissionen nothwendiger Weise zu Reibereien
führen und der Sache selbst schaden müsse, ist völlig hinfällig. Wenn auch
alle Gesundheitsbeamten keine Idealmenschen sind, so kann doch Niemand
behaupten, dass sie besonders streitsüchtig und rechthaberisch wären; das
sind alles Eigenschaften, die man ihnen andichtet, denn in Wirklichkeit
sind sie die friedfertigsten Menschen, die selbst mit recht starrköpfigen
Commissionsmitgliedern fertig zu werden verstehen. Und je mehr der
Gesundheitsbeamte diesen näher tritt, je mehr er dadurch Land
und Leute kennen lernt, je mehr er mitten im praktischen Leben
der öffentlichen Gesundheitspflege steht, desto grösser wird
sein Einfluss gerade durch die Gesundheitscommission auf das
öffentliche Gesundheitswesen in den einzelnen Orten seines
Amtsbezirkes sein, und desto erspriesslicher wird auch die
Thätigkeit der Commissionen. Das Verhältnis der Gesundheits¬
beamten zu den Gesundheitscommissionen muss eben auf voller
gegenseitiger Unterstützung beruhen, wobei der erstere allerdings
immer die leitende und anregende Rolle spielen wird. Soll der beamtete
Arzt aber von der Thätigkeit der Gesundheitscommissionen vollen Nutzen
haben, und umgekehrt diese auch stets über wichtigere, den Ort betreffende,
gesundheitliche Fragen orientirt und bei deren Erledigung herangezogen
werden, dann muss dem Gesundheitsbeamten auch das Recht zustehen, die
Zusammenberufung der Commissionen jeder Zeit verlangen zu können.
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen etc.
23
Auch dies liegt im beiderseitigen Interesse wie im Interesse des Allgemein¬
wohles ! Der Nutzen dieser Anordnung wird sich z. B. bei jedem Ausbruch
einer Epidemie in eclatantester Weise heraussteilen.
„Meine Herren! In den Landgemeinden und kleineren Städten nimmt
man ein derartiges Zusammenwirken der staatlichen Gesundheitsbeamten
und GesundheitBCommissionen als so selbstverständlich an, dass man sich
ungemein wundern würde, wenn dies anders sein sollte; aber auch in den.
Grossstädten werden die jetzt vielleicht noch in dieser Beziehung gehegten
Bedenken allmählich verschwinden, und man voraussichtlich es schon
nach wenigen Jahren nicht begreifen können, wie man überhaupt zu solchen
gekommen ist.
„Meine Herren! Je höher die volkswirtschaftliche Bedeutung jedes
einzelnen Menschen für die Gesammtheit sowohl seitens des Staates, als
seitens der ganzen Bevölkerung geschätzt wird, desto besser ist es um das
Allgemeinwohl in sittlicher, gesundheitlicher und wirtschaftlicher Hinsicht
bestellt; dieser Werthschätzung bis in die weitesten Kreise Anerkennung zu
verschaffen, erscheinen gerade die örtlichen Gesundheitscommissionen als
besonders geeignet, und darauf beruht nicht zum Geringsten ihre grosse
Bedeutung für den Staat und die Gemeinde!“
Correferent, Priyatdocent Stadtrath Dr. Jastrow (Charlotten-
burg):
„Meine Damen und Herren! Das Thema, das den ersten Gegenstand
unserer Tagesordnung bildet, ist, wie aus der Ankündigung hervorgeht,
zweiseitig. Die Gesundheitscommissionen haben ihrer Aufgabe nach eine
hygienische, ihrer Zusammensetzung nach eine verwaltungsrechtliche Seite,
und, wie mein Herr Vorredner Ihnen bereits auseinandergesetzt hat, hatten
wir uns dahin verständigt, dass die hygienische Seite von ihm, die verwal¬
tungsrechtliche von mir behandelt wird. Man könnte auch sagen: wir
haben die Gesundheitscommissionen in der Art getheilt, dass der Referent
die Gesundheit und der Correferent die Commissionen übernimmt. — Nun,
meine Herren, ist, wie Sie gesehen haben, dieser Pact nicht eingehalten
worden. Der Herr Referent hat Sie über die verwaltungsrechtliche Seite
derart unterrichtet, dass ich auch nicht einen einzigen Punkt zu nennen
wüsste, den er nicht bereits vorgetragen hätte, so dass Sie über den ver¬
waltungsrechtlichen Zustand vollkommen unterrichtet sind. Ich bin'weit
entfernt, anzunehmen, dass das in Ihrem Interesse ein Nachtheil sei. Ich
bin überzeugt, Sie haben auf diese Art die Informationen sehr viel um¬
fassender, namentlich nach der internationalen Seite sehr viel weiter¬
reichend erhalten, als ich sie zu geben im Stande gewesen wäre. Allein,
meine Damen und Herren, wer nach Homer eine Ilias zu schreiben hat,
ist in einer wenig beneidenswerthen Lage, und ich könnte mich ohne¬
dies schon keiner Täuschung darüber hingeben, dass die Seite der Sache,
die ich übernommen hatte, die untergeordnetere ist. Die Verwaltung ist an
sich nicht Zweck, sondern nur Mittel; das Wichtigere bleibt immer, dass
das hygienisch Richtige geschieht. Ausserdem war die Abgrenzung in der
Art getroffen, dass ich nur das neueste preussische Gesetz, ja sogar auch
dieses im Wesentlichen nur in der Beschränkung auf Gressstädte zu be-
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24 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
handeln hätte. So bleibt mir nichts übrig, als dass ich, so weit das
Thema in dieser Beschränkung es erfordert, hier und da auf die bereits
einmal gegebenen thatsächlicben Darlegungen aus der Gesetzgebung werde
zurückgreifen müssen. Ich hoffe, dass die Anwesenden, insbesondere auch
diejenigen, die die VerwaltungsWissenschaft nicht als ihr Fach betrachten,
also die medicinischen Mitglieder des Vereins, geneigt sein werden, auch
dieser Seite einige Aufmerksamkeit zu schenken. Auf dem Standpunkte
stehen ja heute die Mediciner längst nicht mehr, dass sie in der Hygiene
nur eine medicinische Wissenschaft erblicken. Sie alle wissen, dass in dem
Augenblicke, wo die Gesundheitspflege zur öffentlichen Angelegenheit wird, sie
eben ein Bestandtheil der öffentlichen Verwaltung überhaupt wird.
Einiges hierüber speciell aus dem grössten deutschen Einzelstaate kennen
zu lernen, wird für Sie immerhin ein Interesse nach der Seite hin haben,
dass die Widerstände, die Sie in der Regierung sowohl des Staates, wie
der Städte, in den Parlamenten, in der Bevölkerung zu überwinden haben,
doch auch Gegenstand Ihrer Studien und Erwägungen bilden, und die¬
jenigen Mitglieder des Vereins, die den anderen deutschen Staaten an¬
gehören, müssen — soweit nicht diese Staaten, wie wir dies von einigen
ja wissen, bereits eine vorzügliche Gesetzgebung und gute Gesundheits¬
verwaltung besitzen — damit rechnen, dass sie vor die Aufgabe, vor die
wir jetzt in Preussen gestellt sind, in Kurzem auch in ihren Staaten
gestellt sein werden.
„Mit dieser Beschränkung habe ich nun über drei Gegenstände zu
sprechen. Erstens habe ich die Entstehung der Frage nach der Stellung
der Gesundheitscommissionen im preussischen Verwaltungs¬
organismus zu behandeln, namentlich in Bezug auf die Gressstädte, die
hier in eine etwas eigenartige Lage gekommen sind; zweitens die Frage,
wie sich die Städte dazu gestellt haben; endlich drittens, wie sie sich zu
diesen Aufgaben stellen sollen.
„Die Entstehung der Frage über das Verhältnis der Gross¬
städte zu den Gesundheitscommissionen und Kreisärzten bildet
ein höchst merkwürdiges Beispiel für die eigenartige Stellung der Hygiene
in der Verwaltung überhaupt. Die Hygiene hat es, wie jeder Verwaltungs -
gegenständ, mit allgemeinen Interessen zu thun. Sie stösst aber — und
das hat sie in dem Maasse nicht mit allen öffentlichen Angelegenheiten
gemeinsam — in besonders hohem Grade auf die Ein>z elinteressen.
Sie ergreift die Personen, sie ergreift die Behausung der Personen, sie
muss hineindringen bis in die persönlichsten Interessen. Dabei ist sie
ein Gegenstand, dessen Wichtigkeit für das allgemeine Interesse von
Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr zugegeben wird und heute so weit
zugegeben ist, dass sie Niemand mehr offen und allgemein zu bestreiten
wagt. Wenngleich bisher ein gewisser Widerstand gegen die hygie¬
nischen Eingriffe in das Privatleben immer noch vorhanden ist, so macht
sich dieser Widerstand nicht mehr in der brutalen Art wie früher
geltend, und er kann zu einer Wirksamkeit nur gelangen, je nachdem
die betreffende Gesellschaftsschicht einen grösseren Einfluss auf die öffent¬
lichen Angelegenheiten hat. Durch dieses letztere Moment, durch den
grösseren oder geringeren Einfluss der verschiedenen Gesellschaftsschichten
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen ctc.
25
auf den Verwaltungsapparat des Staates erklärt sich nun die Verschieden¬
heit der Stellung von Stadt und Land in dem Stadium, in dem das preussi-
sehe Gesetz entstand. Sitz des hygienischen Fortschritts in Deutschland
sind die Städte; dies gilt von Preussen, wie von jedem anderen deutschen
Staate. Der Sitz der politischen Macht liegt in Preussen wesentlich auf
dem platten Lande. Dies gilt insbesondere von dem parlamentarischen Ein¬
fluss. Die beiden parlamentarischen Körperschaften, die wir in Preussen
besitzen, das Haus der Abgeordneten sowohl, wie das Herrenhaus, sind in
der Hauptsache Vertretungen des Einflusses der maassgebenden Kreise des
platten Landes, gemässigt durch eine überaus bescheidene Anzahl städtischer
Vertreter. Diese Parlamente stehen nun aber unter dem Einflüsse der heut¬
zutage schon allgemein gewordenen Ueberzeugung, f dass auch die Hygiene
Gegenstand der öffentlichen Verwaltung werden muss. Auch diesen Parla¬
menten ist es nicht mehr möglich, sich auf den Standpunkt zu stellen, dass
man unbequeme Eingriffe bloss ablehnt. Es ist in ihnen aber der Wider¬
stand der maassgebenden Kreise, namentlich des platten Landes, gewisser-
maassen von Staats wegen organisirt. Daher ist die Stellungnahme dieser
Parlamente charakterisirt auf der einen Seite durch die Unmöglichkeit der
Ablehnung, auf der anderen durch eine gewisse geheime Widerwilligkeit, mit
der man auf diese Maassregeln eingeht. — Seit 1868, einer Zeit, als
die Zusammensetzung dieses Parlaments noch wesentlich anders war, als
heute — seit 1868 hat das preussische Abgeordnetenhaus theils in Resolu¬
tionen, theils in Etatsberathungen sich unaufhörlich zu der Auffassung be¬
kannt, dass die hygienische Verwaltung Preussens einer grundsätzlichen
Reform bedürfe. Zuletzt hat noch im Jahre 1896 das Abgeordnetenhaus
eine derartige Resolution angenommen. Aber, meine Herren, während in
staatlichen Angelegenheiten im Allgemeinen eine Resolution eines Parla¬
mentes für den Ausdruck seines Willens gilt, ist man in hygienischen
Angelegenheiten dessen nicht in gleichem Maasse sicher, da hier eben
der Zwang der öffentlichen Meinung so stark wirkt, dass unter Um¬
ständen der einzelne Abgeordnete, erst nachdem die Resolution gefasst ist,
sich vollständig klar wird, was er etwa in die eigene Tasche hinein be¬
schlossen hat. Eben desswegen verlässt sich der Minister auf eine solche
Resolution nicht unbedingt. Im Mai des Jahres 1897 berief der damalige
preussische Cultusminister eine eigene Commission, um über Grundzüge
eines zukünftigen Gesetzentwurfes zu berathen. ln der Commission waren
nicht die Sachverständigen überwiegend, sondern es überwog das parlamen¬
tarische Element, da dem Minister daran lag, für den zukünftigen Gesetz¬
entwurf die Stimmung des Parlamentes kennen zu lernen. Nun nimmt man
gewöhnlich an, um die Stimmung des Parlamentes kennen zu lernen, dafür
sei eben das Parlament da; in hygienischen Fragen nimmt man das nicht
an. In den Berathungen dieser Grundzüge stellte sich sofort heraus, dass
der Angelpunkt der ganzen Reform die Neuordnung der Stellung des
Kreisphysicus ist. Der preussische Kreisphysicus, der mit einem Gehalte
von 900 Mk. im Wesentlichen ein praktischer Arzt ist, der die Verwaltung
der Hygiene als eine Art Annex zu betrachten hat, ist in der Hauptsache,
wie jeder andere praktische Arzt, in dem Maasse abhängig von seiner
Clientei, wie dies der menschlichen Natur entspricht, — nicht in höherem,
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26 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
aber auch nicht in geringerem Maasse. Dieser Kreisphysicus musste zunächst
geopfert werden, und man musste aus ihm einen staatlichen Kreisarzt machen,
der in voller Unabhängigkeit wie jeder andere Staatsbeamte dasteht. Hier¬
gegen machten sich nun in der Commission weitgehende Einwendungen gel¬
tend. Zuerst wurde gesagt: dieser Kreisarzt, dieser Beamte, der bloss noch
Beamter sei und gar nicht mehr praktischer Arzt, der werde ein Theoretiker
und Bureaukrat werden. Man dürfe dem Manne auch namentlich nicht
etwa eine selbstständige Befugniss anvertrauen, sondern er sei Organ des
Landraths und habe lediglich an diesen zu berichten. Wenn man das liest,
so sollte man annehmen, dass in den Grundzügen dem Kreisärzte die Ver¬
waltung der Hygiene und die Ausführung übertragen sei. Die einzige ein¬
schlägige Bestimmung, die darin enthalten war, war die, dass er bei Ge¬
fahr im Verzüge selbstständige Anordnungen treffen sollte, und die fand
man schon höchst bedenklich. Im Einzelnen wurde die Befürchtung aus¬
gesprochen, dass dieser Mann, wenn man aus ihm einen selbstständigen Be¬
amten mache, mit den bekannten Forderungen kommen werde: ein bestimmter
Cubikinhalt Luft für jede Wohnung, und dann werde es den niedrigen Woh¬
nungen auf dem platten Lande, die diesen Cubikinhalt nicht haben, sehr
schlecht ergehen; und doch solle man bedenken, dass gerade aus diesen
niedrigen Wohnungen auf dem platten Lande die besten Soldaten für
die Armee hervorgegangen seien. Endlich aber wurde auch mit voller
Offenheit gesagt, was der psychologische Hauptgrund dagegen sei, aus
dem Kreisphysicus einen unabhängigen und voll besoldeten Arzt zu
machen. Einer der Redner sagte, man müsste nicht den bestgeeigneten
praktischen Arzt den — wie er sich ausdrückte — „ländlichen Besitzern“
entziehen. Das heisst, das Ideal ist, der Kreisphysicus müsse der Hausarzt
dieser Familien bleiben, und die hygienische Unterinstanz sollte nur in
den Händen dessen bleiben, der eben der hergebrachte Hausarzt dieser
Familien ist. Wenn der Zweck dieser Maiconferenz war, Klarheit zu
bekommen über das, was die maassgebenden Kreise des Parlamentes
dachten, so war dieser Zweck vollkommen erreicht. Der Minister wusste,
was er zu thun hatte. — Dem gegenüber stand nun aber auf der anderen
Seite die platte Unmöglichkeit, eine Medicinalreform durchzuführen, ohne
dem zukünftigen Kreisärzte irgend eine Stellung in der wirklichen Verwal¬
tung zu geben. Daher blieb logischer Weise nur ein Ausweg übrig: man
gab ihm diese Verwaltung, aber nicht in den gesellschaftlichen Schichten,
die so sehr opponirt hatten, sondern in den anderen, d. h. man machte den
Kreisarzt zwar allgemein, mit seinen eindringlichen Befugnissen verschonte
man aber das platte Land, das hygienisch zurück ist, und man gab ihm
diese Befugnisse in den Städten, die hygienisch ohnedies voran waren.
Daraus ging ein Vorentwurf hervor, der zunächst in der Tages- und in der
wissenschaftlichen Presse veröffentlicht wurde. Die einschlägigen Haupt¬
bestimmungen dieses Vorentwurfes waren zwei: Erstens, jede Stadt mit
mehr als 5000 Einwohnern (also im Wesentlichen jede Stadt) solle obliga¬
torisch eine Gesundheitscommission nach Maassgabe der Städteordnung er¬
halten; aber nicht, wie sonstige städtische Einrichtungen unter eigener
Leitung, sondern es sollte dieser Gesundheitscommission ein Staatsbeamter
in Gestalt eines Kreisarztes als Vorsitzender octroyirt werden. Zweitens,
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Die örtlichen GesnndheitscommiBsionen etc.
27
gleichzeitig wurde vorgeschrieben, dass dieser Staatsbeamte sich nicht unter¬
stehen sollte, auf dem platten Lande, im Kreisausschusse oder Kreistage
auch nur sich blicken zu lassen, wenn er nicht gerufen würde.
„Das, meine Herren, ist der Ursprung des preussischen Gesetzes, und
hierauf erfolgte der grosse Petitionssturm, den mein Herr Vorredner in seinen
verwaltungsrechtlichen Ausführungen bereits erwähnt hat. Man betonte,
dass wir in Preussen eine lange, und wir dürfen sagen, ruhmreiche Geschichte
der städtischen Selbstverwaltung haben. In wenigen Jahren werden wir
das hundertjährige Jubiläum der St ein’sehen Städteordnung feiern können,
jenes Gesetzes, das in der Zeit der tiefsten Zerrüttung zuerst wieder die
bürgerlichen Elemente zur Theilnahme am Staate und damit auch zur
Vertheidigung des Staates aufgerufen und gesammelt hat. Die Grund¬
idee dieser Selbstverwaltung ist die, dass in den Städten Keiner verwaltet,
der nicht von der Bürgerschaft dazu berufen ist. Hier aber sollte nach den
Grundsätzen der Städteordnung eine Verwaltungscommission gebildet wer¬
den, und dieser sollte Jemand präsidiren, der nicht aus den Wahlen der
Bürgerschaft, sei es direct oder indirect, hervorgegangen, sondern von Staats-
wegen ernannt war. Hierin erblickte man einen Bruch mit der Geschichte
der preussischen Selbstverwaltung. Ein Zweites, was erbitterte, war der
Vergleich mit dem platten Lande. Wenn es aus hygienischen Gründen
wirklich nöthig war, von den Principien der Selbstverwaltung abzuweichen,
so war doch die Abweichung am ehesten da geboten, wo in hygienischer
Beziehung das Wenigste gethan war. Welcher sachliche Anlass aber war
vorhanden, den Eingrifi gerade dort und nur dort aufzuzwingen, wo er
anerkanntermaaBsen nach den bisherigen Leistungen am wenigsten indicirt
war? Namentlich wendete sich gegen dieses Unternehmen die rheinische
Oberbürgermeisterconferenz, und sie hat auch von dem Minister die Antwort
erhalten, dass man sich der Nothwendigkeit nicht verschliesse, diese Ein¬
wendungen einer erneuten Erwägung zu unterziehen. In der That war in
der Vorlage, die im Jahre 1899 an das Abgeordnetenhaus kam, der Vorsitz
des Kreisarztes fallen gelassen. Aber der Kreisarzt war noch immer ein
Mitglied in der Behörde geblieben, und sonach blieb bestehen, dass hier
ein Mitglied mitverwaltete, das nicht aus Wahlen der Bürgerschaft hervor¬
gegangen war. Es wurde hier sogar diesem Mitglieds eine privilegirte Stel¬
lung gegeben, indem es nicht nur dasselbe Stimmrecht haben sollte, wie
jedes andere, sondern auch die Befugniss, die Commission zusammenzuberufen.
Hierauf erfolgte nun ein erneuter Petitionssturm. Eine Petition ging aus
im Ganzen von 111 Städten. Von dieser Petition schlossen sich zwar die
beiden grössten Städte, Berlin und Breslau, aus; aber nur, weil sie die Ab¬
sicht hatten, eine noch kräftigere Petition in eigener Motivirung an die beiden
Häuser des Landtages zu schicken. Uebrigens war der Kreisarzt der Vor¬
lage nicht mehr derselbe, wie der des Vorentwurfs. Er sollte nur noch
ausnahmsweise voll besoldet werden, und was jetzt von der Regierung vor¬
geschlagen war, war ein Mittelding zwischen dem alten Kreisphysicus und
dem ursprünglich geplanten Kreisarzt. In Folge der Petition wurden nun
noch weitere Abschwächungen vorgenommen. Erstens erkannte man an,
daäs es den hergebrachten Grundsätzen der Selbstverwaltung widerspräche,
Jemand zum vollberechtigten Mitglieds zu machen, der nicht aus Wahlen
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28 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
der Bürgerschaft hervorgegangen wäre, und man beschränkte sich darauf,
ihm eine nur berathende Stimme zu geben. Zweitens sollte der Minister
das Recht haben, wenn eine Stadt einen Stadtarzt ernannte, diesem Stadt¬
arzte gleichzeitig die kreisärztlichen Functionen zu übertragen, so dass
dieser dann ein aus den Wahlen der Bürgerschaft hervorgegangener Mann
war. Endlich, drittens, wurde eine (nach meiner Ansicht praktisch nicht
sehr bedeutende) Abschwächung vorgenommen, indem dem Minister das
Recht gegeben wurde, es nötigenfalls bei den alten, von dem Herrn Vor¬
redner bereits ausreichend charakterisirten „Sanitätscommissionen“ zu
belassen.
„So ist das Gesetz vom 16. September 1899 entstanden. Es ist ganz
unverkennbar, dass dieses Gesetz in seiner endgültigen Fassung ein Ent¬
gegenkommen gegen die Bedenken darstellt, die von Seiten der Städte, und
namentlich der grossen Städte, geäussert waren. Aber, meine Herren, ich
kann diesen Standpunkt der Kritik nicht anerkennen. Wenn eine Sache
zunächst furchtbar gefährlich ist und man dann so und so viel abgemindert
hat, sagt man zuletzt: „Was wollt Ihr denn, es ist ja so viel abgemindert“!
Die Kritik hat es nicht zu thun mit dem, was abgelehnt ist, sondern sie hat
es mit dem zu thun, was übrig geblieben ist, und wir haben diese Kritik
so vorzunehmen, als ob die weitergehenden Forderungen niemals existirt
hätten. Wir haben uns darüber schlüssig zu machen, ob in dem Bisschen,
was übrig gebliebön ist, noch ein zu bekämpfender Eingriff in die Selbst¬
verwaltung vorliegt oder nicht. Das heisst in der Hauptsache, wir müssen
uns schlüssig werden, wie wird sich denn dieser Kreisarzt in dieser
Commission machen? Eine solche Frage kann an sich einen ganz ver¬
schiedenartigen Sinn haben. Man kann zunächst fragen: „Was wird der
normale Fall sein, wie wird sich unter gewöhnlichen Verhältnissen dieser
Kreisarzt stellen?“ Mein Herr Vorredner hat bereits hervorgehoben, dass
die geistigen und körperlichen Eigenschaften, aus denen Zanksucht und der¬
gleichen entspringen, bei dem Kreisärzte nicht in höherem Maasse vorhanden
sind, als bei anderen Menschen, und es liegt nicht der geringste Anlass vor,
anzunehmen, dass dieser Kreisarzt für die Regel diese Befugnisse dazu miss¬
brauchen» werde, um etwa den Selbstverwaltungsorganen hinderlich zu sein,
um so weniger, da er ja auf ihre Mitarbeit angewiesen ist. In der Umfrage
des Vereins war auch eine Frage darüber enthalten, ob man gewisse Unan¬
nehmlichkeiten von diesen neuen Befugnissen befürchtet, namentlich, wenn
eine Vereinigung mit dem Stadtarzte eintritt. Die Städte haben diese Frage
verneint. Man hat diese Befürchtung für die Regel nicht, und ich schliesse
mich dieser Verneinung an. Auch ich fürchte nicht, dass in der Regel hier
Collisionen entstehen. Aber, meine Herren, damit ist die Frage nicht er¬
ledigt, sondern man muss Gesetze sub specie aeterni betrachten. Man muss
sie prüfen auch unter dem Gesichtspunkte der möglichen Fälle. Wir
müssen daher auch den äussersten Fall, einen Gonflictsfall, setzen. In solchen
Situationen ist erfahrungsmässig das Maass von Befugnissen ziemlich
gleichgültig; die Hauptsache ist, dass Jemand überhaupt an einer Stelle
Befugnisse hat, an der er sie nicht haben sollte. Geben Sie Jemandem in
einer Angelegenheit, die ihn nichts angeht, irgend ein Recht, und wenn es
noch so klein ist, — und er wird, wenn irgend welche Verhältnisse ihn einmal
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen etc.
29
dazu treiben, den Leuten das Leben so sauer machen, dass sie überhaupt
nicht mehr ein und aus wissen. Das kann man auch mit den kleinsten
Befugnissen machen. Und, meine Herren, unter den anwesenden Ver¬
waltungsmännern werden gewiss Manche sein, die irgend einmal in ihrem
Leben eine ähnliche Rolle auch sohon gespielt haben und haben spielen
müssen. — Es kann Jemand z. ß. die Einberufung so oft verlangen, dass
der Vorsitzende schliesslich andere Sitzungen nicht mehr anberaumen kann,
weil es doch sehr schnell eine Grenze hat, wie oft man die Herren zu¬
sammenberufen kann, und dieses Recht würde, wenn die kreisärztlichen
Functionen dem Stadtarzte übertragen sind, dem Untergebenen gegenüber
seinem Vorgesetzten zustehen. Ich lege übrigens auf die Einzelheit wenig
Gewicht. Die Hauptsache ist die allgemeine Lebensregel, dass überall
Gefahr vorhanden ist, wenn Jemand in einem Organismus, in dem er keine
Rechte haben sollte, Rechte hat.
„Da das, was ich gesagt habe, sehr leicht einer Missdeutung aus-
gesetzt ist, und da ich voraussehe, dass in der Debatte das von manchen
Gegnern so missverstanden wird, als ob ich gesagt hätte, es sei hier schon
der vorhandene Keim eines Zwistes, so erkläre ich ausdrücklich: die Frage,
ob hierin der Keim eines Zwistes vorhanden ist, verneine ich. Ich be¬
schränke meine Behauptung ausschliesslich darauf, dass für den Fall
eines Conflictes unter Umständen so etwas auch entstehen kann. Diese
Behauptung in dieser sehr weitgehenden Beschränkung halte ich aber auf¬
recht. Es ist gar nicht zu leugnen, dass hier ein der Selbstverwaltung
fremdes Element hineingekommen ist. Sagen Sie, meine Herren, es sei
dies in sehr unbedeutendem Maasse, so will ich nicht opponiren. Sie
können aber nicht leugnen, dass, wenn diese Commission eine Commission
der Selbstverwaltung sein soll, hier ein der Selbstverwaltung fremdes Ele¬
ment vorhanden ist.
„Ich bin nun der Frage nachgegangen, ob denn die Eigenthümlichkeit
dieser Zusammensetzung, die also anders ist, als die Zusammensetzung in
anderen Deputationen, schon auch gewisse Folgen gezeitigt hat. Ich habe
unter diesem Gesichtspunkte die Geschäftsordnung vom 10. September 1899
durchgesehen. Hierbei kommt es nun in den Auweisungen, die der Minister
giebt, nicht etwa darauf an, zu prüfen, ob sie sachlich richtig sind, son¬
dern — es ist dies eine rein formale Frage — ob der Minister gegenüber
dieser Commission andere Rechte in Anspruch nimmt, als gegenüber anderen
städtischen Verwaltungsdeputationen. Und da geht denn nun aus der
Geschäftsanweisung ganz unzweifelhaft hervor, dass sowohl in Bezug auf
die Verfassung, als in Bezug auf das Verfahren der Commission der
Minister Rechte in Anspruch nimmt, die er gegenüber anderen Selbstver-
waltungBdeputationen nicht beanspruchen würde. Der Minister schreibt
vor, es solle der Commission immer ein Arzt und ein Bauverständiger
angehören, und es solle vorher darüber ein Beschluss der Selbstverwaltungs¬
behörden ergehen. Sachlich habe ich gegen diese Bestimmung gar nichts
einzuwenden; ich selbst würde überall dafür eintreten. Aber woher ent¬
nimmt der Minister die Befugniss, den beiden städtischen Collegien Vor¬
schriften darüber zu machen, wen sie in die Commission hineinwählen
sollen? Nach der Städteordnung werden die Mitglieder der Deputation
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SO XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
theik vom Magistratsdirigenten ernannt, theils von den Stadtverordneten
gewählt, und nirgends steht darin, dass ihnen Vorschriften gemacht werden
können. Ja, sie können nicht einmal sich selbst Vorschriften machen auf
einem anderen Wege als auf dem des Ortsstatuts. Die Juristen unter¬
scheiden zwischen Soll und Muss, und sie werden dies als blosse Soll¬
vorschrift anBehen. Wo aber eine Theilung in Untercommissionen statt¬
findet, gebt der Minister weiter und erklärt kategorisch: jeder Untercommission
„muss“ ein Arzt angehören. Auch hier kann ich sachlich die Vorschrift
vollkommen billigen. Aber ich frage mich vergeblich: wenn dies eine Ver¬
waltungsdeputation der Stadt sein soll, wie jede andere, — woher leitet der
Minister dieBefugniss ab, eine derartige kategorische Vorschrift zu machen?
— Er schreibt vor, die Wahlperiode sei durch Gemeindebeschluss festzu¬
legen, und sie gelte mindestens sechs Jahre. Die Städteordnung hat über¬
haupt keine Vorschrift über Verwaltungsperioden, und ein so anerkannter
Kenner der altpreussischen Städteordnung, wie Oertel, nimmt an, dass das
Mandat der einzelnen Mitglieder an sieb zeitlich unbeschränkt sei, bis es
durch irgend welche Ausscheidung erlösche. Zum Mindesten ist nicht zu
sehen, woher der Minister die Befugniss herleitet, den Bürgermeistern und
Stadtverordneten vorzuschreiben, auf wie viele Jahre sie ernennen und
wählen sollen.
„Zweitens gilt dasselbe in Bezug auf das Verfahren. Wenn der Kreis¬
arzt das Recht hat, zu jeder Sitzung zu erscheinen, so muss er doch auch
wissen, was in dieser Sitzung verhandelt werden soll. Der Minister hält
sich daher für befugt, die Bestimmung zu treffen, dass für jede solche
Sitzung einer Verwaltungsdeputation eine Tagesordnung aufgestellt werden
muss. Meine Herren, bis jetzt giebt es noch sehr viele Magistrate, die
nicht einmal für die Magistratssitzungen die Einrichtung der Tagesordnung
als obligatorisch kennen, und viele Magistratsdirigenten nehmen für sich
in Anspruch, auf die Tagesordnung noch im letzten Moment zu setzen, was
sie für gut halten. Das ist gar kein so unbedeutender Eingriff, dass für
eine Deputation — die also niedriger ist, als der Magistrat — diese Vor¬
schrift getroffen und damit die Controverse gegeben wird, ob Gegenstände,
die nicht auf der Tagesordnung stehen, verhandelt werden dürfen. Der
Minister geht aber weiter. Er schreibt vor, die Tagesordnung müsse min¬
destens acht Tage vorher in den Händen der Mitglieder sein — eine Vorschrift,
die meines ErachtenB so weitgehend ist, dass sie in der Praxis nicht einmal
immer befolgt werden kann. Das Protokoll jeder Sitzung ist dem Kreis¬
arzt in Abschrift mitzutheilen. Der Minister schreibt nicht bloss vor,
dass die Sitzung anberaumt werden muss auf Wunsch des Kreisarztes,
wie das Gesetz sagt, sondern auch, wenn ein Drittel der Mitglieder es
verlangt — eine gewiss wohlthätige Vorschrift, bei der aber nicht gesagt
ist, worauf der Minister sie gründet; ebenso weuig wie bei der ferneren
Vorschrift, dass die Sitzungen mindestens vierteljährlich stattfinden müssen.
Die Frage der Beschlussfähigkeitsziffer der Deputationen ist streitig, und
in Bezug auf die Magistrate gilt theils die Vorschrift von einem Drittel,
theils die Vorschrift von der Mehrheit der Mitglieder. Der Minister sagt:
sie soll beschlussfähig sein, wenn „ausser dem Vorsitzenden mindestens die
Hälfte der Mitglieder“ anwesend ist. Dies ist mathematisch nicht identisch
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen etc.
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mit Mehrheit, sondern es ist ein neues Princip. Der Minister hält sich
also für befugt, bei diesen Deputationen eine Vorschrift über die Beschluss¬
fähigkeit zu erlassen. — Die Commission soll mit der Polizeibehörde und
dem Kreisarzt in unmittelbarem Geschäftsverkehr stehen, während man
doch allgemein annimmt, dass communale Verwaltungsdeputationen nach
aussen nur soweit hervortreten, wie der Magistrat ihnen diese Befugniss
beilegt, und dass der Magistrat ihnen die Befugniss auch jederzeit entziehen
kann. Während die noch heute gültige Instruction für die Stadtmagistrate
vom 25. Mai 1835 den Deputationen die directe Verbindung mit Behörden
über den Kopf des Magistrates hinweg untersagt, wird sie hier direct vor¬
geschrieben, u. 8. w.
„Sollen wir nun die Tragweite aller dieser Vorschriften behandeln, so
stellen Sie sich einmal vor, der Minister würde dieselbe Geschäfbsanweisung
erlassen für die Gasdeputation, für die Elektricitätsdeputation, für die Ge¬
werbedeputation u. 8. w. Ja, meine Herren, ich frage mich, was würde
überhaupt noch von der Bewegungsfähigkeit der Selbstverwaltung übrig
bleiben, wenn der Minister so weitgehende detaillirte Vorschriften für die
einzelnen Deputationen erlassen sollte. Hierbei lege ich noch nicht einmal
das Hauptgewicht auf die staatsrechtliche Frage, ob der Minister befugt
ist, für Verwaltungsdeputationen Geschäftsanweisungen zu erlassen; aus
dem allgemeinen Aufsichtsrechte der Regierung mag eine solche Befugniss
in einem gewissen Umfange und für gewisse Punkte vielleicht abzuleiten
sein. Es kann dies aber ganz dahingestellt bleiben, denn der Minister hat
eine solche Befugniss in dieser Intensität niemals in Anspruch genommen.
Wo ist denn schon jemals ein Minister auf den Gedanken gekommen, für
Deputationen und überhaupt für städtische Angelegenheiten so minimale
Vorschriften zu treffen? Der Minister nimmt also gegenüber dieser Depu¬
tation innerlich eine ganz andere Stellung ein, als gegenüber allen anderen
Deputationen. Daher ist auch wohl anzunehmen, dass der Minister diese
Befugniss gar nicht auf die Städteordnung begründet, sondern er gründet
sie eben auf dieses neue Gesetz, mit dessen Ausführung er beauftragt ist.
„Ich habe nun auf Grund dessen dieses neue Gesetz durchgesehen
und habe gefunden, dass in diesem Gesetz auch nicht mit einer Silbe gesagt
ist, dass diese Deputation eine communale Deputation, eine Deputation
der communalen Selbstverwaltung sei, sondern der betreffende Passus
lautet, §. 10:
Die Zusammensetzung und Bildung dieser Commissionen erfolgt
in den Städten in Gemässheit der in den Städteordnungen für
Bildung von Commissionen (Deputationen) vorgesehenen Bestim¬
mungen.
„Das heisst, das Gesetz sagt: Die Commission wird zusammengesetzt
nach denselben Bestimmungen wie die Deputationen. Das Gesetz sagt aber
nicht mit einem Worte, dass hier eine städtische Verwaltungsdeputation
geschaffen sei, sondern der Sinn des Gesetzes ist etwa der: Der Staat schafft
eine Commission, und, um nicht lange Auseinandersetzungen zu machen, wie
diese Commission in jedem Landestheile volksthümlich zusammenzusetzen
sei, drückt sich der Staat kurz aus und sagt: für die Zusammensetzung
dieser meiner Commission sollen dieselben Bestimmungen maassgebend sein,
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32 XXVI. Versammlimg d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
die in der Städteordnung der betreffenden Gegend sieb Anden über die
Zusammensetzung der Deputationen. Die Bürger sind nicht bloss Bürger
der Stadt, sondern sie sind auch Bürger des Staates. So wie die Gemeinde
eine Selbstverwaltung einrichten kann, kann auch der Staat eine Selbst¬
verwaltung einrichten. Dann muss der Staat sich darüber aussprechen,
welche Vorschriften für die Zusammensetzung maassgebend sind, und er
kann, wenn er will, die Vorschriften der Städteordnung dafür nehmen.
„Wir haben es also, wie ich glaube, in diesen Commissionen überhaupt
nicht mit städtischen Verwaltungsdeputationen zu thun. Und dies wird
vollends klar, wenn man sich den Fall denkt, dass auch in den Land¬
gemeinden — was ja zulässig ist — eine solche Deputation gebildet würde.
Die östliche Landgemeindeordnung hat überhaupt keine Bestimmungen
über die Bildung von Deputationen. Diese konnten daher auch nicht
maassgebend sein, und das Gesetz schreibt vor: der Landrath bestimmt
die Zusammensetzung. Ja, wenn auf dem Lande sogar der Landrath die
Zusammensetzung bestimmt, so kann man darin gewiss nicht mehr eine
communale Deputation, eine Deputation der communalen Selbstverwaltung
erblicken.
„Das Ergebniss meiner Kritik ist also das Gegentheil, wie die An¬
schauung, von der ich zu Anfang ausgegangen war. Der Minister ist mit
seiner Geschäftsanweisung vollständig im Rechte. Es kann hier dahin¬
gestellt bleiben, ob er im Einzelnen im Recht ist (das wäre Sache näherer
verwaltungsrechtlicher Nachprüfung, ob die Bestimmungen sich überall
innerhalb der Grenzen des Gesetzes halten). Aber mit der Befugniss, die
er für sich in Anspruch nimmt, hier eine Geschäftsanweisung zu erlassen,
ist er im Rechte. Im Unrecht ist der Minister nur nach einer anderen
Seite hin, und die ist wenig bedeutend. In Unrecht ist er nämlich darin,
dass er nebenbei doch noch behauptet, dass es eine communale Deputation
sei. Denn das würde nicht vereinbar sein mit seinen eigenen Befugnissen.
Er sagt: „die Gesundheitcommission ist als ein aus den Wahlen der Selbst¬
verwaltungskörper hervorgegangenes Organ nicht auf communale Ange¬
legenheiten beschränkt, sondern sie hat auch staatliche Aufgaben zu er¬
füllen“. Das ist nicht richtig und mit dem sonstigen Standpunkte des
Ministers nicht zu vereinigen. Man kann nicht sagen: sie hat auch
staatliche Aufgaben zu erfüllen, sondern: sie hat staatliche Aufgaben zu
erfüllen. Gommunal ist an dieser Commission nichts als ihr Ursprung.
Nachdem sie gebildet ist, hat die Commune ihre Leistung gethan und ist
fertig.
„Dieses ist der bisherige Hergang in Preussen, was die Gesetzgebung
betrifft. Wir haben nun zweitens zu sehen, wie sich die Städte bisher
mit diesem Zustande der Gesetzgebung abgefunden haben, sowohl
in Bezug auf die Gesundheitscommissionen, wie auf den Kreisarzt.
In Bezug auf die Gesundheitscommissionen war zunächst die Möglich¬
keit vorhanden, dass die Städte, wenn sie darin, wie man ja anfänglich
meinte, eine communale Einrichtung zu erblicken haben, alle Einrichtungen
der communalen Gesundheitspflege dieser Commission unterstellen. Dazu
gehören: CanalisatioU, Wasserleitung, Strassenreinigung u. s. w. Soviel ich
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Die örtlichen Ges undheitsco Emissionen.
33
sehe, ist dieser Gedanke nirgends ernstlich in Angriff genommen worden,
und er kann wohl auch nicht in Betracht kommen. Denn ein grosses
Canalisationswerk ist eine Aufgabe, die so viel technische Einzelheiten hat,
dass die bloss gesundheitliche Seite der Canalisation nur eine Verwaltungs-
rückßicht unter vielen ist. Es ist daher mit vollem Rechte davon abge¬
sehen worden. Immerhin ist Breslau doch so weit gegangen, seine Kranken¬
häuser dieser Deputation zu unterstellen, und die Bestimmungen in einer
gemeinsamen n Heildienstordnung u zu umfassen. Auch Elberfeld hat die
communale Gesundheitspflege so geordnet. Frankfurt a. M. hat seinen
alten Gesundheitsrath aufgehoben und einen neuen an die Stelle gesetzt
der sowohl die staatlichen Aufgaben, wie auch communale Aufgaben der
Gesundheitspflege übernehmen soll. Köln hat seine Yerwaltungscommission
für Sanitätssachen aufgelöst und damit den Willen angedeutet, der neuen
Commission auch die communale Sanitätspflege zu unterstellen. Essen hat,
von dem richtigen Gedanken ausgehend, dass dieser Commission irgend
etwas Concretes von Verwaltungsaufgaben überwiesen werden müsse, der
Commission die ganze Wohnungsfrage überwiesen, und dies ist in Barmen
bereits nachgeahmt worden. — Von Städten, die eine communale Gesund¬
heitsdeputation besassen, und bisher bereits Stellung genommen haben
nach der Seite, dass sie erhalten bleiben sollte, ist mir nur Bochum bekannt
ln den anderen Städten scheint die Angelegenheit noch nicht endgültig ent¬
schieden zu sein.
„In Bezug auf die zweite Frage: Kreisarzt und Stadtarzt, hatte Frank¬
furt a. M. als die erste der preussischen Städte bereits im Jahre 1883 das
Amt eines Stadtarztes eingerichtet. Dann sind, überwiegend unter dem
Eindrücke dieses Gesetzes, hinzugekommen: Danzig, Hannover, Breslau,
Düsseldorf. Berathend oder abwartend stellen sich Kiel, Königsberg und
Magdeburg, weil sie sehen wollen, wie sich die Regierung zur Uebertragung
der kreisärztlichen Befugniss stellt. Den Versuch, die staatlichen Func¬
tionen des Kreisarztes für einen vorhandenen oder geplanten Stadtarzt zu
erlangen, haben bisher gemacht, soviel in der Umfrage eine Antwort ge¬
geben ist: Elberfeld, Barmen, Danzig, Görlitz und Harburg. In Rixdorf
hat zuerst die Regierung angefragt, ob die Stadt etwa einen Stadtarzt er¬
nennen und auf die Vereinigung eingehen wolle; dann aber hat das
Polizeipräsidium mitgetheilt, dass eine Uebertragung nicht stattfinde.
Manche Städte legten Gewicht darauf, positiv zu wissen, ob sie die kreis¬
ärztlichen Befugnisse erhalten würden, bevor sie einen Stadtarzt wählten,
und hierfür ist charakteristisch die Antwort, die Charlottenburg erhalten
hat auf die Frage, ob die Stadt, wenn sie einen Stadtarzt ernennt, darauf
rechnen könne, die kreisärztlichen Befugnisse zu erhalten; das Ministerium
antwortet, dies würde abhängen von der Vorbildung, der Vergangenheit
und der Persönlichkeit des gewählten Stadtarztes. In Düsseldorf schweben
die Verhandlungen noch, in Hannover hat man die Erwartungen soweit
herabgestimmt, dass man jetzt nur noch über eine theilweise Uebernahme
der kreisärztlichen Functionen verhandelt. Mir sind bisher nur zwei Städte
bekannt geworden, die auf diesem Wege die Uebertragung der kreisärzt¬
lichen Functionen erreicht haben: Osnabrück und Altona. In der Debatte
wird Gelegenheit vorhanden sein, auch noch andere derartige Städte zu
Vierteljehrsschrift für Gesundheitspflege, 1902. ^
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34 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
nennen; es werden ja vermuthlich noch einige sein. — Sicher geht aber
schon aus diesem Ueberblick soviel hervor, dass die Zahl der Städte, die
die kreisärztlichen Functionen erhalten, sehr gering ist. Man hat bis jetzt
überwiegend von Ablehnungen erfahren. Damit ist zu vergleichen die
Aeusserung, die der Cultusminister in der Sitzung des Herrenhauses vom
6. Juli 1899 that, als es sich um die Bestimmung handelte, dass die Regie¬
rung das Recht haben solle, auch die kreisärztlichen Befugnisse einem
Stadtarzte zu übertragen. Da äusserte sich der Minister: „Wir werden von
dieser Vorschrift des Gesetzes im weitesten Umfange, so weit wir nur irgend
können, Gebrauch machen, und in allen diesen Fällen — und das werden
die weitaus meisten sein — kann es ihnen, den Städten, durchaus gleich¬
gültig sein, ob der von ihnen angestellte Stadtarzt, der zugleich die
Functionen des Kreisarztes übt, in der Gesundheitscommission stimmberech¬
tigt ist oder nicht, und damit sind eigentlich diese Bedenken in der Haupt¬
sache und im Wesentlichen erledigt.“
„So sind denn die Städte auf den entgegengesetzten Weg gekommen.
Da sie für ihren Stadtarzt nicht die kreisärztlichen Functionen erlangen
können, so haben sie den Versuch gemacht, die stadtärztlichen Functionen
dem Kreisarzt zu übertragen. Auf diesem Wege ist Essen vorgegangen,
so dass also der Stadtarzt in Essen nur nebenamtlich beschäftigt ist, indem
sein Hauptamt das des staatlichen Kreisarztes ist. Elberfeld will nach der
ersten Ablehnung jetzt auf dieselbe Art verfahren.
„Es könnte meine Darstellung den Eindruck hervorrufen, als ob ich
die Absicht hätte, dem Minister aus seinem Verfahren einen Vorwurf zu
machen. Dies ist nicht der Fall. Zunächst ist zu bedenken: Der Minister,
der jetzt die Uebertragung der kreisärztlichen Functionen ablehnt, ist ja
nicht derselbe, wie der, der damals im Herrenhause gesprochen hat. Jeder
Minister ist verpflichtet, seine Amtshandlungen, für die er die Verantwortung
trägt, nach den Grundsätzen zu prüfen, die er für richtig hält; wenn er im
Interesse des Staates — und die Ernennung des Kreisarztes ist eine staat¬
liche Angelegenheit — eine Maassregel nicht für nützlich hält, so darf er
sie nicht desswegen eintreten lassen, weil ein anderer Minister vor ihm in
dem Parlament eine derartige Aeusserung gethan hat. Aber, meine Herren,
selbst wenn die Person dieselbe wäre, so muss ich gestehen, auch vom
Standpunkte einer sehr strengen Moral würde ich selbst dann aus diesem
Widerspruche keinen Vorwurf herleiten, sondern der Vorwurf trifft dann
nur die Leute, die eine Bolche Aeusserung im Parlament, die eben in das
Gesetz nicht hineingeschrieben war, für etwas Bindendes gehalten haben.
Es ist das eine liebenswürdige Aeusserung, und, meine Herren, die Leute,
die sich darauf so sehr steifen, das sind Leute, die Süssholz für Eichenholz
halten.
„Ich möchte übrigens noch einen Schritt weiter gehen. Ich kann noch
nicht einmal zugeben, dass diese Vereinigung der stadtärztlichen und der
kreisärztlichen Functionen vom Standpunkte der städtischen Verwaltung
gar so sehr erstrebenswerth sei, sondern ich finde, die Entscheidung des
Ministers ist für die Regel auch ganz sachgemäss. Die Verbindung eines der¬
artigen städtischen Amtes mit dem staatlichen wird sich niemals in der Art
vollziehen, dass dieselbe Person wirklich correct zwei Persönlichkeiten dar-
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen.
35
stellt, sondern, wenn die Stadt die kreisärztlichen Functionen erlangt, so werden
sie sicher nur widerruflich übertragen. Das steht schon fest. Dann hat nun
die Stadt einen Beamten, der in unaufhörlicher Angst schwebt, diese pro¬
visorisch übertragenen Geschäfte könnten ihm entzogen werden. Während
eine Stadt, die einen Stadtarzt anstellt, einen communalen Berather darin
haben will, wird dieser Mann in erster Linie immer besorgt sein, nur ja diesen
staatlichen Auftrag nicht zu verlieren. Nehmen Sie den entgegengesetzten
Weg, wie in Essen, und die Stadt hat den Auftrag im Nebenamt als widerruflich
ertheilt, so wird immer der Beamte sich wesentlich als Staatsbeamter fühlen,
und er wird diese Nebenaufgabe seitens der Stadt eben nur als eine Neben¬
aufgabe ansehen. Es giebt keine Möglichkeit, diese Verbindung so zu con-
struiren, dass die Städte vollständig zu ihrem Rechte kommen. Im Gegentheil
ist bei einer solchen Verbindung immer der Schwächere im Nachtheil. Wenn
Sie einen eisernen Topf und einen irdenen zusammenstossen, so ist es ganz
gleich, ob Sie den eisernen auf den irdenen werfen, oder den irdenen auf
den eisernen, der Topf, der Schaden leidet, wird immer der irdene
sein. — Damit ist nicht gesagt, dass nicht eine Stadt auch einmal
einen solchen Weg einschlagen kann, wie zum Beispiel Essen den Weg ge¬
wählt hat, überwiegend aus örtlichen Gründen. Diese können unter Um¬
ständen so zwingend sein, dass man sich über die Bedenken hinwegsetzt.
Aber als allgemeine Norm ist das nicht zu empfehlen. — Höchst charak¬
teristisch sind in dieser Beziehung die Verhandlungen in zwei Städten,
in Breslau und in Frankfurt a. M. Aus Breslau habe ich zwei Auskünfte,
eine amtliche vom Magistrat und eine andere, die aus Stadtverordneten¬
kreisen stammt. Sie stimmen nicht vollständig überein. Es wurde in
Breslau die Frage ventilirt, ob der zukünftige Stadtarzt Mitglied des
Magistrats sein solle oder Untergebener des Magistrats, und da war, wenig¬
stens bei vielen Stadtverordneten, die Ansicht maassgebend: wenn er die
staatlichen Functionen erhält, dann soll man das Amt nicht als das eines
Magistratsmitgliedes crei'ren. Also wenn er die höhere, angesehenere
Stellung hat, dann will man ihn nicht als Magistratsmitglied haben. Und,
meine Herren, mit vollem Recht! Denn dies würde ja darauf hinauslaufen,
dass der Minister gewissermaassen das Magistratsmitglied mit ernennt. —
Die Stellung in Frankfurt a. M. wird folgendermaassen präcisirt. Frank¬
furt a. M. hat sich überhaupt in dieser Sache keine grosse Mühe gegeben,
sondern es stellt sich auf den Standpunkt: entweder die Städte erhalten die
Gesundheitspolizei als einen Theil der allgemeinen Wohlfahrtspolizei, dann
ist es gut; oder wir erhalten das nicht, dann liegt uns an dieser Kleinigkeit
gar nichts.
„Es wäre nun noch drittens zu erörtern: wie sollen sich die Städte
stellen? In diesem Verhältnis von Sanitätsverwaltung und Selbstverwal¬
tung kann man ein allgemeines Verdict darüber, welche Seite der Sache das
Uebergewicht haben solle, nicht abgeben. Es richtet sich dies nach der
Wichtigkeit des Objectes, welches der Selbstverwaltung aus der Sanitäts¬
verwaltung zufliesst, und zwar richtet sich das auch bei den Gressstädten
nicht bloss nach der Wichtigkeit, die die Angelegenheit für die Grossstädte
hat, sondern, soweit sich die Städte als Mitglieder des grossen Ganzen
3*
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36 XXVI. Versammlung d. I). Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
fühlen, müssen sie die Frage nach der Bedeutung für das Land im All¬
gemeinen entscheiden. Je wichtiger eine Angelegenheit der SanitätsVerwal¬
tung ist, desto mehr hat sie einen Anspruch darauf, dass die blossen
Bedenken, die aus der Selbstverwaltung hergeleitet werden, zurücktreten.
Und nun scheinen allerdings die Aufgaben, die der Gesundheitscommission
gesetzt sind, sehr wichtig zu werden, namentlich für die kleinen Städte.
Schon sind eine Anzahl Nachrichten aus kleinen Städten bekannt geworden,
womit sich diese Gesundheitscommissionen beschäftigt haben. Da sehen wir
zunächst, dass aus einer Anzahl ziemlich kleiner Städte oder kleiner Mittel¬
städte — Berlinchen, Halberstadt, Oppeln, Stargard u. s. w. — berichtet
wird, dass sie dort die obligatorische Leichenschau beantragen wollen.
Anderswo ist die Rede von Entwässerungsgräben (Eschwege), von den Aus¬
dünstungen der Weissgerbereien (Halberstadt), von der Reinigung der
Dunggruben auf pneumatischem Wege (Kolberg), Abfuhr in städtischer Regie
(München-Gladbach — einer grösseren Stadt), Vernichtung der Rattenplage
(Königsberg in der Neumark), Rauchbelästigung (Saarbrücken), Beseitigung
des Staubes bei der Strassenreinigung (Uelzen), Beschäftigung mit der
Kindersterblichkeit (Liegnitz). Ja, meine Herren, wenn wir bedenken, wie
wenig bisher in Mittel- und Kleinstädten solche Objecte namentlich in den
Kreisen der Bürgerschaft erörtert wurden, so müssen wir es als eine Sache
von der allergrössten Bedeutung ansehen, dass durch diese Gesundheits-
commissionen das Interesse für eine so grosse Reihe gesundheitlicher Fragen
in die Bürgerschaft hineinkommt, und da haben die grossen Städte auch das
nobile offlcium, dafür zu sorgen, dass dieses Interesse nicht erlahmt und ge¬
schädigt wird etwa dadurch, dass die Grossstädte, weil sie nicht zu ihrem
Rechte gekommen sind, sich auf das Schmollen verlegen. Zu diesen Auf¬
gaben wird noch immer mehr dazu kommen — als eine wahrscheinlich all¬
gemeine Aufgabe die Wohnungsbesichtigung und, wie wir schon heute sagen
können, im Laufe der Zeit eine wirkliche Wohnungsverwaltung. Je mehr
die Grossstädte in der Ausgestaltung der Commissionen vorangehen, desto
mehr werden die kleinen Städte nachfolgen müssen. Und die Kleinstädte
sind gewissermaassen der Zwischencanal zwischen den Grossstädten und dem
platten Lande. Auch haben die Grossstädte ein gewisses Interesse daran,
dass die sanitäre Thätigkeit in den kleineren Orten sich hebe. Denn so sehr
die Grossstädte auch den Zufluss der Bevölkerung freudig begrüssen, wie
er im letzten Jahrzehnt stattgefunden, so sehr auch die Blüthe der Industrie
auf diesem Zufluss beruht, ebenso müssen wir doch auch sagen, es kann eine
Grenze geben, wo die Steigerung des Zuflusses nicht erwünscht ist, und
wir haben ein Interesse daran, dass die Hebung der Zustände auch auf dem
platten Lande und in den kleinen Städten nicht gar zu langsame Fort¬
schritte macht.
„Was sollen nun die Städte dem gegenüber thun? Ich kann die
Rechte der Selbstverwaltung nicht preisgeben, ich könnte es aber auch nicht
mit meinem Gewissen vereinbaren, den Rath zu ertheilen, hierin das Inter¬
esse der Selbstverwaltung höher zu stellen, als das sachliche Interesse an
hygienischen Fortschritten. Da meine ich nun erstens: Die Commission ist
nach dem Gesetz leer, und sie muss eine Füllung bekommen. Ich sehe
keine rechtliche Möglichkeit, die communalen Aufgaben dieser Commission
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen.
37
za übertragen. Zunächst, weil es rechtlich nicht zulässig ist; die Gemeinden
haben nicht die Befugniss, dieser Behörde, die gar keine communale De¬
putation ist, Aufgaben zu ertheilen. Aber auch wenn es rechtlich zulässig
wäre, so würde dies eine Opferung der Selbstverwaltungsrechte enthalten
ohne eine zwingende Veranlassung. Wie weit man in dieser Beziehung
geht, können Sie an dem Beispiel von Halle sehen. Halle hat sich über
diese Deputation ein Ortsstatut gegeben, und darin ist vorgeschrieben, dass
ein Mitglied der Deputation, die Halle also als communale Deputation
ernennen will, von der Garnisonbehörde ernannt wird. Ja, meine Herren,
das ist doch ungeheuer weitgehend, dass man ein Mitglied einer communalen
Deputation von einer Militärbehörde ernennen läBst; und wenn ich auch
zugebe, dass in vielen Garnisonorten ein sachliches Interesse daran besteht,
einen von der Garnisonbehörde bezeichneten Militärarzt unter den Mit¬
gliedern zu haben, so kann man ja ganz denselben Zweck erreichen, wenn
man in das Ortsstatut hineinschreibt: Die Garnisonbehörde kann einen
Militärarzt Vorschlägen. Welcher Anlass aber liegt dazu vor, der
Garnisonbehörde das Ernennungsrecht zu geben? — Um alle Schwierig¬
keiten zu vermeiden, kann man einen Ausweg in der Art treffen, dass eine
Gemeinde sich eine communale Selbstverwaltungs - Deputation schafft, aber
in diese Deputation genau dieselben Mitglieder hineinschickt, die sie in die
staatliche Commission geschickt hat. Dann ist das Bedürfniss nach juristi¬
scher Abgrenzung und Sauberkeit gewahrt, die Sache ist rechtlich voll¬
kommen in Ordnung, und es ist ebenso auch den Forderungen aller derer
Rechnung getragen, die eine erweiterte Thätigkeit dieses Personenkreises
haben wollen. Die Verhandlungen würden sich dann etwa in folgender
Art vollziehen: Es wären an demselben Tage zwei Sitzungen hinter ein¬
ander anzusetzen, zuerst der (staatlichen) Commission, sodann der (commu¬
nalen) Deputation. Zu der ersten Sitzung ist der staatliche Kreisarzt ein¬
zuladen, und wenn diese Commission ihre Angelegenheiten erledigt hat, so
erklärt der Vorsitzende die Sitzung für geschlossen mit einer höflichen
Verbeugung vor dem anwesenden Staatsbeamten, und dieser Beamte als ein
Mann von feiner Bildung wird sofort wissen, wo er Hut und Mantel gelassen
hat. Dann kann die Sitzung der communalen Deputation beginnen, und es
ist rechtlich Alles in Ordnung. Und, meine Herren, der, der Ihnen diesen
Rath giebt, bin ich eigentlich nicht — ein Patent kann ich darauf nicht
nehmen —, sondern den Rath hat schon der Cultusminister Bosse in der
erwähnten Verhandlung des Herrenhauses gegeben, indem er sagte: „Aber
das bleibt ja der Stadt und der Commission unbenommen, sich für rein
städtische Angelegenheiten ohne den Kreisarzt als besondere Commission für
rein städtische Angelegenheiten zu constituiren.“
„Wenn man also diesen Rath des damaligen Cultusministers Bosse be¬
folgt, so wird Alles erreicht, was zur Wahrung der Selbstverwaltungsrechte
nöthig ist.
„Was das zweite Problem betrifft, Kreisarzt und Stadtarzt, so billige
ich den Standpunkt, den die Städte Breslau und Frankfurt a. M. einge¬
nommen haben. Die unwiderrufliche Vereinigung der Functionen, kraft
Gesetzes, besteht ausserhalb Preussens hier in Rostock, wo auf die Anfrage
die Antwort eingetroffen ist: „Der Stadtphysicus schliesst den Kreisphysicus
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38 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
aus“, was ich so auffasse — es geht dies nicht mit unbedingter Sicherheit
daraus hervor —, dass in Mecklenburg überall, wo ein Stadtarzt ernannt
wird, ihm von Gesetzes wegen diese Functionen zufallen. Es wäre von
Wichtigkeit, dies nachher berichtigt zu sehen, falls diese Auffassung irrig sein
sollte. Der Standpunkt von Frankfurt a. M. aber ist vollständig verwirk¬
licht in den sächsischen Städten, die im Besitze der Wohlfahrtspolizei sind,
und in einem früheren Stadium hat die preussische Regierung bereits wieder¬
holt anerkannt, dass kein staatliches Interesse dagegen spreche, den Städten
die Wohlfahrtspolizei zu übertragen. Wenn die Städte das erreichen, würden
wir uns einen Vortrag, wie den meinigen vom heutigen Tage, überhaupt
ersparen können; denn dann sind die Zwistigkeiten alle erledigt.
„In beiden Richtungen: sowohl in Bezug auf die Gesundheitscom¬
missionen, als in Bezug auf den Kreisarzt, können wir aber bereits auf
Erfahrungen hinweisen. Es giebt ein anderes Gebiet der eommunalen
Verwaltung, in welchem genau dieselbe Entwickelung sich seit fast einem
Jahrhundert vollzogen hat: das ist die Schulverwaltung. Die Schuldepu¬
tation, die im Jahre 1811 geschaffen wurde, war auch ein derartiges Ding,
von dem Niemand recht zu sagen wusste, inwieweit es eine communale, in¬
wieweit es eine staatliche Deputation ist, und sicher hatten die Städte das
Recht, für ihre rein eommunalen Angelegenheiten daneben eine rein com¬
munale Deputation zu schaffen. Es giebt ein wenig bekanntes, wiewohl
veröffentlichtes Ministerialrescript von 1823, in dem der Minister von der
Möglichkeit, dass die Städte neben der Schuldeputation noch eine rein com¬
munale Deputation für die äusseren Angelegenheiten der Schule einrichten,
wie von einer schweren Besorgniss spricht. Die Städte haben das nicht
gethan, und heute ist dieser Gesichtspunkt fast verschwunden. Denn wenn
beinahe ein Jahrhundert hindurch Angelegenheiten immer vereint behandelt
sind, ohne dass man in den Acten für Trennung gesorgt hat, dann ist diese
Auseinanderreissung eine gar zu schwierige Aufgabe. Diese Geschichte der
Schuldeputation enthält einen deutlichen Fingerzeig dafür, dass die Städte,
wenn sie ihre Rechte wahren wollen, für ordnungsmässige Trennung staat¬
licher und communaler Angelegenheiten auch in ihren Acten und in der
äusseren Erscheinung zu sorgen haben. Dieselben Analogieen treffen wir
in der Schulverwaltung mit dem städtischen Schulrath (Stadt-Schulinspector)
und dem staatlichen Kreis - Schulinspector. In allen diesen Beziehungen
hängt gegenwärtig die Gestaltung der eommunalen Schulverwaltung so sehr
von der Zusammensetzung der betreffenden Regierung ab, dass Sie heute,
wenn Sie unter den preussischen Städten Umfragen, gewiss die denkbar
entgegengesetztesten Antworten bekommen. Einige werden Ihnen sagen:
Bei diesem Mischzustande stehen wir ganz vorzüglich, und Andere werden
Ihnen sagen: Dieser Mischzustand ist für uns beinahe unerträglich. Das,
meine Herren, ist es gerade, was ich vermieden sehen möchte, dass die Zukunft
dieser Einrichtung so wenig Garantieen für die Städte gebe und dass sie eben
von den bloss persönlichen Verhältnissen abhängig würde. Ich behaupte nicht,
dass derartige Abnormitäten durchaus zu Uebelständen führen müssen. Aber
wesswegen soll man eine so einfache Cautele, wie die von mir vorgeschlagene,
nicht ergreifen, wenn man sie zur Hand hat? Die Städte haben zunächst gegen¬
über dieser neuen staatlichen Function als wichtigste Aufgabe anzusehen, dass
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Die örtliohen GeBundheitsoommissionen.
39
sie ein Unklar werden der Situation verhindern. Hiermit ist es unvereinbar,
dass die Städte durchaus und durchum darauf ausgehen, die kreisärztlichen
Rechte für ihre Stadtärzte zu erhalten. Ich meine vielmehr, die Städte
sollten auch auf anderen Gebieten es nicht als ein so wichtiges Ziel ansehen,
den Staat um seine Aufsichtsrechte zu bringen. Wir haben vom Stand¬
punkte der städtischen Selbstverwaltung gar keinen Anlass, die staatliche
Aufsicht zu scheuen, sondern wir können ganz ruhig den Staat seine Auf¬
sichtsrechte handhaben lassen. Ja, ich kann es überhaupt nicht als richtig
zugeben, dass staatliche Aufsicht und Selbstverwaltung Gegensätze seien.
Im Gegentheil, meine Herren, es ist keine communale Selbstverwaltung
denkbar ohne die Aufsicht einer höheren Instanz. Eine Selbstverwaltung
ist unvollständig, wenn ihr eine Aufsicht nicht zur Seite steht, nicht über
ihr steht. Sie können das ja am besten sehen da, wo das Selbstverwaltungs¬
recht in sich geschlossen ist, im Vereinsleben. Da sehen Sie, dass die
Schulze-Delitzsch’schen Genossenschaften und derartige Vereine, lange bevor
das Gesetz sie dazu zwang, sich eine Aufsicht selbst constituirt haben, weil
die Selbstverwaltung der eigenen Genossenschaften der Ergänzung bedurfte.
Meine Herren, es wird nirgend möglich sein, dass eine rein örtliche Einrichtung
die Anregung einer höheren Stelle entbehren kann oder auch nur entbehren
will, wenn sie es mit ihren Aufgaben ernst meint. Ich meine also, die Städte
sollen die Aufsicht nicht scheuen und sollen in ihr eine werthvolle Ergänzung
erblicken.
„Zweitens, wenn die Städte darauf verzichten, die kreisärztlichen
Functionen für ihren Stadtarzt zu erlangen — und ich bin in Bezug auf die
Schulen ganz derselben Ansicht mit dem sogenannten Aufsichtsrecht für den
Stadtschulinspector oder Stadtschulrath —, so wird die Entwickelung fol¬
gende sein: Es wird sich im Laufe der Zeit heraussteilen, dass bei gut ver¬
walteten Gommunen zum Zwecke der Aufsichtsführung ein eigener staat¬
licher Beamter gar nicht erforderlich ist. Dann werden die Städte für jenen
heimlichen und unausgesprochenen Wunsch einen starken Verbündeten an
dem jeweiligen Finanzminister erhalten. Der Finanzminister wird auf seinen
Collegen von den Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten drücken und
wird von ihm verlangen, dass er an diesen Stellen auf einen eigenen Be¬
amten am Orte verzichte, zumal ja die Ausübung der Aufsichtsrechte vom
Sitze der Bezirksregierung aus unbenommen bleibt. Dann werden wir zwar
dieselbe Einrichtung erhalten, aber sie wird ein ganz anderes Gesicht tragen:
die Städte werden dann nicht als die Bittenden, sondern als die Gewähren¬
den erscheinen. Und das, meine ich, sollte eine städtische Politik in ihrem
Verhältniss zum Staate überhaupt im Auge behalten: nicht so viel anti-
chambriren, nicht so häufig kommen, dass man so zu sagen den Seltenheits¬
werth verliert.
„Nun, meine Damen und Herren, habe ich noch eine Frage zu beant¬
worten, nämlich: wenn das meine Ansichten sind, wesshalb ich mich dann
der Mitaufstellung dieser Thesen schuldig gemacht habe; denn nach Allem,
was Ith über das Verhältniss zur städtischen Selbstverwaltung ausgesprochen
habe, werden Sie sich darüber wundern, wie in diesen Thesen so jedes Gift fehlt,
dass sie vor der strengsten Nahrungsmittelpolizei würden bestehen können.
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40 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Nun will ich allerdings die Beichte ablegen, dass an diesen Thesen die sehr
grosse Liebenswürdigkeit des ersten Herrn Referenten, der sie vorgescblagen
hat, einen bedeutenden Antheil hat, und erst nachdem ich meine Zustimmung
erklärt hatte und dann an die genaue Ausarbeitung der Sache ging, habe ich
eine Anzahl Punkte gesehen, die mir ursprünglich nicht vor Augen standen.
Aber als ich am Schlüsse meiner Studien die Thesen vollständig durchsah, fand
ich trotzdem nichtB darin, was ich zurückzunehmen hätte. Ich halte daher
meine Zustimmung vollständig aufrecht und ziehe daraus die Lebenserfahrung,
dass es unter Umständen ungefährlich sein kann, sich von Liebenswürdigkeit
bestricken zu lassen. Den Standpunkt, den ich hier vertreten habe, finde
ich in den Thesen immerhin deutlich genug gewahrt. In der ersten These
ist gesagt: Die Einrichtung örtlicher Gesundheitscommissionen ist nöthig.
Das unterschreibe ich vollständig. Zweitens: Die Thätigkeit der Com¬
missionen soll a) auch eine verwaltende sein — immerhin, das ist möglich
bei dem Ausweg, den ich angegeben habe, indem man sie doppelt construirt;
aber es sind wenigstens dieselben Personen; b) sie soll stattfinden unter
Unterstützung des beamteten Arztes. Damit ist die Qualität als Beamter
verlangt; inwieweit das aber ein staatlicher oder communaler Beamter sein
soll, darüber schweigen die Thesen. Endlich finde ich darin drittens als
Gesichtspunkt, den ich hier geltend gemacht habe: dass die Grundsätze der
communalen Selbstverwaltung nicht verletzt werden sollen; ein Satz, bei
dem sich ja Jeder denken kann, was er will.
„Ich bin am Ende meiner Ausführungen. Ich glaube, meine Damen
und Herren, dass wir der weiteren Fortentwickelung der Aufgabe, die dieses
Gesetz in die Hand genommen hat, im Grossen und Ganzen eine günstige
Prognose stellen müssen, und, wie ich glaube, auch nicht bloss vom hygieni¬
schen, sondern, wenn man die genügende Wachsamkeit entfaltet,
auch vom Standpunkte der Interessen der Selbstverwaltung. Der Anspruch,
den die Selbstverwaltung auf die Mitwirkung an der Hygiene hat, ruht
nicht bloss in staatlichen Gesetzen, sondern er ruht in der Hygiene selbst.
Der grosse Fortschritt, den die moderne Hygiene über die Kranken- und
Gesundheitspflege früherer Generationen hinaus gemacht hat, beruht wesent¬
lich in der Erkenntniss der drei hygienischen Elemente: Luft, Licht, Wasser.
Alle drei Elemente sind örtlicher Natur, und es ist nicht möglich, Luft, Licht
undWasser gut zu erhalten, wenn nur allgemeine und nicht örtliche Maass¬
regeln dafür sorgen. Und darum ist es unmöglich, eine gute Hygiene ein¬
zurichten, ohne dass in dieser auch die örtliche Selbstverwaltung zur Gel¬
tung kommt. Wenn wir erkennen, dass das Gesetz eines einzelnen Staates
hier und da für den Staat in Anspruch nimmt, was weit besser den Ge¬
meinden selbst überlassen wird, so brauchen wir darum nicht griesgrämig
bei Seite zu stehen. Ueberblicken Sie, meine Damen und Herren, die Ge¬
schichte der deutschen Städte in den letzten drei oder vier Jahrzehnten
und ihr starkes Aufblühen in der Verwaltung — worauf beruht diese
Leistung? Sie beruht darauf, dass wir nicht auf Rechte gewartet haben,
bevor wir Pflichten übernommen haben, und darin liegt auch die Garantie
für unsere zukünftige Weiterentwickelung. Die Garantie liegt in dem bürger¬
lichen Pflichtgefühl und in dem bürgerlichen Gemeinsinn. tt
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Die örtlichen GesundheitscommiBsionen.
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Referent: Regierungs- und Geh. Medidnalrath Dr. Rapmund:
„Meine Herren! Gestatten Sie mir nur einige Worte zu dem hoch¬
interessanten Referat meines Herrn Correferenten, dessen Ausführungen
sich, wie Sie mir zugeben werden, auf einem ganz anderen Gebiete als
die meinigen bewegt haben. Er hat sehr streng den verwaltungsrechtlichen
Standpunkt gewahrt, während von mir die hygienische Seite mehr in den
Vordergrund gestellt und dabei das preussische Kreisarztgesetz nur neben¬
sächlich behandelt ist. Ich möchte ihm gegenüber jedoch schon jetzt be¬
tonen, dass ich seine Befürchtungen in Bezug auf den nicht friedlichen
Charakter meiner Specialcollegen, der Medicinalbeamten, gerade auf Gruud
meiner genauen Information nach dieser Richtung hin nicht theile, und
nur wiederholen kann, dass irgend welche Reibereien zwischen ihnen und
den Mitgliedern der örtlichen Gesundheitscommissionen nicht zu erwarten
sind. Mein Herr Correferent giebt ja auch selbst zu, dass derartige Vor¬
kommnisse nur die Ausnahme bilden würden; gerade durch die Ausnahmen
wird aber die Regel bestätigt.
„Weiterhin möchte ich bemerken, dass die Ortsgesundheitscommissionen
in dem Gesetze selbst nicht als verwaltende, sondern eben nur als rath¬
gebende und begutachtende gedacht sind; sie sollen eine Verbindung zwischen
den staatlichen und communalen Behörden bilden, und den Gemeinden,
namentlich auch den grösseren Städten gegenüber ist ein Entgegenkommen
gerade dadurch gezeigt worden, dass die Wahl und Zusammensetzung der
Commissionen nach den Grundsätzen der Communalgesetzgebung erfolgen
soll, also in den Städten nach den Bestimmungen der Städteordnung über
die Bildung von Commissionen bezw. Deputationen.
„Was weiterhin die Aufgaben der Gesundheitscommissionen anbetrifft,
so ist deren specielle Regelung zweifellos dem Herrn Minister überlassen,
und wenn dieser dazu eine besondere Anweisung erlassen hat, so
beruht dieselbe auf vollständig gesetzlicher, durch §. 17 des Kreisarzt¬
gesetzes gegebener Grundlage und kann daher nicht im Entferntesten als
ein Eingriff in irgend welche städtischen Rechte angesehen werden. Es ist
auch gar nicht zu befürchten, da88 der Herr Minister in dieser Beziehung
irgend welche Eingriffe sich erlauben und insbesondere verlangen wird, dass
den Gesundheitscommissionen auch eine verwaltende Thätigkeit eingeräumt
werde; denn hierzu giebt ihm das Gesetz keine Handhabe. Dies kann viel¬
mehr nur von den Städten Belbst ausgehen, und wenn diese es thun, so ge¬
schieht es sicherlich nur in ihrem eigenen Interesse.
„Was endlich die Berechtigung des Kreisarztes anlangt, an den
Sitzungen der Gesundheitscommissionen theilzunehmen, so bedeutet diese
für Preussen eigentlich nichts Neues, denn in den früheren Sanitätscom¬
missionen war er sogar stimmberechtigtes Mitglied. Ausserdem hat die
Aufsichtsbehörde, also der Regierungspräsident den grösseren, der Land¬
rath den kleineren Städten gegenüber das Recht, nicht nur die Zusammen¬
berufung jeder städtischen Commission zu verlangen, sondern auch zu dieser
einen CoromisBar zu entsenden, der jederzeit gehört werden muss. Auch
ohne die betreffende Bestimmung im Kreisarztgesetze würde demnach der
Kreisarzt, falls er 68 für nothwendig halten sollte,^an den Berathungen einer
städtischen Gesundheitscommission als Commissar des Landrathes oder des
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42 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öifentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Regierungspräsidenten theilnehmen können. Allerdings würde dieB Ver¬
fahren recht umständlich sein, und desswegen ist es viel besser, dass in
dem Gesetze die Tbeilnahme des Kreisarztes an den Sitzungen der Gesund¬
heitscommissionen vorgesehen und ihm vor allem auch das Recht eingeräumt
ist, deren Einberufung jederzeit zu verlangen. Dadurch bekommt er aber
absolut kein Aufsichtsrecht; auch die Einberufung erfolgt nicht durch ihn,
sondern durch den Vorsitzenden der betreffenden Commission.
„ Wenig Beifall dürfte der Vorschlag meines Herrn Correferenten finden,
zwei Gesundheitscommissionen, eine den Bestimmungen des Kreisarztgesetzes
entsprechende und eine rein städtische mit verwaltender Thätigkeit zu
bilden, und nach Beendigung der Verhandlungen der ersteren dem be¬
amteten Arzt dann zu verstehen zu geben, dass er sich jetzt empfehlen
könne. Jedenfalls müssten dann vollständig getrennte Sitzungen zu ver¬
schiedenen Tageszeiten stattfinden; denn dass ein derartiges Herauscompli-
mentiren eines Beamten am Schlüsse einer Sitzung nicht gerade höflich
ist und diesen zweifellos unangenehm berühren muss, wird wohl von keiner
Seite bestritten werden.
n Betreffs der Anstellung der Stadtärzte möchte ich endlich noch her¬
vorheben, dass seinerzeit eine grosse Umfrage bei den sämmtlichen grösseren
selbstständigen Stadtkreisen stattgefunden hat, ob sie Stadtärzte anstellen
wollen oder nicht. Diese Umfrage ist jedenfalls auch aus finanziellen Rück¬
sichten erfolgt,, um das Gehalt für eine Anzahl Kreisärzte zu sparen. Aber
die Annahme, dass die Städte mit grosser Freude zugreifen und die ihnen
durch Anstellung von Stadtärzten erwachsenden Kosten nicht scheuen würden,
hat sich keineswegs als zutreffend erwiesen; denn mit wenigen Ausnahmen
haben die Städte sich ablehnend verhalten und es jedenfalls im Interesse
ihrer Finanzen vorgezogen, keinen eigenen Stadtarzt anzustellen; einzelne
Städte, wie Essen, haben vielmehr dem Kreisarzt gegen entsprechende
Remuneration städtische Functionen übertragen. Also, wenn bisher nur
einige Stadtärzte mit kreisärztlichen Functionen vorhanden sind, so trifft
die Schuld nicht den Staat, sondern die Städte selbst.“
Hierauf eröffnet der Vorsitzende die Discussion.
Oberbürgermeister Fass (Kiel) ist der Ansicht, dass es grosse
Schwierigkeiten habe, sich auf die Kritik erlassener Gesetze einzulassen.
Das Gesetz sei erst ganz vor Kurzem in Kraft getreten, die Erfolge des Ge¬
setzes seien also im Ganzen noch wenig zu übersehen, und daher erkläre
es sich denn auch, dass die beiden Referenten sich mehr auf den Standpunkt
einer Kritik dessen gestellt haben, wie sie sich persönlich die Ausführung
des Gesetzes wünschen. Nach dieser Richtung wolle er nicht folgen, auch
auf die schwierigen communalrechtlichen Fragen wolle er sich nicht ein-
lassen, wenngleich hier auch mancher Stoff zu Meinungsverschiedenheiten
vorliege. Beispielsweise könne er die Ansicht des Referenten nicht theilen,
dass in Preussen die Befugnisse der Aufsichtsbehörden so weit gehen
würden, ohne weiteres eine Commissionssitzung anzuordnen. Die Aufsichts¬
behörde könne dem Magistrat Anweisung bis zu einem gewissen Grade er-
theilen, sie könne aber doch nur innerhalb der Formen der communalen Ge-
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen.
43
setzgebung dem Magistrate auftragen, über die vorgelegte Frage eine
Beschlussfassung der städtischen Behörden eintreten zu lassen.
Darin stimme er den beiden Referenten bei, dass die vorgelegten Leit¬
sätze nichts Bedenkliches enthalten. Leitsatz 3 scheine ihm sogar allzu un¬
bedenklich, so dass er nicht wünschen würde, dass dieser als ein Beschluss des
Vereins in die Welt gehe, da, wie der Correferent richtig gesagt habe, Jeder
darunter denken könne, was er wolle. Leitsatz 1 fasse er als eine Be¬
stätigung dafür auf, dass das preussische Gesetz tolerirt werden könne, dass
auch wohl zu erwägen sei, ob es nicht auch zur Einführung in anderen
deutschen Staaten sich eigne.
Der zweite Leitsatz drücke aus, dass die Thätigkeit der Gesundheits¬
commissionen nicht bloss eine begutachtende und anregende, sondern auch
eine verwaltende sein solle. Mit einer gewissen Modification könne er sich
auch damit einverstanden erklären. Insoweit als die Gesundheitscom¬
missionen als eine staatliche Einrichtung vom Gesetzgeber bezweckt worden
seien, insoweit dürfe ihre Thätigkeit keine verwaltende sein, denn die Selbst¬
verwaltung dürfe man den Gemeinden nicht nehmen. Das wolle das Gesetz
auch gar nicht, es wolle in der That nur, dass diese Commissionen An¬
regungen, Begutachtungen geben, dass sie dem beamteten staatlichen Arzt
eine Handhabe bieten sollen, sich in Fühlung zu erhalten mit den commu-
nalen Organen. Wo aber verwaltet, werden solle, könne dies nur in dem
Rahmen der Städteordnung geschehen. Da müsse die Commission dem
Magistrat untergeordnet sein, und er würde es als eine der traurigsten
Consequenzen des neuen Gesetzes erachten, wenn die Magistrate resp. am
Rhein die Bürgermeister mit ihren Beiräthen sich aus der Stellung ver¬
drängen Hessen, dass die Initiative auch gerade auf hygienischem Gebiete
von ihnen ausgeübt werden solle. Im Uebrigen sei ihm auch der zweite
Theil des zweiten Leitsatzes sympathisch, und er habe nie den geringsten
Gewissensscrupel gehabt, als ob der Zusammenhang der staatlichen Gesund¬
heitscommissionen mit dem beamteten Arzte irgendwie eine Gefahr für die
communale Selbstverwaltung sein könne.
•In Schleswig-Holstein beständen seineB Wissens in sämmtlichen grösseren
Städten Gesundheitscommissionen, die im Grossen und Ganzen alle die Auf¬
gaben zu erfüllen bestrebt gewesen seien, die das Gesetz den neuen Ge-
eundheitscommissionen einräume. In Kiel sei seit Langem der Kreis-
physicus eo ipso vollberechtigtes Mitglied der Commission, aber noch nie
sei bis jetzt ein Conflict daraus entstanden und er werde auch ferner schwer¬
lich entstehen. Die gesetzliche Neuerung aber, dass der Kreisarzt jetzt das
Recht habe, den Zusammentritt der Commission zu verlangen, könne unmög¬
lich zu Unzuträglichkeiten führen, denn kein Vorsitzender der Commission
würde je das Herz haben, es abzulehnen, wenn der Kreisarzt erkläre, es
liege eine wichtige Sache vor, die die Berathung in der Commission er¬
heische.
Ob es sich empfehle, wie der Herr Referent angeregt habe, dass der
Verein so pure die Ausdehnung des preussischen Gesetzes auf die übrigen
deutschen Staaten anrathen solle, scheine ihm fraglich. Einzelne Schwächen
scheine ihm das Gesetz doch zu haben, und mehr noch die dazu erlassene
Ministerialinstruction, die zu sehr in Einzelheiten eingehe und Undurch-
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44 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
führbares fordere, wie z. B. was die Mitglieder der Commission Alles ge¬
meinsam in jedem Jahre besichtigen sollen. Darin liege ein Missgriff, man
solle nicht Aufgaben durch Gesetz oder Instruction ein für alle Mal ver¬
schreiben, die nicht gewissenhaft durchgeführt werden können. Vielleicht
wäre es praktischer gewesen, zu unterscheiden zwischen Aufgaben der
Hygiene, die ständig durchgeführt werden müssen, und solchen, die nur
durchgeführt werden sollen, wenn die Gefahr einer Epidemie vorliege, be¬
vorstehe oder zu befürchten sei, wenn man also gewissermaassen einen Be¬
lagerungszustand — nötigenfalls von Seiten der Aufsichtsbehörde — für
gewisse Städte als vorhanden proclamire, so dass dann die weitergehenden
Functionen der GeBundheitscommission ganz oder in näher zu bezeichnen¬
dem Umfange in Kraft treten. Aber in Zeiten, wenn Alles in bester Ord¬
nung sei, die Stadt sich eines guten Gesundheitszustandes erfreue, wichtige
andere Aufgaben die finanziellen Kräfte der Stadt vollkommen in Anspruch
nehmen, solle man doch nicht, bloss damit die Gesundheitscommission den
Ruhm habe, anregend zu wirken, unnöthiger Weise Unruhe in die Be¬
völkerung hineintragen. Die hygienischen Anregungen grossen Stils solle
man, wie bisher, den Magistraten überlassen, deren Aufgabe es sei, darüber
zu wachen, ob über den Geschäftsgang laufender Verwaltung hinaus einzu¬
greifen sei. Gewiss solle man die Gesundheitscommissionen innerhalb ihrer
nunmehr gesetzlichen Cotnpetenz weiter pflegen und entwickeln, jede An¬
regung von ihrer Seite dankbar annehmen, aber man solle nicht eine gesetz¬
liche oder ministerielle Vorschrift daraus machen, dass sie auf allen nur
möglichen hygienischen Gebieten fortgesetzt eine augenfällige Thätigkeit
entfalten.
Auch die ministeriellen Vorschriften über die Bildung von Unter¬
commissionen halte er für keine glückliche. Wenn man eine Anzahl Unter¬
commissionen bilde, deren Mitglieder dann auch Mitglieder der Gesammt-
commission sein müssten, würde diese so gross werden, dass sie jede
Bewegungsfähigkeit und damit auch jede Bedeutung verliere.
Auf einige andere Missgriffe mehr formaler Natur in der Instruction
habe schon der Herr Correferent bingewiesen, z. B. dass die in der Instruction
vorgeschriebene Dauer der Amtstätigkeit der Mitglieder der Gesundheits¬
commission nicht übereinstimme mit den Bestimmungen über die Wahlperiode
der städtischen Commissionen nach den einzelnen Städteordnungen. In
solchen Fällen sehe er die Instruction des Herrn Ministers nicht als zwingend
an, man dürfe wohl annehmen, dass, wo sie gegen die gesetzlichen Be¬
stimmungen der Städteordnung verstosse, eine Abweichung von der Auf¬
sichtsbehörde nicht beanstandet werde und bis jetzt auch wohl nirgends
beanstandet worden sei.
Oberbürgermeister Schmidt (Erfurt) ist der Ansicht, dass die Ge¬
sundheitscommissionen in ihrem Zusammenwirken von Aerzten, Verwaltungs¬
beamten und Laien eine segensreiche Thätigkeit entfalten werden. Dass
aber das Institut der Gesundheitscommissionen nicht, wie es bei den alten
Sanitätscommissionen der Fall gewesen sei, eine Einrichtung werde, die
lediglich auf dem Papier stehe, dafür sorge die Bestimmung der Ausführungs¬
anweisung, dass die Gesundheitscommission mindestens alle Vierteljahr eine
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen.
45
Sitzung halten müsse. Diese Bestimmung halte er für eine sehr wichtige,
da hierdurch verhindert werde, dass die Thätigkeit der Commission ein¬
schlafe.
Die Bestimmungen, die hinsichtlich der Aufgaben der Commission ge¬
troffen seien, könne er nicht mit Herrn Oberbürgermeister Fuss für verfehlt
halten, sondern halte es für sehr zweckmässig, eine solche Anweisung zu
geben. Es sei wohl zweifelhaft, ob der Turnus eingehalten werden könne,
ob es möglich sein werde, alljährlich alle diese vielen Besichtigungen vor¬
zunehmen; aber dass in der Instruction die Aufgaben der Gesundheits¬
commissionen aufgeführt werden, dass ausdrücklich darauf hingewiesen
werde, es müssten Besichtigungen und Untersuchungen an Ort und Stelle
vorgenommen werden, halte er für durchaus zweckmässig.
Von dem Zusammenarbeiten mit dem Kreisarzt fürchte er keine Schwie¬
rigkeiten, und der Fall, wie ihn der Herr Correferent geschildert habe, dass
der Kreisarzt, um die Commission mürbe zu machen, so oft Sitzungen bean¬
trage, dass die Mitglieder schliesslich überhaupt nicht mehr zu den Sitzungen
kommen, werde, wenn überhaupt, jedenfalls nur ganz vereinzelt sein, und
dann werde die Aufsichtsbehörde hier schon Wandel zu schaffen wissen.
Gegen Leitsatz 2 a müsse er aber seine Bedenken geltend machen.
Es sei bisher von allen Seiten als zweckmässig bezeichnet worden, dass die
Thätigkeit der Commissionen nicht bloss eine begutachtende und anregende,
sondern auch eine verwaltende sein solle, und diesem Gedanken gebe der
Leitsatz 2 a Ausdruck. Hierbei könne man sich aber gar Vielerlei denken.
Einmal könne sie so aufgefasst werden, dass sie die Forderung stellen
solle, dass den Gesundheitscommissionen im Wege der Gesetzgebung
eine derartige Befugniss ermöglicht, dass das Gesetz dahin abgeändert
werden solle, dass die Commissionen, was sie jetzt nicht seien, auch ver¬
waltende Organe werden. Fasse man die Sache so auf, so müsse das aller¬
dings zu den grössten Bedenken Anlass geben, denn eine derartige Ver¬
waltung sei nicht anders denkbar als auf Kosten der Selbstverwaltung,
indem dieser Zweige abgenommen und der Gesundheitscommission über¬
tragen würden; und gegen eine derartige Forderung müsse er sich auf das
Entschiedenste aussprechen. Nur so sei die Sache allenfalls denkbar, dass
neben der Gesundheitscommission eine zweite, eine communale Commission
gebildet werde, die aus denselben Personen zusammengesetzt sei, aber doch
formell selbstständig neben der Gesundheitscommission stehe, und dass dann
diese Commission die verwaltende Thätigkeit ausübe. Das sei alsdann aber
nicht mehr die Gesundheitscommission, und desshalb rathe er, die ganze
These 2 a fallen zu lassen. Es sei gewiss wünschenswerth, dass die Ge-
sundheitscommission enge Fühlung auch mit der Verwaltung habe, und das
werde am besten dadurch erreicht, dass wenigstens ein Theil der Mitglieder
der Gesundheitscommission auch in der städtischen Verwaltung thätig sei,
in städtischen Commissionen, Krankenhauscommissionen u. s. w., was in den
meisten Städten schon ganz von selbst kommen werde. In den meisten
Städten stehe für hygienische Aufgaben nur ein beschränkter Kreis von
Herren zur Verfügung, und man sei darauf angewiesen, diese Herren nicht
nur in eine, sondern in verschiedene Commissionen zu wählen, die mit
solchen Fragen zu thun haben.
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46 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Bürgermeister Dr. Massmann (Rostock) hält die Einführung der¬
artiger Gesundheitscommissionen als ständige Commissionen für etwas Gutes
und Nützliches, um der Obrigkeit und der Stadtverwaltung die nöthigen
Mittheilungen zu machen, um Alles zu erforschen, was den polizeilichen
Organen nicht zu erforschen gelinge; allerdings könne er sich solche Ge¬
sundheitscommissionen immer nur als ausschliesslich städtische, nicht als
staatliche Commissionen denken.
Punkt 2 b der Leitsätze passe allerdings für die Verhältnisse in Rostock
gar nicht. Rostock sei eine Stadt der allerfreiesten Selbstverwaltung, wo
alle und jede obrigkeitliche Befugniss bei der Stadtverwaltung liege, und
die staatliche Aufsicht sich im Wesentlichen auf ein Einschreiten im Fall
einer missbräuchlichen Ausübung der obrigkeitlichen Befugnisse durch die
Stadt beschränke. Für Rostock sei es nicht zulässig, dass ein Staats¬
beamter unmittelbar Functionen in öffentlichen städtischen Angelegenheiten
ausübe, und alle die von den Vorrednern erwähnten Differenzen, die in
Preussen bestehen zwischen der Competenz des Ministers und der Stadt¬
verwaltung, zwischen Kreisarzt und Stadtarzt u. dergl., seien für Rostock
nicht vorhanden, Kreisarzt sei der Stadtarzt und dieser werde Mitglied der
Gesundheitscommission sein.
Bei Punkt 2 a schliesse er sich der Opposition des Vorredners an gegen das
Verlangen, dass die Thätigkeit der Commission nicht bloss eine begutachtende,
sondern auch eine verwaltende sein solle. Dem könne er nicht beistimmen.
Wenn sie verwalten solle, müsse man ihr Mittel zur Verfügung stellen, um
diejenigen Einrichtungen, die sie im gesundheitspolizeilichen Interesse für
unzulässig erkläre, sofort beseitigen zu können, oder sie müsse die Befugniss
haben, in die Häuser hineinzugehen und den Bürgern Auflagen zu machen,
bestimmte sanitäre Missstände zu beseitigen, eventuell Strafen zu ver¬
hängen u. s. w. Das sei gar nicht anders zu denken, als wenn die obrig¬
keitlichen Functionen, welche im Medicinalwesen das Polizeiamt ausübe,
zum Theil auf diese Gesundheitscommission übertragen werden. Ihm scheine
es richtiger, dass die Commission immer unmittelbar an das Polizeiamt be¬
richte, und dieses dann die bezüglichen Nachforschungen anstelle, die
Missstände beseitige und gute Zustände herstelle. Dass aber die Commission
selbst mit derartigen obrigkeitlichen Befugnissen ausgerüstet werde, dem
widerrathe er auf das Entschiedenste. Nur eine Einschränkung wolle er hinzu¬
fügen : im Falle einer Epidemiegefahr werde man dieser Commission eine
verwaltende Thätigkeit zugestehen müssen. Wenn die Cholera unmittelbar
vor der Thür stehe, eine Pestgefahr drohe, dann gehe es nicht anders, da
müsse oft unmittelbar, nachdem man den Uebelstand erkannt habe, ein¬
gegriffen werden, und für solche Fälle könne man als Ausnahme der
Commission auch eine verwaltende Thätigkeit übertragen, aber nicht all¬
gemein für alle Fälle.
Kreisarzt Dr. Steinmetz (Strassburg i. E.) giebt Mittheilungen
über die Erfahrungen, die man in Eisass-Lothringen, wo die Einrichtung
solcher Gesundheitscommissionen schon seit Langem bestehe, gemacht habe.
Schon am 5. October 1810 seien von dem damaligen Präfecten des Departe¬
ment du Bas-Rhin, Lezai Marnesia, in Verbindung mit dem Institut der
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen.
47
Cantonalärzte Commissionen ins Leben gerufen worden, welchen die Ueber-
wachung der gesammten öffentlichen Gesundheitspflege obgelegen habe.
Im Jahre 1872 seien die Conseils d’hygidne unter dem Namen „Kreis-
gesundheitsräthe“ von der deutschen Verwaltung mit nur unbedeutenden
Abänderungen übernommen worden. Nach den dort gemachten Erfahrungen
hänge es in erster Linie von dem Eifer und der Geschicklichkeit der Ver¬
waltungsbehörden und der Medicinalbeamten ab, ob die Gesundheitsräthe
überhaupt etwas leisten. In vielen Fällen, wo es daran fehle, werde aber
nichts geleistet. Es sei gar nicht so leicht, geeignetes Material für die Be¬
rathungen der Gesundheitsräthe zu Anden und den Verhandlungen ein der¬
artiges Interesse zu verleihen, dass die Mitglieder kommen. Besonders sei
dies in den kleinen Städten und in den ländlichen Bezirken der Fall,
während in den grösseren Städten die Verhältnisse günstiger seien. In
Eisass-Lothringen sei desshalb die Wirksamkeit der Gesundheitsräthe in
den ländlichen Gemeinden eine viel geringere als in den grösseren Städten.
Insbesondere seien die Gesundheitsräthe zur Begutachtung in kleinen
Kreisen oder Bezirken desshalb wenig geeignet, weil es hier sehr häufig an
geeigneten Persönlichkeiten fehle. Eine verwaltende Thätigkeit stehe den
Gesundheitsräthen in Elsass-Lothringen nicht zu, nach dortigen Erfahrungen
dürften die in dieser Beziehung zu erzielenden Erfolge auch nur gering
sein, man sei dort froh, die Gesundheitsräthe zur Abgabe von Gutachten
zusammenzubringen, und es sei ihnen nicht zuzumuthen, ausser bei ganz
aussergewöhnlicben Gelegenheiten, auch noch eine verwaltende Thätigkeit
auszuüben. Fasse er seine Erfahrungen zusammen, so wolle es ihm er¬
scheinen, dass die Verfasser der Leitsätze dem Institut der Gesundheits¬
commissionen vielleicht etwas allzu optimistisch gegenüberstehen.
Profe 880 r Dr. Carl Frankel (Halle a. d. S.) kann sich den Hoff¬
nungen, die der Herr Referent für die Wirksamkeit der neuen Gesundheits¬
commission hege, nicht unbedingt anschliessen und zwar wesentlich auf
Grund der Erfahrungen, die man mit den alten „Sanitätscommissionen M
gemacht habe, von denen ja erwähnt worden sei, dass sie wie Veilchen in
tiefster Verborgenheit geblüht haben, und dass man sie in der Regel nur,
wenn einmal ein ausserordentliches Ereigniss eingetreten sei, namentlich
wenn eine fremde Seuche an die Thore der Stadt geklopft habe, wie Galla¬
kutschen aus dem Stall gezogen habe, um sie dann, nachdem das Gewitter
vorüber gewesen sei, alsbald ihrer früheren Vergessenheit anheimfallen zu
lassen. Charakteristisch sei ja in dieser Beziehung, dass bei den Verhand¬
lungen des preussischen Herrenhauses von einem der Redner erwähnt
worden sei, der Polizeipräsident von Berlin habe sich mit der Thätigkeit
der dortigen Sanitätscommission ausserordentlich zufrieden erklärt, und
dass später habe festgestellt werden können, dass diese Sanitätscommission
im Laufe der letzten drei Jahre überhaupt nicht zu einer einzigen Sitzung
zusammengetreten sei.
Gegen das gleiche Schicksal der neuen Gesundheitscommissionen schütze
allerdings eine Reihe von Sicherheitsmaassregeln, einmal die Thatsache*
dass der Kreisarzt jederzeit das Zusammentreten der Commission verlangen
könne, dann auch, dass sie sich jährlich zu vier Sitzungen vereinigen
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48 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
müsse. Damit scheine ihm aber doch noch nicht die genügende Gewähr
gegen alle die mannigfaltigen Factoren gegeben zu sein, die ihre Thätig-
keit lahm zu legen geeignet und vielleicht auch nur allzusehr geneigt seien.
Desshalb würde er es für eine sehr wünschenswerte Ergänzung der jetzigen
Dienstanweisung halten, wenn man von den Gesundheitscommissionen ver¬
langen würde, sie sollen jährlich einen Bericht über ihre Thätigkeit
an die Vorgesetzte Behörde erstatten. Nach dem Lobeshymnus, den
der Herr Gorreferent hier dem Segen der Staatsaufsicht gesungen habe, sei
wohl kein Zweifel, dass auqh er in diesem Vorschlag oder dieser Maass¬
regel einen Eingriff in die Selbstverwaltung nicht werde erblicken können.
Was die speciell von dem Herrn Gorreferenten ausgeführte Ver¬
teidigung der Selbstverwaltungsrechte betreffe, so wolle ihm scheinen, als
ob diese hier nicht vor einem ganz zuständigen Forum erfolgt sei, als ob
dieser Verein nicht die Stelle sei, die über solche Bedenken zu entscheiden
habe. Die Aufgabe des Vereins sei die „Pflege der öffentlichen Gesund¬
heit“ und nur nach diesem Gesichtspunkte habe er zu wirken und aich zu
fragen, auf welche Weise dies Ziel am ersten erreichbar sei, wie am
leichtesten und sichersten eine Förderung des öffentlichen Gesundheits¬
wesens bewirkt werden könne. Der Verein falle aus dem Rahmen der von
ihm stets geübten weisen Selbstbeschränkung heraus, wenn er dem Wege
folge, den der Herr Correferent betreten habe, indem er mit besonderer
Betonung die Gefahren geschildert habe, von denen die Selbstverwaltung
durch den Kreisarzt bedroht werde, ln der Discussion sei ja auch schon
von hervorragenden Verwaltungsbeamten erklärt worden, dass sie alle diese
Bedenken nicht als stichhaltig anzusehen vermöchten.
Trotzdem wolle er nun aber das neue Gesetz über die Gesundheits¬
commissionen keineswegs als ideal hinstellen. In der von dem Herrn Gor¬
referenten erwähnten „Maiconferenz“ habe die preussische Regierung den
grossen Fehler begangen, dass sie den von ihr vorgelegten Entwurf nicht
consequent und furchtlos weiter verfolgt habe und nach dem ersten Schuss,
der von conservativer Seite in der Gonferenz durch die Rede des Herrn
von Heydebrand abgegeben worden sei, die Flinte ins Korn geworfen
und die Vorlage nicht vor das Parlament gebracht habe. Hätte dieses sie
abgelehnt, so wäre das ganze Odium nicht auf die Regierung, sondern auf
die Kammer gefallen, und dass diese angesichts der Stimmung des Volkes
im Lande gar nicht den Muth einer Zurückweisung gehabt haben würde,
sei schon desshalb mehr als wahrscheinlich, als bei der neuen Vorlage, die
nun Gesetz geworden sei, dieselbe Körperschaft, das preussische Abgeordneten¬
haus, sogar eine ganze Reihe von sehr wesentlichen Verbesserungen gegen¬
über dem Regierungsentwurf eingebracht und durchgesetzt habe.
Der von dem Herrn Correferenten erhobene Vorwurf, dass das platte
Land im Gesetz eine andere Behandlung erfahren habe als die Städte, be¬
stehe zu Recht und sei sehr bedauerlich, denn anerkanntermaassen seien
die hygienischen Verhältnisse auf dem platten Lande häufig viel un¬
günstiger als in den Städten. Aber eins dürfe man nicht vergessen: wenn
in den grösseren und mittleren Städten sanitäre Missstände vorhanden
seien, so sei ihr Einfluss und ihre Bedeutung auch eine unendlich viel
höhere, als dies unter den beschränkten Verhältnissen auf dem Lande der
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen.
49
Fall sei. Wenn beispielsweise anf dem Lande ein verwahrloster, mangel¬
hafter Brunnen vielleicht zu einer Reihe von Typhuserkrankungen in seiner
unmittelbaren Umgebung Veranlassung gebe, so stehe das in keinem Ver¬
hältnis zu der ungeheueren Gefahr, die bestehe, wenn die Centralwasser¬
leitung einer Stadt in gleicher WeiBe vernachlässigt und verseucht sei, und
desshalb könne wohl kein Zweifel darüber bestehen, dass vom praktischen
Standpunkt es angängig und gerechtfertigt erscheine, zunächst einmal bei
der Hygiene der grösseren und mittleren Städte zu bleiben und hier noch
alle diejenigen Reste aufzuarbeiten, alle diejenigen Schäden zu beseitigen,
die einer Behandlung zugänglich seien.
Er wiederhole: an Bedenken habe das neue Gesetz wahrlich keinen
Mangel; aber wer es mit unbefangenen Augen ansehe, werde doch aner¬
kennen müssen, dass das neue preussische Gesetz, das den Kreisarzt und
die Gesundheitscommission einführe, auf dem Gebiet der öffentlichen Gesund¬
heitspflege einen ganz ausserordentlichen Fortschritt darstelle.
Da sich Niemand weiter zum Wort gemeldet hat, schliesst der Vor¬
sitzende die Discussion und es erhält das Schlusswort
Referent, Regierungs- und Geh. Medicinalrath Dr. Rapmund:
„Meine Herren! Ich werde mich kurz fassen und nur auf einige
Punkte zurückkommen, die von den Herren Vorrednern hier berührt sind.
„Zunächst freue ich mich, constatiren zu können, dass Sie die Noth-
wendigkeit der Ortsgesundheitscommissionen anerkennen und auch die Mit¬
wirkung der Gesundheitsbeamten in diesen Commissionen für erforderlich
und sehr zweckmässig erachten.
„Herrn Oberbürgermeister Fuss gegenüber möchte ich sodann bemerken,
dass ich weder verlangt noch empfohlen habe, die zur Zeit in Preussen
betreffs der Gesundheitscommissionen geltenden Vorschriften thunlichst in
allen anderen Bundesstaaten einzuführen; ich habe diese nur als nachahmens¬
wert bezeichnet und im Uebrigen die Notwendigkeit der Bildung ständiger
Ortsgesundheitscommissionen betont. Wie man das in den anderen Bundes¬
staaten einrichten will, mag diesen völlig überlassen bleiben; jedenfalls hat
es mir fern gelegen, zu fordern, dass in dieser Beziehung von hier aus ein
Einfluss oder Druck ausgeübt werden soll.
„Was weiter die Untercommissionen nach der vom Herrn Minister
gegebenen Geschäftsanweisung anbelangt, so ist meinerseits jedenfalls nicht
anzunehmen, dass alle ihre Mitglieder auch an den Sitzungen der
Hauptcommission theilnehmen sollen, sondern es wird, um das dringend
wünschenswerte einheitliche Verfahren zu sichern, genügen, wenn nur die
Vorsitzenden der Unteroommissionen der Gesammtcommission angehören;
denn sonst könnte aus dieser ein Parlament von 200 bis 300 Personen werden.
„Ebenso sollte es meinerseits nicht im Entferntesten ein Tadel für den
Verein und dessen Vorstand sein, wenn ich bei den Verhandlungen des
Vereins eine Berücksichtigung der Verhältnisse auch in den kleinen Städten
und auf dem platten Lande als zweckmässig bezeichnete, sondern nur ein
Wunsch, dessen Erfüllung nicht nur im Interesse der kleineren Städte liegt,
sondern auch im Interesse der grösseren.
Vierteljahrsschrift Ihr Gesundheitspflege, 1903. 4
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50 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
„ Betreffs der Aufgaben der Gesundheitscommissionen scheint mir ferner
die darüber in Preussen gegebene ministerielle Anweisung nicht richtig ver¬
standen zu sein. Man darf nicht vergessen, dass diese Anweisung sowohl
für die grossen Städte, wie für die kleineren Städte gegeben ist; demgemäss
mussten auch alle diejenigen Punkte berücksichtigt werden, die bei den
Besichtigungen der örtlichen Gesundheitscommissionen überhaupt in Frage
kommen können; ob aber alle diese Punkte bei den Besichtigungen jedes
Jahr berücksichtigt, bezw. sich die Besichtigungen stets auf sämmtliche
Punkte erstrecken können, das hängt selbstverständlich von den örtlichen
Verhältnissen ab.
„Meine Herren! Ich habe in meinen Ausführungen ausdrücklich
hervorgehoben, dass es sehr bedenklich ist, wenn sich die Gesundheits¬
commissionen bei ihrer Thätigkeit von allem Anfang an zersplittern
und viel zu viel mit einem Mal in Angriff nehmen. Gerade hier wird es
Sache des beamteten Arztes sein, dass er die Aufmerksamkeit der Gesund¬
heitscommissionen namentlich auf diejenigen Punkte richtet, die zuerst ver¬
besserungsbedürftig sind.
„Auch Herr Oberbürgermeister Schmidt hat mich, glaube ich, falsch
verstanden; denn ich habe in meinem Vortrage besonders betont, dass
meines Erachtens weniger der Mangel der Fühlung zwischen den früheren
Sanitätscommissionen und den Communalbehörden die Ursache ihrer mangel¬
haften Thätigkeit und ihres baldigen Einschlafens gewesen ist, sondern der
Mangel einer technischen Leitung und vor allen Dingen der Umstand, dass
die damaligen Sanitätscommissionen keine ständigen waren. Diese beiden
Hauptmängel sind jetzt in Preussen durch das Kreisarztgesetz und dessen
Ausführungsbestimmungen aufgehoben, und dadurch ist betreffs der Gesund¬
heitscommissionen ein grosser Fortschritt erzielt.
„Dass es auf dem platten Lande Gemeinden giebt, in denen ebenso wie
in einzelnen kleinen Städten die Bildung örtlicher Gesundheitscommissionen
schwer durchführbar und auch nicht unbedingt nothwendig ist, will ich
zugeben, obwohl ich in dieser Beziehung andere Erfahrungen gemacht habe;
aber, meine Herren, der Schwerpunkt ist meines Erachtens darauf zu legen,
dass der Aufsichtsbehörde unbedingt das Recht zustehen muss, örtliche
Gesundheitscommissionen in allen Gemeinden zu verlangen, wo sie es für
nöthig und möglich hält, und dass sie dazu nicht erst der Zustimmung des
Kreisausschusses bedarf.
„Betreffs der von mir als wünschenswerth bezeichneten Thätigkeit
der örtlichen Gesundheitscommissionen kann ich nur wiederholen, dass
erfahrungsgemä88 Derjenige, der ewig nur rathet, endlich auch einmal „mit-
thaten tt will. Dabei ist aber, wie ich Herrn Oberbürgermeister Massmann
gegenüber bemerken will, gar nicht daran gedacht worden, dass den Gesund¬
heitscommissionen auch irgend welche ausführenden Befugnisse eingeräumt
werden sollen. Derartige Commissionen aber, seinem Vorschläge gemäss,
nur von Fall zu Fall, z. B. bei grösseren Epidemieen, einzuberufen, ist
jedenfalls sehr unzweckmäasig; denn sie sind dann weder mit den ein¬
schlägigen Verhältnissen vertraut, noch wissen sie, was sie zu thnn und zu
lassen haben; sie kennen eben nicht den springenden Punkt, auf den es
ankommt, und leisten in Folge dessen wenig oder gar nichts, während eine
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Die örtlichen GesundheitscommiBBionen.
51
ständige Commission viel segensreicher wirken wird. Vom hygienischen
Standpunkte aus ist übrigens für die Gesundheitscommission eine ver¬
waltende Thätigkeit nicht unbedingt nothwendig; sie dient aber zweifellos
dazu, das Interesse der Mitglieder für alle gesundheitlichen Fragen wach
zu halten, und dieser Gesichtspunkt ist auch für einzelne Stadtverwaltungen,
z. B. in Breslau und Essen, Veranlassung gewesen, den städtischen Gesund¬
heitscommissionen eine solche Thätigkeit einzuräumen.
„Zum Schluss nur noch die Bemerkung, dass wir beiden Referenten
auf eine Abstimmung über die neu aufgestellten Leitsätze absolut keinen
Werth legen. Dieselben sollten nur als Grundlage für die Debatte dienen,
und dies haben sie auch in ausreichender Weise gethan. Eine Abstimmung
könnte uns nicht einmal erwünscht sein, und desshalb dürfen wir wohl auch
erwarten, dass nicht von anderer Seite ein derartiger Antrag gestellt wird. tt
Correferent, Stadtrath Dr. Jastrow:
„Meine Damen und Herren! Der Abstimmung über Thesen in wissen¬
schaftlichen Vereinen wird heute wohl schon ziemlich allgemein eine Bedeutung
nur dann beigelegt, wenn das Ergebniss Einstimmigkeit ist; denn sonst
hängt die Abstimmung von der zufällige]! Zusammensetzung einer Ver¬
sammlung ab. Betrachten Sie unter diesem Gesichtspunkt das Ergebniss
der Debatte, so hat in Bezug auf die dritte These Herr Oberbürgermeister
Fuss, anknüpfend an einen Satz aus meinem Referat, sich gegen die An¬
nahme verwahrt, weil diese These (gelinde ausgedrückt) wenigsagend ist,
diese müsste also fallen.
„Gehen Sie rückwärts schreitend zu These 2, so hat der Punkt a, dass
die Commission eine verwaltende sein soll, einen weitgehenden Wider¬
spruch gefunden, wobei es sich gezeigt hat, dass die These einer äusserst
verschiedenen Deutung fähig ist; sie scheidet also ebenfalls aus. Der
Widerspruch gegen die These 2 b ist von Herrn Bürgermeister Massmann
zwar zurückgenommen worden; er hat aber in der Motivirung so viel vor¬
gebracht für die Möglichkeit von Missverständnissen dieser These, dass es
am Ende wohl auch gerathener ist, sie fallen zu lassen.
„Meine Herren, wenn wir jetzt abstimmen wollten, so würde noch
übrig bleiben der Satz: „Für die Erfüllung der Aufgaben der öffentlichen
Gesundheitspflege ist die Einrichtung örtlicher Gesundheitscommissionen noth¬
wendig/ Ich nehme an, dass in der Versammlung Niemand ist, der diesem
Satz widerspricht, aber auch Niemand, der es für nöthig hält, ihn allein
zum Gegenstand einer Resolution zu machen.
„Ich schliesse mich daher der Ansicht des Herrn Referenten, dass eine
Abstimmung über die Thesen nicht erfolge, an. Ja, ich möchte noch ein
wenig darüber hinausgehen. Wir verzichten nicht bloss auf die Abstimmung,
sondern da ein Antrag auf Abstimmung bis zum Beginn der Schlussreferate
nicht gestellt ist, so nehme ich an, dass nach hergebrachter Geschäfts¬
ordnung eine Abstimmung gar nicht erfolgen kann, und wir, die Referenten,
können damit, dass die Thesen die Unterlage der Debatte gebildet haben,
vollständig zufrieden sein.
„Was die sonstigen Ausführungen in der Debatte betrifft, so hatte ich
geglaubt, dass ich durch die sehr zugespitzte Art, in der ich einem Miss-
4*
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52 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
verst&ndniss in Bezug auf den Gonflictsfall Vorbeugen wollte, dem auch
wirklich vorgebeugt hätte. Leider habe ich mich in dieser Hoffnung ge¬
täuscht. Ich möchte also bemerken, dass, wenn in der Debatte gesagt worden
ist, es sei kein Anlass zu der Befürchtung auf Gonflictsstoff, auch ich
dieser Ansicht bin und dies so deutlich wie möglich zum Ausdruck gebracht
habe; dass die Frage, ob mit der Einberufungsbefugniss ein Gonflicts¬
stoff gegeben ist, für die Regel und für den Normalfall zu verneinen ist;
dass es eine durchaus fernliegende Besorgniss ist. Aber hiervon voll¬
ständig verschieden ist ja die Frage, ob man dieser Gommission weitere
Befugnisse übertragen soll, wenn man genau denselben Zweck ohne die
formelle Uebertragung erreichen kann. Ich habe dies auch nur als ein
Moment angeführt, das die Städte veranlassen .sollte, zwischen den staat¬
lichen, und den communalen Befugnissen zu scheiden, und Vermengungen,
die zur* Verdunkelung des Rechtszustandes führen, vorzubeugen. Ich möchte
daher namentlich diejenigen Anwesenden, die die Absicht haben, über
diese Versammlung zu berichten, doch dringend bitten, mir nicht etwa die
Worte in den Mund zu legen, ich hätte gesagt: hier sei Gonflictsstoff und
Ghicane zu befürchten, sondern ich habe im Gegentheil gesagt: Gonflictsstoff
und Furcht vor Ghicanen sind durchaus fernliegend. Aber wenn in einer
vom Staate angeordneten Gommission einem nicht aus den Wahlen der
Bürgerschaft hervorgegangenen Staatsbeamten irgend welche noch so un¬
bedeutende Befugnisse gegeben sind, so besteht, mag die Furcht vor Gon-
flicten noch so fernliegend sein, für die Städte kein Anlass, rein communale
Befugnisse dieser Gommission zu übertragen, wo wir die Möglichkeit haben,
sie mit genau denselben Mitgliedern ohne den Staatsbeamten zu construiren.
Ja, ich glaube den Nachweis geführt zu haben, dass die Gemeinden staats¬
rechtlich gar nicht befugt sind, dieser Gommission Aufträge zu ertheilen,
sondern dass ihnen, wenn sie die Personalunion haben wollen, auch gesetz¬
lich nur der Weg offen steht, in jedem einzelnen Falle in ihre communale
Gesundheitsdeputation dieselben Mitglieder hineinzudeputiren, wie in die
vom Staate eingesetzte Gesundheitscommission (allenfalls im Wege eines
Ortsstatuts wäre ein anderer Weg möglich, nach dem sich zu sehnen aber
gar kein Anlass vorliegt).
„Uebrigens habe ich einen grossen Theil der einschlägigen Be¬
merkungen gemacht in Bezug auf die verschiedene Behandlung von Stadt
und Land: In der Stadt ist gesagt worden, der Kreisarzt hat das Recht,
während auf dem Lande ihm gesagt wird, dass er sich nicht blicken lassen
darf, ausser wenn er gerufen wird. Die Städte sollen in solchen Dingen
eine gewisse Empfindlichkeit haben und auch zeigen.
„Ein principiell entgegengesetzter Standpunkt zu dem meinigen ist
nur von einem Redner in der Debatte wahrgenommen worden. Herr Prof.
Fränkel steht auf dem Standpunkt, dass für das Verhältnis der Hygiene
zur Selbstverwaltung (es war dies so ziemlich der ganze Inhalt meines
Gorreferats) der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege nicht das
zuständige Forum zur Entscheidung sei. Meine Herren, das ist zweifellos
richtig; denn der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege besitzt
überhaupt keine Zuständigkeit für Entscheidungen. Er hat nichts zu ent¬
scheiden, und in Folge dessen hat er auch hierin nicht zu entscheiden.
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Die örtlichen Gesundheitscommissionen.
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Was aber die Frage betrifft, ob der Deutsche Verein für öffentliche Gesund¬
heitspflege das zuständige Forum sei, vor dem das Verhältnis der Hygiene
zur Selbstverwaltung zur Sprache zu bringen ist, so hat über diese
Frage nicht Herr Prof. Frankel zu entscheiden, und auch nicht ich, sondern
ausschliesslich Derjenige, dem die Handhabung der Geschäftsordnung über¬
tragen ist, nämlich unser verehrter Herr Vorsitzender; und wenn ich hier
etwas gesprochen hätte, was nicht in den Verein hineingehört, so würde der
Herr Vorsitzende mich rectificirt haben.
„Ich bin aber auch sachlich in Bezug auf diese Frage entgegengesetzter
Ansicht wie Herr Prof. Fränkel, und ich gebe die Hoffnung nicht auf,
dass wir uns über diesen Punkt verständigen.
„Herr Prof. Fränkel geht von der medicinischen Seite der Hygiene
aus, und von diesem Standpunkt aus ist es vollkommen erklärlich, dass er
zunächst einmal sich an die medicinische Seite hält.
„Nun hat aber die heutige öffentliche Gesundheitspflege als Wissen¬
schaft nicht einen Ursprung, sondern sie hat zweierlei Ursprung, und
sie ist ebenso wie auf der einen Seite von der Medicin aus, bo auf der
anderen Seite auch von der Verwaltungswissenschaft, der Staatswissenschaft,
der Nationalökonomie aus angebaut worden. Ebenso wie die Mediciner an
sich das Recht haben, unaufhörlich die medicinische Seite zu betonen,
so müssen wir, von der Nationalökonomie ausgehend, auch das Verhältnis
zu allgemein Staatswissenschaftlichen Fragen betonen. Das Eine gehört
ebenso in die „öffentliche Gesundheitspflege“ wie das Andere.
„Unser Verein aber wird sich auf den Standpunkt stellen, dass nicht
die eine und nicht die andere, sondern dass alle Seiten der öffentlichen
Gesundheitspflege vor sein Forum gehören. Denn der Fortschritt der
Wissenschaft kann nur dadurch gedeihen, dass diese Fragen sowohl nach
ihrer medicinischen als nach ihrer verwaltungsrechtlichen Seite erörtert
werden. Ich bin überzeugt, namentlich nach früheren Ausführungen, die wir
von Herrn Prof. Fränkel gehört haben, dass wir uns über diesen Punkt
in kurzer Zeit vollständig verständigen werden.
„Im Einzelnen hat die Debatte auch uns Referenten manche neue Be¬
lehrung gebracht. Dies gilt unter Anderem auch von den Ausführungen
über die Verhältnisse der mecklenburgischen Selbstverwaltung, die für die
meisten von uns ganz neu waren.
„Eine Uebereinstimmung, die des Siegels einer Abstimmung nicht be¬
durfte, herrschte darüber, dass wir mit der Einrichtung von örtlichen
Gesundheitscommissionen an sich einen Anstoss gegeben sehen, der ganz
sicher für unser Vaterland von der segensreichsten Wirkung sein wird.“
Pause 12 s /4 bis l 1 /* Uhr.
Nach Wiedereröffnung der Sitzung gelangt der zweite Gegenstand der
Tagesordnung zur Verhandlung:
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54 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Hygiene der Molkereiproducte.
Es lauten die von dem Referenten, Geh. Medicinalrath Prof.
Dr. Löffler (Greifswald) aufgestellten
Schlusssätze:
1. Vom hygienischen Standpunkte aus ist zu verlangen, dass die Molkerei¬
producte, wenn sie in die Hand des Consumenten gelangen, von normaler
Beschaffenheit sind, keine conservirenden Zusätze enthalten und vor Allem
frei sind von gesundheitsschädlichen (giftigen und ansteckenden) Stoffen.
2. Die normale Beschaffenheit kann leicht ermittelt werden durch Prüfung
der sinnfälligen Eigenschaften (Aussehen, Geruch, Geschmack), durch Fest¬
stellung des Gehaltes an normalen Bestandteilen, an fremden Bestand¬
teilen (Milchschmutz) sowie von conservirenden Zusätzen und durch die
Ermittelung des Zersetzungsgrades (Bestimmung des Grades der Säuerung
durch Titrirung oder Alkoholprobe). Praktisch nicht durchführbar ist die
Prüfung auf giftige Stoffe (herrührend von giftigen Kräutern im Futter
der Kühe, von Medicamenten, welche den Kühen verabreicht waren, von
der Lebenstätigkeit niederer Organismen) und die Prüfung auf pathogene
Keime. Letztere sind zum Theil unbekannt (Maul- und Klauenseuche,
Scharlach), zum Theil sehr schwierig nachweisbar in Bacteriengemengen
(Typhus). Leicht nachweisbar ist nur der Erreger der Perlsucht, dessen
pathogene Bedeutung für den Menschen durch die neuesten Forschungen
Koch’s in Frage gestellt ist.
3. a) Eine Ueberwachung der gesammten Production und des Verkaufes der
Molkereiproducte ist zur Zeit unmöglich, weil die Production in einer
ausserordentlich grossen Zahl von Kleinbetrieben erfolgt, welche vielfach
direct an die Consumenten liefern, ohne die Producte auf den Markt zu
bringen oder in Verkaufsstellen feil zu halten. Da gerade in den Klein¬
betrieben häufig die nothwendige Sorgfalt und Reinlichkeit bei der
Gewinnung und Zubereitung vermisst wird, und da bei den überaus
häufig noch anzutreffenden mangelhaften hygienischen Zuständen auf
dem Lande (schlechte Brunnen) die Gefahr einer Inficirung der Molkerei¬
producte mit menschlichen Infectionsstoffen eine nicht geringe ist, so
wäre eine Ueberwachung sämmtlicher Productionsstellen, welche Molkerei¬
producte in den Verkehr bringen, anzustreben,
b) Die besten Garantieen für eine den Anforderungen unter 1. entsprechende
Beschaffenheit der Molkereiproducte bieten die Genossenschafts-
Molkereien. In ihrem eigenen Interesse liegt es, dass folgende An¬
forderungen erfüllt werden:
«) dass ein gesundes Personal vorhanden ist;
ß ) dass ein gutes, vor jeder Infection geschütztes Wasser für den Betrieb
zur Verfügung steht;
y) dass die Milch von gesunden Thieren reinlich gewonnen und reinlich
verarbeitet wird;
d) dass die Milch von dem in ihr enthaltenen Schmutze befreit wird;
e) dass die ein leichtes Verderben bewirkenden Saprophyten und auch
die pathogenen Keime durch Erhitzen auf 85° C. vernichtet werden
(damit gut haltbare Producte erzielt werden und damit nicht etwa
durch die zurückgelieferte Magermilch auf die Viehbestände der
Genossen Krankheiten übertragen werden wie Maul- und Klauen¬
seuche und Tuberculose);
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55
Hygiene der Molkereiproducte.
C) dass die Milch nach dem Pasteurisiren gut abgekühlt wird, damit sie
unzersetzt bis zum Verkaufe conservirt werde. Mit der Herstellung
der Casse’sehen Eismilch ist ohne Zweifel ein grosser Fortschritt
angebahnt.
Durch eine Controlirung einer Durchschnittsprobe aus einer Molkerei
wird das Melkproduct zahlreicher Producenten controlirt, die Controle
daher sehr vereinfacht.
Durch die Einrichtung besonderer, unter dauernder ärztlicher und
thierärztlicher Controle stehender Anstalten zur Herstellung von Kinder¬
milch wird naturgemäss eine weitgehende Garantie geboten für eine un¬
schädliche und gute Beschaffenheit der Milch,
c) Die Verkaufsstellen von Molkereiproducten sind einer regelmässigen Con¬
trole zu unterziehen bezüglich des Personals, der Beschaffenheit der
Räume und der Producte.
4. Die Herstellung einer absolut keimfreien Milch wäre vom hygienischen
Standpunkte aus zu befürworten, wenn nicht durch eine, eine vollständige
Keimfreiheit verbürgende Sterilisirung die Beschaffenheit der Milch ver¬
ändert würde.
5. Für die Consumenten empfiehlt es sich, um sich gegen jede Infections-
gefahr zu schützen, und um eine schädliche Zersetzung der Milch im Haus¬
halte zu verhüten, die Milch unmittelbar nach dem Ankauf abzukocheu
oder doch wenigstens eine halbe Stunde auf 85° C. zu erhitzen, sie dann in
demselben Gefässe abzukühlen und kühl bis zum Gebrauche aufzubewahren.
Referent, Geh. Medicinalrath Professor Dr. Löffler (Greifswald):
„Meine Herren! Als ich mich bereit erklärte, auf die freundliche Auf¬
forderung unseres Vorstandes das Thema: Hygiene der Molkereiproducte,
vor Dinen zu erörtern, da war ich mir der Schwierigkeit der Aufgabe wohl
bewusst. Das Thema berührt eine Reihe der vitalsten Interessen ver¬
schiedener Erwerbszweige. Es ist daher sehr wohl möglich, dass man bei
der Erörterung die einen oder die anderen nach irgend einer Richtung hin
verletzt. Indessen der Hygieniker darf sich durch derartige Erwägungen
nicht beeinflussen lassen. Seine Aufgabe ist es, die der Gesundheit nach¬
theiligen Momente herauszufinden und aufzudecken, damit Abhülfe ge¬
schaffen wird.
„Die Molkereiproducte Milch, Butter, Käse, Buttermilch und Molken
liefern die nothwendigen Nahrungsstoffe, Eiweisskörper, Kohlehydrate, Fette
und Salze in bestverdaulicher Form. Sie spielen daher in der Ernährung
des Volkes und ganz besonders in der Ernährung der heranwach senden
Generation eine ganz hervorragende Rolle. Selbstverständlich ist daher die
Forderung der Hygiene, dass diese wichtigen Nahrungsmittel in normaler
Zusammensetzung und frei von allen Schädlichkeiten den Consumenten dar¬
geboten werden. Milch ist nun aber wie Blut ein ganz besonderer Saft.
Sie ist wohl ein ausgezeichnetes Nahrungsmittel, aber sie wird auch durch
die allerverschiedenartigsten Einflüsse leicht verändert und häufig sogar
direct gesundheitsschädlich gemacht.
„Von ganz besonderer Wichtigkeit ist es, dass in neuerer Zeit sich in
dem Milch verkehr, in dem Handel mit Molkereiproducten ein bedeutungs¬
voller Umschwung vollzogen hat. Es ist allmählich dahin gekommen, dass
die einzelnen Producenten nicht mehr direct an die Consumenten liefern,
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56 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
sondern dass grosse Massen von Milch von zahlreichen Prodnctionsstellen
nach bestimmten Sammelplätzen hin zusammenfliessen und von diesen aus
in den Verkehr gelangen. Dadurch ist wohl eine gleichmässigere, bessere
Qualität des Productes garantirt; andererseits aber sind, wie die Erfahrung
gelehrt hat, und wie ich noch näher nachweisen werde, eine ganze Reihe
von recht schwerwiegenden Bedenken entstanden. Namentlich ist die
Gefahr der Ausbreitung von Infectionen durch diese Sammelmolkereien ganz
ausserordentlich erhöht worden, da nunmehr durch die inficirte Milch eines
Genossen die ganze Masse der in der Molkerei zusammengeströmten Milch,
welche sich nachher auf eine grosse Zahl von Menschen vertheilt, inficirt
wird. Die Molkereien können somit unter Umständen zu gefährlichen
Epidemieen Veranlassung geben.
„Wir wollen nun, meine Herren, die verschiedenen schädlichen Ver¬
änderungen, welche die Milch erfahren kann, einer näheren Betrachtung
unterziehen. Häufig enthält die Milch, wie sie von der Kuh geliefert wird,
schon selbst, ohne dass etwas Fremdes in sie hineingelangt, bedenkliche oder
sogar giftige Stoffe. Die Milch ist ein Secretionsproduct der Milchdrüsen
der Kuh. In dieses Product gehen, wie wir aus Erfahrung wissen, eine
ganze Reihe von Stoffen hinein, welche von den Thieren mit der Nahrung
auf genommen werden. Die Thiere werden mit den verschiedenartigsten
Futterstoffen ernährt. Unter diesen sind manche, welche eigentümliche,
bedenkliche, giftige Stoffe enthalten, welche das Thier wenig oder gar nicht
beeinflussen, welche aber nachher der Milch giftige Eigenschaften verleihen.
Die Bedeutung dieser aus dem Futter herrührenden Stoffe in der Milch ist
von den verschiedenen Beurtheilern verschieden hoch eingeschätzt worden.
Von den einen werden dieselben als ganz besonders wichtig bezeichnet, und
als die hauptsächlichste Ursache der Magendarmkatarrhe und der Brech¬
durchfälle der Kinder, ja der hohen Säuglingssterblichkeit im Sommer über¬
haupt angesehen, von anderen dagegen als nahezu bedeutungslos erachtet.
Unter Denjenigen, welche diesen „Futtergiften“ eine hervorragende Be¬
deutung beigelegt haben, ist besonders Dr. Sonnenberger in Worms zu
nennen, welcher auf verschiedenen Versammlungen — so z. B. auf der Natur¬
forscherversammlung in München im Jahre 1899 — auf dieselben als
ursächliches Moment toxischer Verdauungsstörungen hingewiesen hat. Dann
hat Prof. Braungart in München auf die Schädlichkeit gewisser giftiger
Futterpflanzen hingewiesen, deren häufigeres Vorkommen in den natürlichen
und künstlichen Futterfeldern an gewisse Bodenverhältnisse geknüpft sei.
Als primäre Ursache der grossen Kindersterblichkeit in Bayern, soweit sie
durch tödtliche Verdauungsstörungen bedingt sei, erachtet er die Vergiftung
der Säuglingsnahrung durch ein bestimmtes Alkaloid, nämlich durch das aus
der Herbstzeitlose, dem Colchicum autumnale, herstammende Colchicin,
welches von den Kühen mit der Milch ausgeschieden wird und welches ja,
wie bekannt ist, schon in kleinsten Dosen besonders für Säuglinge ein
äusserst gefährliches Gift darstellt. Das Colchicum gedeihe besonders auf
kalkreichen Böden, und in den kalkreichen Bezirken finde sich auch die
grösste Kindersterblichkeit. Diese Behauptung Braun gart’s ist dann
vom Obermedicinalrath Hauser in Karlsruhe für Baden nachgeprüft worden.
„Diese Untersuchungen sind ausserordentlich interessant. Hauser hat
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Hygiene der Molkereiproducte.
dag Vorkommen des Colchicum8 in Baden näher verfolgt; und da hat
sich denn herausgestellt, dass ein solcher genauer Parallelismus zwischen
Kalkboden und Kindersterblichkeit, wie ihn Braungart für Bayern
erwiesen zu haben glaubt, in Baden nicht besteht. Immerhin aber hat sich
gezeigt, dass viele Ortschaften, welche auf Kalkboden liegen, eine auffallend
hohe Kindersterblichkeit aufweisen. Hauser ist indessen durchaus nicht
geneigt, der von Braungart ausgesprochenen Ansicht, dass das Colchicum
aUein die Ursache sei, beizustimmen und zwar aus verschiedenen Gründen,
einmal weil die Milchthiere auf der Weide die gifthaltigen Bestandteile der
Herbstzeitlose, Blätter und Samenkapseln nicht fressen, dann, weil die Haupt¬
zeit, in welcher die Kinderdiarrhoeen auf treten, zeitlich nicht zusammen¬
fällt mit der Hauptzeit, in welcher Enterokatarrhe unter den Kühen und
Kälbern beobachtet werden, und ganz besonders, weil im Januar bis April,
in welcher Zeit das colchicumhaltige Heu gefüttert wird, Sterbefälle der
Kinder an Darmkatarrhen im Gegenteil selten sind. Er hält es aber
durchaus für möglich, dass noch eine Menge anderer Giftpflanzen im Grün¬
futter vorhanden sein können, deren Gift die Milch schädlich zu machen im
Stande wäre. Hauser hat mehrere Beobachtungen mitgetheilt, welche auf
die Bedeutung des Untergrundes, auf welchem die Futterkräuter der Kühe
wachsen, ein besonderes Licht werfen. So hat er constatirt, dass im Amts¬
bezirk Villingen in der zweiten Hälfte des Jahres 1898 in den auf der reinen
Juraformation liegenden Gemeinden mit 1565 Einwohnern an Verdauungs¬
störungen starben 23 Kinder. Dagegen starb in den auf der Buntsandstein¬
formation gelegenen Gemeinden desselben Bezirks mit 1095 Einwohnern in
der gleichen Zeit nur ein Kind an Verdauungsstörungen. Dann liegen eine
Anzahl Gemeinden auf Urgestein, Gneis und Granit, ebenfalls mit 1095 Ein¬
wohnern. In diesen sind nur zwei Kinder gestorben. Sie sehen also: auf den
verschiedenen Böden tritt eine ganz auffällige Differenz hervor. Auch für das
folgende Jahr 1899 haben sich diese Vergleichsreihen ähnlich gestaltet. Es
starben da an Verdauungsstörungen in dem ersten Bezirk auf Kalkboden neun,
in dem zweiten Bezirk zwei und in dem dritten Bezirk ein Kind. Hauser ist
desshalb der Ansicht, dass in der That die Futterkräuter wohl einen Einfluss
haben können auf die Beschaffenheit der Milch, wenngleich die schädliche
Pflanze nicht die Herbstzeitlose ist, wie von Prof. Braungart ange¬
nommen worden ist. Vermuthlich sind es eine ganze Reihe andere Gift¬
pflanzen, wie Hahnenfuss, Dotterblumen u. s. w., welche massenhaft auf den
sumpfigen Wiesen der Juraformation Vorkommen, und welche vom Milch¬
vieh unterschiedslos gefressen werden, ohne diesem besonders zu schaden,
und deren Stoffe dann in die Milch übergehen. Diese wichtigen Mitthei¬
lungen Hauser 1 8 datiren aus dem April dieses Jahres; sie müssen natürlicher
Weise noch weiter verfolgt werden. Wenn derartige Untersuchungen an
den verschiedenen Orten angestellt werden, dann werden sie vielleicht zu
wichtigen Ergebnissen führen. Bis jetzt können wir, wie auch Hauser
betont, ganz positive Schlüsse aus dem bisher vorliegenden Materiale noch
nicht ziehen. Es ist vorerst nöthig, dass die Chemiker sich mit dem Nach¬
weis dieser Körper in der Milch von Thieren beschäftigen, welche mit der¬
artigen giftigen Futterpflanzen gefüttert sind, und erst, wenn der Ueber-
gang der Giftstoffe in die Milch nachgewiesen ist, und wenn weiter nach-
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58 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
gewiesen ist, dass derartige Milch bei Kindern Krankheitserscheinungen,
namentlich Darmkatarrhe erzeugt, dann erst werden wir' berechtigt sein, aus
diesen Untersuchungen weitere praktische Consequenzen zu ziehen.
„Ich möchte an dieser Stelle Ihre Aufmerksamkeit noch auf einige
Untersuchungen lenken, welche die als Futtermittel ja häufig verwendete
Kartoffel betreffen. Man weiss, dass häufig in den Kartoffeln ein Stoff vor¬
kommt, welcher im Stande ist, erhebliche D&rmaffectionen bei Kindern her¬
vorzurufen. Es ist dies das Solanin. Bezüglich der Entstehung des Solanins
in der Kartoffel, von dem man früher annahm, dass es bei dem Keimprocess
entstehe, haben Untersuchungen, welche in dem Institut von Förster in
Strassburg von Weil angestellt worden sind, zu einem merkwürdigen
Ergebniss geführt. Weil fand, dass graue, schwärzliche Stellen an der
Kartoffel besonders reich an Solanin waren. Er untersuchte diese Stellen
bacteriologisch und fand an denselben reichliche Mengen von Bacterien
in der Kartoffelsubstanz. Er legte Reinculturen davon an und übertrug
diese in Kartoffelbrühe. Es gelang ihm dann, in einigen dieser Kartoffel-
brüheculturen Solanin nachzuweisen. Er ist daher der Ansicht, dass das
Solanin in den Kartoffeln durch die Einwirkung bestimmter Bacterien — er
hat zwei Solaninbildner gefunden, von denen er den einen des nach Gram
sich färbenden Bacterium solaniferum colorabile für den hauptsächlichsten
hält — hervorgerufen wird und nicht durch den Keimprocess. Sobald die
Frage der Solaninbildung definitiv im Sinne Weil’s entschieden ist, werden
wir unser Augenmerk darauf zu richten haben, ob nicht eventuell durch
das Füttern solcher verdorbener oder angegangener Kartoffeln das Solanin
in die Milch gelangen kann, und ob dann nicht durch diese Milch bei den
Kindern empfindliche Verdauungsstörungen hervorgerufen werden können.
„Dass man übrigens schon lange bei verschiedenen Futtermitteln den
Verdacht gehabt hat, sie könnten die Milch schädlich beeinflussen, beweisen
die diesbezüglichen Verordnungen, welche erlassen worden sind, um aus der
sogenannten Kindermilch, einer Milch, welche besonders für Säuglinge be¬
stimmt ist, alle solche Schädlichkeiten fernzuhalten. In der Verordnung
vom 27. Mai 1899, welche für Preussen erlassen ist, finden wir bereits
angegeben, dass Kühe, deren Milch als „Kindermilch tf verkauft werden soll»
mit einer ganzen Reihe von Stoffen nicht gefüttert werden dürfen. Ana¬
loge Bestimmungen sind dann auch in die entsprechenden polizeilichen Vor¬
schriften verschiedener Grossstädte übergegangen, z. B. von Berlin, Dresden
und München. Unter der grossen Zahl von Futtermitteln, deren Verwen¬
dung bei den für die Erzeugung von „ Kindermilch tf dienenden Kühen unter¬
sagt wird, finden sich auch bereits rohe Kartoffeln und Kartoffelabfälle.
Mit derartigen Verordnungen wird zwar Manches, aber doch noch nicht
allzu viel erreicht. Es ist ja ausserordentlich lobenswerth, dass man die
präsumptiven Schädigungen der Kinder durch schädliche „Kindermilch tf
auf diese Weise zu verhüten sucht. Indessen die als Kindermilch verkaufte
und von einzelnen für diesen Zweck eingerichteten Anstalten producirte
Milch ist doch nur ein geringer Bruchtheil derjenigen Milch, welche von
der Hauptmasse der Kinder genossen wird. Diese sogenannte Kinder¬
milch , auf deren Herstellung eine besondere Sorgfalt verwendet wird,
und welche unter besonderen behördlich überwachten Cautelen erzeugt wird,
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Hygiene der Molkereiproducte.
kommt nur einem kleinen Theile der Kinderwelt, nur den Kindern der Wohl¬
habenderen meist zu Gate, weil der Preis ein höherer ist wie der der gewöhn¬
lichen Milch, welche nicht mit derartigen Yorsichtsmaassregeln gewonnen
wird. Nach den Untersuchungen von Praussnitz, welche derselbe auf der
▼origen Versammlung unseres Vereins zum Vortrag gebracht hat, ist die
Säuglingssterblichkeit eine besonders hohe in der armen Bevölkerung, und
eine verschwindend geringe unter den Reichen. Wenn also die weiteren
Untersuchungen es als richtig erweisen sollten, dass ganz bestimmt durch
gewisse Stoffe, welche mit dem Futter von den Kühen auf genommen werden,
giftige Stoffe häufig in die Milch hineingelangen, so müssen die Vorschriften
allgemeinerer Natur sein und dürfen nicht nur die von den Wohlhabenderen
gekaufte Milch betreffen. Es muss dann darauf hingewirkt werden, dass
alle Kühe, welche zur Milchproduction dienen und deren Milch als Vollmilch
in den Handel gebracht wird, ebenso gefüttert werden, wie es für die
Kindermilchanstalten gesetzlich vorgeschrieben worden ist. Ob dies zu er¬
reichen sein wird, ist freilich fraglich, da die Landwirthe es vermuthlich
als einen Eingriff in ihre persönlichen Rechte ansehen werden, wenn sie
ihre Kühe nicht so füttern können, wie es ihnen beliebt, bezw. wie es die
ihnen zu Gebote stehenden Futtermittel am zweckmässigsten erscheinen
lassen. Ein anderer Weg, diese aus den Futterstoffen der Milch her¬
rührenden Schädlichkeiten möglichst zu vermindern, wäre jedoch nicht
gangbar, da die fraglichen Giftstoffe, wenn sie einmal in die Milch gelangt
sind, durch eine Behandlung derselben, wie z. B. durch Erhitzen, sich nicht
entfernen lassen.
„Bekanntlich gehen auch medicamentöse Stoffe verschiedener Art,
welche den Thieren dargereicht werden, in die Milch über. Es besteht
desshalb das Verbot, Milch von medicamentös behandelten Kühen in den
Bändel zu bringen. Eine Gewähr dafür, dass dies nicht trotzdem geschieht,
ist damit natürlich noch keineswegs gegeben. Wenn Thierärzte bei
Krankheiten der Kühe hinzugezogen worden sind, dann werden diese ge¬
wiss dafür sorgen, dass Milch von Kühen, welche mit differenten Arznei-
stoffen behandelt worden sind, nicht in den Handel gebracht wird. Im
Uebrigen aber hängt dies ganz von dem guten Willen und dem mehr oder
weniger weiten Gewissen des betreffenden Besitzers ab. Wenn es vorkommt,
und wenn in die Milch übergegangene Arzneistoffe eine schädliche Wirkung
auf die Consumenten äussem sollten, dann wird doch fast nie der Nach¬
weis so geführt werden können, dass der Schuldige zur Verantwortung ge¬
zogen werden könnte.
„Eine besondere Bedeutung beansprucht nun weiter der Uebergang
der Erreger bestimmter Infectionskrankheiten der Milch-
thiere in die Milch und deren eventuelle Uebertragung auf
den Menschen. In Betracht kommen hier hauptsächlich Maul- und
Klauenseuche, Mastitis, infectiöse Enteritis und Perlsucht. Dass Maul¬
und Klauenseuche durch Milch übertragen werden kann, steht ja wissen¬
schaftlich unzweifelhaft fest. Indessen scheint die Gefahr für den Menschen
nur eine relativ geringe zu sein. Bei der enormen Ausbreitung, welche
die Maul- und Klauenseuche im Deutschen Reiche während der letzten
Jahre genommen hatte, hätten Uebertragungen auf den Menschen häufig
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60 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
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beobachtet werden müssen, wenn der Mensch nicht nahezu unempfänglich
wäre für diesen Ansteckungsstoff. Dass dem so ist, ergiebt sich aus folgen¬
der Ueberlegung. In einer nicht geringen Zahl von Fällen ist die Krankheit
durch die Sammelmolkereien weiter verbreitet worden. Die Kühe eines Ge¬
nossen sind von der Krankheit ergriffen worden, und mehrfach ist tagelang die
Milch der kranken Thiere an die Molkerei geliefert worden, bevor die Krank¬
heit als solche erkannt worden ist. Durch die aus der Molkerei an die Ge¬
nossen zurückgelieferte Magermilch sind dann die Keime auf die Kälber und
Schweine der übrigen Genossen übertragen worden, weil eine prophylaktische
Abtödtung derselben durch Erwärmen nicht stattgefunden hatte. Zu gleicher
Zeit ist natürlich auch Milch an zahlreiche Consumenten abgegeben worden,
ohne dass dieselbe vorher durch Erhitzen unschädlich gemacht wäre. Man
hätte daher erwarten können, dass nun auch zahlreiche Menschen von der
Krankheit ergriffen worden wären in Folge des Genusses der ungekochten
inflcirten Milch. Derartige Vorkommnisse sind jedoch, so viel mir bekannt,
nur sehr selten beobachtet worden. Nach den gesetzlichen Vorschriften darf
Milch von maul- und klauenseuchekranken Thieren nur im gekochten Zu¬
stande abgegeben werden. Die Maul- und Klauenseuche ist mit die Ursache
gewesen, dass in zahlreichen Molkereien Apparate beschafft sind, mittelst
welcher die Milch vor der Abgabe erhitzt werden kann. Nach den von mir
in Gemeinschaft mit Stabsarzt Uhlenhuth angestellten Untersuchungen
genügt es, die Milch bis auf 85° zu erwärmen, um die Erreger der Maul¬
und Klauenseuche mit Sicherheit abzutödten. Es liegt hauptsächlich im
Interesse der Milchproducenten, wenn in einem Kreise die Maul- und
Klauenseuche auftritt, alle dort an Sammelmolkereien gelieferte Milch auf
die genannte Temperatur zu erwärmen, um ihre milchliefernden Rind¬
viehbestände vor der Infection von dieser Seite her zu schützen. In einer
ganzen Reihe von Fällen ist die Nichtbefolgung des gesetzlich vorge¬
schriebenen Abkochens der Milch maul- und klauenseuchekranker Thiere
gerichtlich geahndet worden. In fast allen Erkenntnissen ist die Gesund¬
heitsschädlichkeit solcher Milch für den Menschen mit in Betracht gezogen
worden. Nach den allgemeinen Erfahrungen liegt aber der Nutzen der
gesetzlichen Vorschrift des Abkochens mehr nach der thierärztlichen als nach
der ärztlichen Seite hin.
„Durch Milch von Kühen, welche an Mastitis erkrankt sind, sind mehr¬
fach bei Menschen Krankheitserscheinungen hervorgerufen worden. In der
Festschrift für Heiberg berichtet Axel Holst über mehrere derartige Fälle.
Die Milch enthielt zahlreiche Kettencoccen, welche auch in den Dejecten der
Kranken nachgewiesen werden konnten. Auf das häufige Vorkommen der
Kettencoccen in der Milch haben auch Escherich, Romme, Beck, Lydia
Rabinowitsch, Eastes und Andere hingewiesen. Es ist daher nicht un¬
wahrscheinlich, dass durch derartige Milch häufiger Erkrankungserschei¬
nungen, Darmkatarrhe, erzeugt werden, als man bisher geglaubt hat. Die
von Axel Holst mitgetheilten Beobachtungen sind nach einer anderen Rich¬
tung hin sehr beachtenswert!). Die Milch der Kühe, welche in den vier von
ihm beobachteten Fällen an Mastitis erkrankt waren, sollte nicht für den
Consum abgegeben werden; sie wurde auch eine Zeit lang nicht abgegeben.
Zufälliger Weise aber trat ein Wechsel des St all person als ein, und die neuen
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Hygiene der Molkereiproducte.
Stallleate setzten versehentlich die Milch der nicht mehr schwer kranken
Thiere dem übrigen Milchquantum zu und inficirten somit ein grösseres
Quantum Milch, ohne von der Schädlichkeit der Milch etwas zu wissen. Es
erhellt aus diesen Beispielen, wie trotz aller Vorsichtsmaassregeln und guten
Absichten der Producenten doch eine infectiöse Milch in den Handel
gebracht werden kann. Ausgeschlossen ist es natürlich keineswegs, dass
Milch von kranken Thieren, welche anscheinend nur massige Krankheits¬
erscheinungen darbieten, von den Besitzern ohne Bedenken in den Handel
gegeben wird, weil den Betreffenden der Gedanke, dass durch diese leichten
Krankheitserscheinungen die Milch schädlich verändert werden könnte, über¬
haupt nicht kommt. So sind die von Gaffky beschriebenen Erkrankungen
an infectiöser Enteritis in Folge des Genusses ungekochter Milch von beson¬
derem Interesse. In Folge der Erkrankung des Personals des hygienischen
Instituts in Giessen wurde nach einer kranken Kuh in den Stallungen der
Lieferanten der Molkerei, aus welcher die verdächtige Milchprobe bezogen
war, gesucht und eine solche auch ermittelt. In der aus dem Euter der
kranken Kuh entnommenen Milchprobe wurden pathogene Bacillen, wie sie
in den Dejecten der kranken Menschen gefunden wurden, nicht nachgewiesen,
wohl aber in der diarrhoischen Entleerung der Kuh. Die Infectionserreger
sind daher von der kranken Kuh nicht mit der Milch ausgeschieden, sondern
durch Beimengung von flüssigen Dejecten in die Milch hineingebracht.
w Diese naheliegende Möglichkeit", sagt Gaffky, „dass der aus gesundem
Euter enl leerten und an sich unschädlichen Milch Krankheitserreger durch
den Kuhkoth sich beimischen, wird meines Erachtens noch immer nicht
genügend gewürdigt. In erster Linie werden in dieser Beziehung ente-
ritische Processe bei den Kühen in Betracht kommen, welche zu einer
Infection der Milch auch dann Veranlassung geben können, wenn die Thiere
an scheinbar harmlosen Durchfällen ohne schwerere Allgemeinerscheinungen
leiden, Affectionen, die, wie es ähnlich auch in unserem Falle geschehen ist, von
den Thierbesitzern auf Futterwechsel, auf den Einfluss von Schlempefütterung
und dergleichen zurückgeführt und daher nicht weiter beachtet werden.“
„Wenn nun auch der Verkauf der Milch kranker Thiere gesetzlich ver¬
boten ist, so scheint es mir doch sehr fraglich, ob ein Richter die betreffen¬
den Milchproducenten, welche die Milch kranker Thiere, die aber nicht
erhebliche Erkrankungserscheinungen dargeboten haben, im guten Glauben
verkaufen, verurtheilen würde. Jedenfalls wird der Consument, welcher eine
nicht erhitzte Milch geniesst, derartigen Infectionsmöglichkeiten trotz aller
gesetzlichen Vorschriften stets ausgesetzt sein.
„Die übrigen Thierkrankheiten, deren Erreger eventuell durch die Milch
auf den Menschen übertragen werden könnten, wie Tollwuth, Milzbrand,
Lungenseuche, Pocken u. s. w., haben bisher für die menschliche Pathologie
keine irgendwie beachtenswerthe Bedeutung gehabt. Die Weggabe der
Milch solcher Thiere ist gesetzlich verboten. Dieses Verbot ist ausreichend,
da ja bei derartigen Erkrankungen der Rinder wohl regelmässig Thierärzte
zu Rathe gezogen werden, welche die Besitzer der Thiere mit den nöthigen
Weisungen versehen und gegen deren Weisungen die Besitzer wohl kaum
zu handeln wagen werden.
„Das Hauptinteresse hat sich concentrirt auf die Tuberculose der Rinder.
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Nachdem durch überaus umfangreiche Untersuchungen in allen Ländern die
ungeheure Verbreitung der Tuberculose unter den Milchkühen festgestellt
war, wurde durch die Untersuchungen der Marktmilch allerorten ermittelt,
dass dieselbe Tuberkelbacillen in einem mehr oder weniger grossen Procent¬
satze der untersuchten Proben enthielt. Besonders zeigte es sich, dass die
Mischmilch grosser Viehbestände, namentlich die Milch in Sammelmolkereien,
fast stets Tuberkelbacillen enthielt. Weiterhin haben dann Untersuchungen
der Marktbutter zu einem gleichen Ergebniss geführt. Auf Veranlassung
der Minister der geistl., Unterr. und Med.-Angelegenheiten, für Landwirth-
schaft, des Innern und für Handel sind die preussischen hygienischen
Institute mit der Untersuchung der Marktbutter auf Tuberkelbacillen im
Frühjahr 1899 betraut worden. Diese zahlreichen zuverlässigen Unter¬
suchungen haben nun in der That dargethan, dass die Butter aus Sammel¬
betrieben fast immer, aus kleineren Betrieben auch bisweilen tuberkel¬
bacillenhaltig ist. Ebenso sind auch in Buttermilch und Käse Tuberkel¬
bacillen nachgewiesen worden. Es lag daher offenbar, im Hinblick auf die
ungeheuren Mengen von Milch und Butter, welche im ungekochten Zustande
genossen werden, eine grosse Gefahr namentlich für die Kinder vor, der
wirksam zu begegnen mit allen Kräften anzustreben war. Die näheren
Studien über die Ausscheidung der Tuberkelbacillen durch die Milch von
tuberculösen Thieren haben nun ergeben, dass Tuberkelbacillen hauptsächlich
von solchen Kühen ausgeschieden werden, welche an Eutertuberculose und an
vorgeschrittener, klinisch leicht erkennbarer allgemeiner Tuberculose leiden.
Diese Thiere machen etwa 1 bis 2 Proc. des gesammten Rindviehbestandes
aus, während die Zahl der auf Tuberculin reagirenden, also irgend welche
tuberculose Veränderungen enthaltenden Rinder sich auf 40 bis 50, stellen¬
weise sogar noch höher, auf über 90 Proc. stellen soll. Durch neuere,
auf ministerielle Veranlassung angestellte Untersuchungen von Ostertag
ist nachgewiesen, dass die Milch lediglich reagirender Kühe keine Tuberkel¬
bacillen enthält. Ostertag hat 20 Ferkel vier Monate lang mit täglich
1 bis 4 Liter und zehn Kälber 8 bis 11 Wochen lang mit täglich 7 bis
12 Liter Milch von lediglich auf Tuberculin reagirenden Kühen gefüttert.
Ebenso hat er zahlreiche Meerschweinchen mit dem Rahmbodensatzgemenge
der Milch von zehn reagirenden Versuchskühen injicirt und gefüttert, ohne
dass ein einziges der Thiere erkrankt ist. Er kommt auf Grund seiner
Versuche zu dem Ergebniss, dass die Ausmerzung der eutertuberculösen
und klinisch erkennbaren tuberculösen Köhe als die wichtigste Maassnahme
zur Verhütung der Tuberculoseübertragung durch die Milch zu bezeichnen
sei, eine Forderung, welche auch durch den Milchwirthschaftlichen Verein
als berechtigt und erfüllbar anerkannt worden ist.
„Soweit waren die Verhältnisse gediehen, als Koch auf dem inter¬
nationalen diesjährigen Tuberculosecongresse in London die bis dahin all¬
gemein als bestehend anerkannte Gefahr der Uebertragbarkeit der Bacillen
der Rindertuberculose auf den Menschen in Frage stellte. Durch einwand¬
freie Versuche hat er dargethan, dass die menschlichen Tuberkelbacillen
beim Rinde nicht haften oder doch nur geringe, local bleibende Verände¬
rungen hervorrufen, während die Rindertuberkelbacillen sogar bei subcutaner
Einspritzung schnell zu allgemeiner schwerer Tuberculose bei den Rindern
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Hygiene der Molkereiprodacte.
63
führen, dass also die Menschentuberculose von der Rindertnberculose ver¬
schieden ist. Die sich hier mit aufdrängende Frage, wie es nun mit der
Empfänglichkeit des Menschen für die Rindertuberculose stehe, konnte er
natürlich auf experimentellem Wege nicht beantworten. Er wies aber dar¬
auf hin, dass die Milch und die Butter namentlich in grösseren Städten oft
in nicht unbeträchtlicher Menge die Bacillen der Perlsucht enthalte, dass
aber gleichwohl Fälle von primärer Darmtuberculose, welche auf die Infection
durch tuberkelbacillenhaltige Nahrungsmittel zurückgeführt werden müssten,
za den grössten Seltenheiten gehörten.
„Hiernach ist es zweifelhaft, ob die Perlsuchtbacillen überhaupt auf
den Menschen übertragbar sind. Es sind nun freilich in der Literatur eine
Anzahl von Fällen mitgetheilt, so von Demme, Olivier, Prümers,
Leonhardt, Sonntag, Meyerhoff, Stang, Schöngen, Uffelmann,
Hermsdorf und Johne, nach welchen Rinder gesunder Eltern in Folge
des Genusses von roher Milch perlsüchtiger Kühe an Tuberculose erkrankt
und gestorben sind. Diesen Fällen vermag ich noch einen weiteren hinzu-
zofügen, welcher von C. Ernst in einem Berichte mitgetheilt wird, welchen
er über die auf Veranlassung der Massachusetts Society for Promoting
Agriculture angestellten Untersuchungen über die Gefahren der Tuberculose-
übertragung durch von Rindern stammende Nahrungsmittel auf den
Menschen erstattet hat.
„Harold C. Ernst hat bei zahlreichen Aerzten und Thierärzten eine
Rundfrage angestellt darüber, ob der Betreffende je einen Fall von Tuber¬
culose gesehen hätte, den er mit Wahrscheinlichkeit auf Infection durch
Milch zurückzuführen vermöchte. 168 Aerzte und 11 Thierärzte haben
ihm geantwortet. 11 haben sich im positiven Sinne geäussert, aber die
Angaben sind so vage, dass man aus denselben Schlüsse kaum ziehen kann.
Nur ein von dem Thierarzt Peabody berichteter Fall scheint bemerkens-
werth. Derselbe constatirte am 15. Juni 1878 bei einer Kuh hochgradige
Tuberculose und rieth das Thier zu tödten. Die Familie trank die Milch
derselben. Am 12. December sah er die Kuh wieder, der Milchertrag
hatte nachgelassen. Wiederum rieth er, die Kuh zu tödten und die Milch nicht
zu benutzen. Am 22. Februar 1879 war die Kuh noch weiter herunter¬
gekommen und lieferte nur noch geringe Quantitäten Milch. Er ertheilte
wiederum den gleichen Rath. Am 30. Mai fand er die Kuh in jämmerlichem
Zustande. Sie hatte seit einer Woche keine Milch gegeben und starb drei
Stunden später. Bei der Obduction fand er tuberculose Herde in allen Organen,
auch im Euter. Im August 1879 wurde das Baby der Familie krank und starb
in etwa sieben Wochen. Bei der Section fand sich ausgebreitete Tuberculose
der Meningen und Tuberculose der Lunge. 1881 starb ein etwa drei Jahre
altes Kind an tuberculöser Bronchitis und 1886 ein neun Jahre alter Knabe,
der drei bis vier Jahre lang sehr zart gewesen war, an Auszehrung. Eltern
und Grosseitem waren gesund. Nach dieser Beschreibung hat es in der
That den Anschein, als ob das Baby durch die Milch der eutertuberculösen
Kuh inficirt sei, und dass dessen Geschwister weiterhin sich von demselben
inficirt haben könnten. Beweisend ist natürlich auch dieser Fall nicht.
Zum abschliessenden Beweise würde es gehören, wie Koch hervorhebt,
Reinen!turen aus den tuberculösen Herden zu gewinnen und durch Ver-
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64 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
impfung auf Rinder darauf zu prüfen, ob sie der Rindertuberculose an¬
gehören. Koch ist mit den bezüglichen Untersuchungen beschäftigt. Bei
der Seltenheit derartiger Fälle wird das abschliessende Urtheil noch längere
Zeit auf sich warten lassen.
„Eine ganz überraschende Bestätigung bezw. Ergänzung haben die
Koch’sclien Ansichten erhalten durch eine Mittheilung Baumgarten’s.
Vor 20 Jahren bereits hat ein Arzt inoperable Sarkome und Carcinome durch
Einimpfung von Tuberkelbacillen zu heilen versucht. Da gerade keine Rein-
culturen von Menschen zur Verfügung standen, wurden Perlsuchtbacillen ver¬
wendet. Aber obwohl erhebliche Mengen dieser Bacillen den Kranken unter
die Haut gespritzt worden waren — die Versuche erstreckten sich über
mehr als y s Dutzend Fälle —, ist weder örtliche noch allgemeine Tuber-
culose beobachtet worden. Bisweilen sollen an den Impfstellen kleine Eiter-
herdchen aufgetreten sein, deren Inhalt anfangs Tuberkelbacillen mehr oder
minder reichlich habe erkennen lassen, die aber mit der Heilung dieser
kleinen örtlichen Schäden allmählich verschwunden seien. Er selbst fand
bei der ihm amtlich zufallenden Leichenöffnung der in Folge ihres Ge¬
schwulstleiden s Gestorbenen an den Impfstellen nur kleine Narben, die, wie
die spätere mikroskopische Untersuchung ergab, frei von Tuberkeln und
Tuberkelbacillen waren. Weder in den den Impfstellen benachbarten
Lymphdrüsen, noch in einem der inneren Organe, ebensowenig in der Sub¬
stanz der über die verschiedensten Organe verbreiteten Geschwülste konnte
trotz sehr genauer Untersuchung weder makro- noch mikroskopisch irgend
eine Spur von Tuberkeln oder Tuberkelbacillen entdeckt werden. „Diese
Impfungen mit hoch virulenten Perlsuchtbacillen an Menschen u , sagt Baum¬
garten, „waren ebenso negativ verlaufen, wie meine und Koch’s Impfungen
mit menschlichen Tuberkelbacillen an Rindern, obwohl die meisten der in
Rede stehenden Kranken die Impfung mehrere Monate bis ein Jahr und
darüber überlebt hatten/
„Was meine Stellung zu dieser Frage anlangt, so schliesse ich mich den
Ausführungen Koch’s durchaus an.
„Die in meinem Institut von mir in Gemeinschaft mit meinem Assi¬
stenten Dr. Gehrke ausgeführten Untersuchungen der Greifswalder Markt¬
butter haben zu dem bemerkenswerthen Ergebniss geführt, dass von 25 Be¬
trieben 8 — gleich 32Proc. — tuberkelbacillenhaltige Butter lieferten; acht
von diesen Betrieben waren Sammelmolkereien und von diesen hatten 7
gleich 88Proc., von den 17 kleineren Betrieben jedoch nur einer gleich
6Proc. Tuberkelbacillen in ihrer Butter. Da nun die grossen Sammel¬
molkereien den weitaus überwiegenden Theil des Bedarfes der Bevölkerung
an.Milch und Butter decken, so muss jahrein jahraus der grösste Theil der
Bevölkerung des Greifswalder Kreises täglich lebensfähige Tuberkelbacillen
in den Körper eingeführt haben. Wenn es nun auch feststeht, dass die
Zahl der Tuberkelbacillen für das Zustandekommen der Infection per os von
wesentlicher Bedeutung ist, wenn auch die Möglichkeit der Uebertragung
per os nach Oster tag nicht weniger als 2 Millionen mal geringer ist als
die Uebertragung auf dem Wege der Einspritzung, so müsste doch, da täg¬
lich virulente Tuberkelbacillen von zahlreichen Menschen eingeführt werden,
die primäre Darmtuberculose hier im Greifswalder Kreise ein häufiges Vor*
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Hygiene der Molkereiproducte. 65
kommniss sein. Dies ist aber nach den Angaben der beschäftigten Aerzte
nicht der Fall.
„Geheimrath Kr ab ler, der Professor der Kinderheilkunde an unserer
Universität, welcher wohl über die diesbezüglichen Verhältnisse am besten
orientirt sein dürfte, sagte mir, primäre Darmtuberculose komme hier gar
nicht vor bei den Kindern. Unter 1934 im pathologischen Institut des
Herrn Prof. Grawitz gemachten Sectionen fanden sich 320 Fälle von Tuber-
culose, von denen vielleicht vier und auch diese noch nicht einmal mit Sicher¬
heit als primäre Darmtuberculose bezeichnet werden konnten. Also auch für
Greifswald ist in gleicher Weise die Seltenheit der primären Darmtuberculose
zu constatiren, wie sie von Koch an dem grossen Obductionsmaterial des
Charite-Krankenhauses (in fünf Jahren 10 Fälle) von Baginski in dem Kaiser
und Kaiserin Friedrich Kinder-Krankenhause (933 Fällen 0), von Biedert
(unter 3104 Obductionen tuberculöser Kinder nur 16), von Drenkhahn
(unter 176 Protokollen nur 3 und unter 206 Protokollen aus Rostock nur 1)
ermittelt ist. Aus dieser Seltenheit des Vorkommens aber dürfte man wohl
berechtigt sein, mit Koch den Schluss zu ziehen, dass aus dem Vorkommen
der Tuberkelbacillen in den Molkereiproducten eine besondere Gefahr für
den Menschen nicht droht. Die Möglichkeit, dass gelegentlich einmal ein
Kind, wenn es constant grosse Mengen hochvirulenter Rindertuberculose-
bacillen geniesst, inficirt werden kann, lässt sich natürlich nicht ganz von
der Hand weisen. Die algierschen Schafe sind unempfänglich für den Milz¬
brand, und doch gelingt es durch Einführen grosser Mengen von Milzbrand¬
bacillen, sie gelegentlich mit Milzbrand zu inficiren.
„Es fragt sich nun aber, und das ist das praktisch überaus wichtige
Moment, sollen wir angesichts der bis jetzt vorliegenden Thatsachen, welche
für die Unschädlichkeit der Rindertuberculose für den Menschen sprechen, von
allen weiteren Maassregeln zur Bekämpfung der Rindertuberculose Abstand
nehmen oder nicht? Ich würde ein Stillstehen auf dem einmal betretenen
Wege in der Bekämpfung dieser Krankheit für durchaus unrichtig halten.
Milch von hochgradig tuberculösen und eutertuberculösen Kühen ist keine
normale Milch, wie wir sie für den Consum verlangen können. Wer würde
freiwillig Milch von einer Kuh trinken wollen, von der er weiss, dass sie an
einer chronischen Krankheit leidet? Eine solche Milch würde unzweifelhaft
als ekelerregend von der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Consumenten
zurückgewiesen werden, auch wenn sie sicher nicht gesundheitsschädlich
wäre. Ich bin daher der Ansicht, dass Milch von offenbar tuberculösen und
eutertuberculösen Thieren nicht in den Verkehr gebracht werden darf, weil
sie als verdorben im Sinne des Nahrungsmittelgesetzes anzusehen ist. Es
muss daher von diesem Standpunkt aus die Ausmerzung dieser Thiere
nach wie vor verlangt werden. Vom thierhygienischen Standpunkte aus
müssen naturgemäss noch viel weiter gehende Forderungen erhoben werden,
ln der für die Fütterung von Schweinen und Kälbern vorzugsweise ver¬
wendeten Magermilch dürfen lebende Tuberkelbacillen nicht enthalten sein,
da durch solche Milch erfahrungsgemäss die Tuberculose in ganz exqui¬
siter Weise verbreitet wird. Die Erkrankungen der Schweine an Tuber¬
culose sind überaus häufig bei Fütterung mit tuberkelbacillenhaltiger Mager¬
milch aus grossen Meiereien. Sie erreichen nach Ostertag 60 bis 70Proc.
Vierteljahrsschrift für Gesundheitspflege, 1902. 5
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66 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
dbr Bestände, während die Schweine von kleinen Besitzern, welche diese
mit der Milch ihrer eigenen wenigen Kühe füttern, unter denen natürlich
nur Belten reichlich Tuberkelbacillen ausscheidende Thiere sind, nur bis
Va Proc. Tuberculose auf weisen.
„Da es nun nicht ohne Weiteres angeht, sämmtliche Tuberkelbacillen
liefernde Thiere auBZuschalten, so hat man sich bemüht, die Tuberkel-
bacillen durch Erhitzen in der Milch selbst unschädlich zu machen. Eine
grosse Zahl von Forschern hat sich damit beschäftigt, die Temperaturen
zu ermitteln, bei welchen die Bacillen abgetödtet werden. Diese Versuche
haben zum Theil sehr widersprechende Resultate ergeben. Als Quintessenz
aller dieser Versuche können wir festhalten, dass, wie Theobald
Smith zuerst dargethan und wie Hesse bestätigt hat, in ganz ge¬
füllten Behältern Tuberkelbacillen bei 60° in 15 bis 20 Minuten sicher
zu Grunde gehen, bei höheren Temperaturen natürlich in entsprechend
kürzerer Zeit, so bei 65° bis 70° nach Levy und Bruns in 15 Minuten,
bei 80° in 3 Minuten und bei 85° in 2 Minuten (Herr). Erhitzt man die
Milch in offenen GefäsBen, so genügt nach Beck ein einmaliges Auf kochen
noch nicht, sondern erst ein 3 Minuten langes Kochen, weil sich die Ober¬
fläche wegen des sich bildenden Häutchens weniger gut erwärmt als die
unteren Schichten. Von Wichtigkeit ist es aber, dass die Milch nicht über
eine Temperatur von 80° bis 85° erhitzt wird, weil sie, wie bekannt, bei
höherer Temperatur Veränderungen erfährt, sowohl was ihren Geschmack als
auch was die Beschaffenheit ihrer Eiweisskörper und Salze anlangt. Wir
werden auf diesen Punkt später noch weiter einzugehen haben. Dass es
praktisch möglich ist, grössere Quantitäten Milch 20 Minuten auf 60° zu
erwärmen, ist nach einer Mittheilung von Hesse dargethan dadurch, dass
die Gebrüder Pfund in Dresden ihr gesammteB tägliches Milchquantum,
15 cbm, 20 Minuten auf 60° erwärmen, dass ferner die Milchversorgungs¬
anstalt Pasteur in Kopenhagen nach einer Mittheilung von Weigmann-
Kiel täglich über 70 000 Pfund Milch auf 85° C. erhitzt. Die Möglichkeit,
eine durch Erhitzen tuberkelbacillenfrei gemachte Milch zu liefern, ist auch
in Amsterdam und Strassburg durch Förster dargethan.
„Die Milch kann nun aber auch zum Dritten noch Trägerin der Er¬
reger menschlicher Infectionskrankheiten sein. In einer grossen
Zahl von Fällen ist erwiesen, dass die Erreger des Abdominaltyphus durch
Milch verbreitet werden können.
„Im Jahre 1881 vermochte Hart schon 50 Epidemieen mit 3500 Fällen
zusammenzustellen. Alljährlich werden neue derartige Fälle berichtet. Aus
dem Jahre 1898 sind solche Epidemieen von Riedel in Lübeck, von Wilkens in
Hamburg, im Jahre 1899 von Sedgwick, und in diesem Jahre von Oberstabs¬
arzt Hün ermann auf dem Truppenübungsplätze zu Elsenborn beschrieben
worden. In diesem Jahre ist auch eine Epidemie in Stralsund auf den Genuss
inficirter Milch zurückgeführt worden. Die Infection der Milch erfolgt bei diesen
Epidemieen entweder durch Personen, welche mit der Pflege von Typhuskranken
und zu gleicher Zeit mit der Milchgewinnung bezw. mit dem Milchtransporte
zu thun haben oder aber durch Ausspülen der Milchgeräthe mit Wasser, in
welches Typhusdejecte gelangt sind. Von besonderem Interesse ist die von
Hünermann beschriebene Epidemie insofern, als die verdächtige Milch aus
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Hygiene der Molkereiproducte.
einer Molkerei stammte, in welcher die als Vollmilch verkaufte Milch in
einem 75 Liter fassenden Vorwärmer auf 85° bis 90° C. erhitzt worden sein
soll. Da nach den Untersuchungen von Hesse und Anderen Typhus¬
bacillen in Milch bei 60° in 15 bis 20 Minuten sicher zu Grunde gehen,
so hätte man erwarten können, dass dieselben in der auf 85° bis 90° er¬
hitzten Milch im Vorwärmer sicher vernichtet sein mussten. In den von
Hünermann an gestellten Versuchen wurde dieAbtödtung der Typhuskeime
bei Wärmeeinwirkungen von 69° und 87° C. erst nach einer Zeitdauer von
GO Secunden sicher erreicht, nach 15 bis 40 Secunden jedoch noch nicht.
Hünermann hält es ffir sicher, dass die Angaben der Angestellten der
Molkerei, nach welchen die Milch 1 bis 3 Minuten in dem Apparate ver¬
weilt habe und auf 85° bis 90° erhitzt sei, unmöglich richtig gewesen sein
konnten. „Bei einer Besichtigung fehlte überhaupt das Thermometer am
Ausflussrohr des Vorwärmers und der Meier gab an, dass er die Wärme
mit der Hand messen könnte.“
„Zur Verhütung der Typhusverbreitung durch Milch, welche nach den
angeführten Beispielen gar nicht so selten vorkommt, sind eine ganze Reihe
von Maassregeln vorgeschrieben und angewandt worden. In einer Ver¬
fügung aus dem Regierungsbezirk Aachen vom 1. Mai 1899 betreffend die
Abgabe von Milch aus Häusern, in denen Unterleibstyphus herrscht, heisst es:
^„Eine umfangreiche Epidemie von Unterleibstyphus, die im Jahre 1898
in einem Theile des Kreises Malmedy geherrscht hat, ist mit grösster Wahr¬
scheinlichkeit darauf zurückzuführen, dass die Milch eines erstinffcirten
Hauses an die Molkerei geliefert worden ist und von dort nach Verarbeitung
zurückgegeben, als Magermilch in den anderen Häusern genossen wurde
und die Ansteckung vermittelte. Dieser Weg der Uebertragung ist um so
glaubhafter, als die Ansteckung durch Milch ohne Vermittelung einer
Molkerei schon öfters festgestellt worden ist.
„Nachdem die Errichtung von Molkereien in den letzten Jahren einen
grösseren Umfang angenommen hat, ergiebt sich die Nothwendigkeit, diese
Art der Verbreitung nicht nur von Thierseuchen, sondern auch von Unter¬
leibstyphus und anderen Krankheiten durch entsprechende polizeiliche An¬
ordnungen zu bekämpfen.
„Es ist desshalb in jedem Falle, sobald der Ausbruch des Typhus in
einem Hause, aus dem Milch abgegeben wird, bekannt wird, sofort der Ver¬
kauf oder die Abgabe der Milch an Private oder an Molkereien so lange
zu verbieten, bis nach sorgiältiger sachverständiger Prüfung die Möglich¬
keit einer Uebertragung ausgeschlossen ist. Dies ist anzunehmen, wenn
sowohl das zum Reinigen der Gefässe verwandte Wasser als ein wandsfrei
betrachtet werden kann, als auch die Fernhaltung aller mit der Pflege der
Kranken irgendwie behafteten Personen von dem Milchwirthschaftsbetriebe
gänzlich sichergestellt ist.
„Wenn diese Gewähr nicht geboten wird, so ist im Sinne des §.61 der
Bekanntmachung des Bundesraths, betreffend Instruction zur Ausführung
der §§. 19 bis 29 des Gesetzes vom 1. Mai 1894 über die Abwehr und
Unterdrückung der Viehseuchen vom 27. Juni 1895 Verfügung zu erlassen.
Ist anzunehmen, dass schon eine Inficirung der Molkerei stattgefunden hat,
so ist nach Benehmen mit dem KreisphyBicus erforderlichenfalls anzuordnen,
5 *
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68 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
dass die Molkerei dieselben Maassnahmen treffe (Erhitzen der Milch bis
zur Desinfection, Abbrühen der Milchkannen mit Sodalauge u. s. w.), wie
sie bei Maul- und Klauenseuche vorgeschrieben sind. ttU
„Dass derartige Verordnungen gewiss segensreich wirken können, wird
Niemand bezweifeln. Die Consumenten vor der Infection durch Typhus zu
schützen, werden sie nur in den seltensten Fällen im Stande sein, weil die
Infection der Milch meist schon längst vor der Zeit, in welcher die Typbus¬
erkrankungen erkannt und gemeldet werden, erfolgt ist. Die einzige Mög¬
lichkeit, die Infectionsgefahr abzuwenden, kann nur darin gefunden werden,
alle Milch vor der Abgabe an das Publicum einer derartigen Erwärmung
auszuBetzen, dass dadurch die Abtödtung der Typhuskeime gesichert wird.
Für die Sammelmolkereien, in welchen grosse Massen von Milch der ver¬
schiedensten Producenten zusammenströmen, dürfte wegen der durch das
Vereinigen grosser Milchmengen vergrösserten Infectionsgefahr eine ent¬
sprechende Erhitzung der Milch vor der Abgabe nothwendig erscheinen. Zu
den gleichen Ergebnissen ist Schlegdendahl in einer ausgezeichneten Studie
über die Bedeutung der Molkereien für die Verbreitung des Unterleibstyphus
gelangt J ).
„Neben dem Typhus spielt die Uebertragung von Diphtherie und
Scharlach eine gewisse Rolle. Positive Angaben über die Entstehung von
Scharlachepidemieen durch Milch finden sich namentlich in der englischen
Literatur mehrfach, Angaben über Diphtherie fast gar nicht. Howard
versuchte während einer Diphtherieepidemie die Milch mit dem Ausbruch der
Krankheit in Beziehung zu bringen, doch gelang es ihm nicht, ebensowenig
wie Lee in einer anderen Epidemie, in überzeugender Weise.
„Nach einer persönlichen Mittheilung von Medicinalrath Deneke in
Stralsund hat derselbe in zwei Epidemieen in unzweifelhafter Weise die
Uebertragung der Krankheit durch Milch nachzuweisen vermocht.
„Die eine Epidemie in Stendrup umfasste 45 Erkrankungen, die andere
in Flensburg 34. Die Erkrankungen waren in beiden Epidemieen
streng auf das Versorgungsgebiet einer Meierei beschränkt. In
Stendrup hat er ermittelt, dass eine Frau ihr diphtheriekrankes Kind ge¬
pflegt und zugleich ihre beiden Kühe gemolken hat, deren Milch in ebenfalls
von ihr selbst gereinigten Gefä9sen nach der Molkerei geliefert wurde.
„In Flensburg hatte der Kutscher, welcher die Milch von den Bauern
holte und diese nach der Molkerei fuhr, zwei diphtheriekranke Kinder.
Wenn er die Milch gesammelt hatte, fuhr er zuerst nach seiner Wohnung,
nahm die Kannen mit hinein und entnahm sich selbst den ihm zukommen¬
den Milchantheil aus denselben. Dass in beiden Fällen eine Infection der
Milch sehr leicht stattfinden konnte, liegt auf der Hand. Hiernach ist mit
der Möglichkeit der Uebertragung der Diphtherie durch Milch sehr wohl zu
rechnen. Die Maassnahmen sind die gleichen wie beim Typhus, werden in¬
dessen ebenso wie bei jenem meist zu spät kommen.
„Beim Herrschen der Cholera wird ebenso wie beim Typhus eine Ver¬
breitung der Infection der Milch, welche mit Choleradejecten in directer
oder indirecter Weise verunreinigt ist, möglich sein. Alle die genannten
l ) D. Vierteljahrsschritt f. öffentl. Gesundheitspflege, Bd. XXXII, S. 287.
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Hygiene der Molkereiproducte.
69
für den Menschen pathogenen Erreger vermögen in der Milch sich zu ver¬
mehren, bei hoher Temperatur naturgemäss besonders schnell, desshalb kann
selbst durch das Hineingelangen weniger Keime bald nach der Gewinnung
eine grössere Milchmenge durch eine Probe inficirt werden.
„Abgesehen von einem Gehalt an giftigen, von der Fütterung her¬
rührenden Stoffen, von einem Gehalt von pathogenen Organismen aus dem
Kuhkörper und von menschenpathogenen Keimen, welche auf irgend eine
Weise der Milch zugeführt sind, bietet die Milch nun aber noch eine
grosse Zahl von verschiedenartigen Veränderungen dar, welche durch
das Wachsthum überaus zahlreicher saprophytischer Keime in derselben
bedingt sind. Diese Keime gelangen, wie bekannt, hauptsächlich bei
der Gewinnung der Milch in dieselbe. Ihre Zahl ist je nach der Rein¬
lichkeit, mit welcher verfahren wird, je nach den angewendeten Futter-
und Streumaterialien, je nach dem Grad der Reinlichkeit der Ge-
fässe u. s. w., eine ausserordentlich verschiedene. Diese Keime vermögen
sich bei hoher Aussentemperatur schnell zu entwickeln, so dass, wenn
die Milch sechs, acht oder zehn Stunden nach der Gewinnung, wie es
häufig geschieht, zum Consum kommt, bereits eine ausserordentliche Ver¬
mehrung dieser Keime und eine weitgehende Veränderung Platz gegriffen
haben kann. Ueber diese Verhältnisse hat Prof. Soxhlet früher eingehend
berichtet. Das sinnfällige Ergebniss dieser Wucherungen ist eine mehr oder
weniger fortgeschrittene Säuerung der Milch. Der Grad der Zersetzung lässt
sich leicht titrimetrisch bestimmen. In neuerer Zeit gestattet die sogenannte
Alkoholprobe, welche in der Vermischung gleicher Volumina Milch und
70 Proc. Alkohol besteht, mit grosser Leichtigkeit und Schnelligkeit fest¬
zustellen, ob die Zersetzung bereits weiter vorgeschritten ist, da eine solche
Milch bei der Probe gerinnt. Die Säuerung wird durch eine Reihe von ver¬
schiedenen Organismen hervorgerufen, unter welchen das Bacterium und der
Bacillus Acidi lactici die hervorragendste Rolle spielen. Es können aber
auch an derselben eine grössere Anzahl von pathogenen Organismen, z. B.
Staphylococcen, betheiligt sein. Da solche Milch nicht verkäuflich ist, so
suchen die Händler die saure Beschaffenheit durch Zusatz von Alkalien und
namentlich von kohlensaurem und doppelkohlensaurem Natron zu beseitigen
oder auch ein Vorwärtsgehen des Säuerungsprocesses durch Zusatz von ent¬
wickelungshemmenden Mitteln zu verhindern. Unter diesen spielen Salicyl-
säure und Benzoesäure eine gewisse Rolle. In neuerer Zeit kommt das
Formalin und in Verbindung mit demselben auch Alkalichromat nach Leys
immer mehr in Gebrauch. Derartige Zusätze sind natürlich vom hygieni¬
schen Standpunkte aus streng zu verwerfen. Glücklicherweise besitzen wir
überaus feine chemische Reagentien, mit Hülfe welcher dieselben mit Leichtig¬
keit nachgewiesen werden können. Es bedarf solcher Zusätze, um die Ver¬
änderungen anzuhalten, nicht. Es stehen andere vollkommen unschädliche
Mittel, welche die Molkereiproducte in keiner Weise verändern, für diese
Zwecke zur Verfügung.
„Diese Mittel sind die Erhitzung und die Abkühlung. Es kommt
nur darauf an, sie in zweckmässiger, richtiger Weise zur Anwendung zu
bringen. Je reinlicher die Milch gewonnen wird, je weniger „Milchschmutz“
bei ihrer Gewinnung in dieselbe hineingelangt ist, um so besser gelingt
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70 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
erfahrungsgemäss die Conservirung im unveränderten Zustande bis zum
Gebrauche. Dass nach dieser Richtung hin noch Vieles zu bessern ist, be¬
weisen die Ergebnisse der Milchschmutzuntersuohungen der Marktmilch,
welche an den verschiedensten Orten angestellt sind, und welche vielfach
eine geradezu Ekel erregende Verschmutzung der Milch erwiesen haben.
„Baron giebt den Schmutzgehalt der Marktmilch in Dresden zu
5*44 mg trockenen Schmutzes pro Liter an. Derselbe betrug in
Würzburg. . .
.3-2
mg
Leipzig . . ...
.38
rt
München.
.9*0
n
Berlin.
.10-3
n
Christiania ....
.10-5
TI
Halle.
.14-9
71
Giessen.
.19-7
T»
Daraus folgt, dass eine wesentliche Verringerung der Verschmutzung der
Milch unzweifelhaft zu erreichen ist.
„Milch aus kleineren Betrieben bietet nach dieser Richtung hin nur
wenig Garantie. Die aus grossen Sammelmolkereien stammende Milch giebt
dagegen weniger zu Klagen Anlass, da meist die von denselben gelieferte
Milch vor dem Verkaufe einem Reinigungsprocess durch Centrifugiren oder
auch durch Filtriren, namentlich durch Kiesfilter, unterzogen wird. In
neuester Zeit wird ein Milchfilter von Fliegei empfohlen, bei welchem
das Filtermaterial aus leicht zu reinigendem Porcellanschrot besteht.
„Die Beseitigung des Milchschmutzes genügt aber noch keineswegs, um
die Milch haltbar zu machen, sie muss nach der Reinigung sofort stark ab¬
gekühlt werden, da bei Temperaturen unter 10° die Vermehrung der Mikro¬
organismen in derselben eine relativ langsame ist. Für die Kleinbetriebe
steht im Allgemeinen nur Brunnenwasser zur Abkühlung zur Verfügung;
die Abkühlung geschieht daher meist nur in unvollkommener Weise. Da
die Tbiere zweimal gemolken werden, gewöhnlich aber nur eine einmalige
Milchlieferung an die Consumenten stattfindet, so ist besonders die Abends
gemolkene Milch, zumal in der warmen Jahreszeit, der Verderbniss stark
ausgesetzt. Hier muss entschieden ein Wandel Platz greifen. Wandel
kann aber nur geschaffen werden, wenn den kleinen Betrieben mehr und
mehr der directe Verkauf an die Consumenten entzogen wird, und wenn
der Verkauf der Molkereiproducte von bestimmten Centralen aus erfolgt.
In diesen Centralen sind dann aber Vorkehrungen zu treffen, welche eine
zweckmässige Conservirung der Milch bis zum Verkaufe garantiren.
„Einen grossen Fortschritt bietet nach dieser Richtung hin das von
dem Dänen Casse praktisch zur Ausführung gebrachte und bei uns durch
den Ingenieur Helm eingeführte Eismilchverfahren. Die frisch an eine
Centrale angelieferte Milch wird zunächst gereinigt, dann, um die in der
Milch vorhandenen entwickelungsfähigen vegetativen Keimen zu vernichten,
auf eine bestimmte Temperatur erwärmt, und nunmehr mit Hülfe einer Kalt¬
luftmaschine bis auf 0° abgekühlt. In diesem Zustande kann die Milch,
ohne dass sie sich verändert, tagelang conservirt werden. Für den Trans¬
port nach dem Verbrauchsorte wird dieselbe mit einer gewissen Menget
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Hygiene der Molkereiprqduote.
71
15 bis 30 Prpc., gefrorener Milch versetzt. Dieser Ansatz bietet dafür
Gewähr, dass die Temperatur in der Miloh nicht bis zu der Höhe steigen
kann, bei welcher eine lebhaftere Entwickelung der die Milch zersetzenden
Keime stattfindet. Selbstverständlich kann eine gute Milch auoh bei diesem
Verfahren nur dann geliefert werden, wenn die Milch von den Producenten
möglichst frisch und unzersetzt an die Centrale angeliefert wird* Dadurch,
dass die angelieferte Milch nicht sofort in den ConBum kommt, sondern erat,
nachdem sie die Reinigung, Pasteurisirung und Abkühlung durohgemaeht
bat, tritt eine zeitliche Verschiebung in dem Verbrauch ein. Die ap dem
ersten Tage gelieferte Milch kommt erst am nächsten Tage früh zur Ab¬
gabe.' Es ist dadurch Zeit gewonnen, jedes apkommende Milchquantum
zunächst auf seine Beschaffenheit genau untersuchen zu können, Damit
nun auch die zu verkaufende Milch in keiner Weise mehr verändert werden
kann, wird dieselbe in mit besonderen Ausschapkk&ppen versehenen, beson¬
ders verschlossenen und plombirten Behältern bei dem Verkäufer aufgelegt.
Eine diesbezügliche Einrichtung bieten die von Herrn Ingenieur Helm vor-
gelegten Photographieeu und Modelle.
„ Dass sich der allgemeinen Durchführung einer derartigen Milchbehaud-
lung erhebliche Schwierigkeiten entgegenstellen werden, ist wohl nioht zu
bezweifeln; aber ebenso wenig dürfte nach den bisherigen praktischen Er¬
gebnissen die Möglichkeit der Durchführbarkeit verneint werden können.
„Da, wie früher dargelegt, die Möglichkeit einer Uebertragung von
Krankheitskeimen duroh die rohe Milch niemals mit Sicherheit ausgeschlossen
werden kann, so ist vom hygienischen Standpunkte aus die Forderung zu
stellen, dass durch Erwärmen auf bestimmte Temperaturen stets krankheits¬
keimfreie Molkereiproducte erzeugt werden. Für die Abtödtung aller in
Frage stehenden Krankheitskeime genügen Temperaturen unter 85° C.,
Temperaturen, welche die Milch in ihrer normalen Zusammensetzung nicht
verändern, namentlich ihr nicht den von Vielen perhorrescirten Koch-
geschinack verleihen. Die gleichen Temperaturen vernichten dann auch zu
gleicher Zeit fast alle vegetativen Formen der Bacterien, welche Zersetzungen
der Milch herbeiführen. Für die Erhitzung stehen Apparate der verschie¬
denartigsten Construction zur Verfügung, theils für periodischen, theils für
continuirlichen Betrieb. Nach den Untersuchungen von Weigmann ge¬
nügen die in den Molkereien gebräuchlichen Pasteurisirppparate, wenigstens
diejenigen, welche neuer Construction sind und als Apparate mit sogenannter
zwangsweiser Führung der Milch bezeichnet werden, allen Anforderungen.
„Bei zwei solchen Apparaten fand er die kürzeste Erhitzungsdauer der
Milch zu ein bis zwei Minuten. Ein ein bis zwei Minuten währendes Er¬
hitzen auf 85° genügt aber zur Vernichtung aller in Frage stehenden Keime.
Es muss desshalb die Forderung gestellt werden, dass nur solche Apparate ver¬
wendet werden bei continnirlichem Betriebe, in welchen die Milch mindestens
zwei Minuten auf der Temperatur von 85° gehalten wird. Eine wirksame
Pasteurisirung der Milch ist daher leicht durchführbar.
„Die Rahmpasteurisirung hat sich bereits mehr und mehr in
der Praxis eingebürgert, nachdem ermittelt worden ist, dass aus eiuem
Rahm, welcher bis zur Annahme des Kochgeschmacks pasteurisirt ist,
Hutter hergestellt werden kann, welche frei ist von diesem Kochgeschmack,
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und welche sich sehr viel besser hält als Butter aus nicht pasteurisirtem
Rahm. Diese zuerst in Schweden und Dänemark gemachten Erfah¬
rungen haben also gelehrt, dass die Technik der Butterbereitung durch
die Rahmpasteurisirung nicht nur nicht schädlich, sondern sogar günstig
beeinflusst wird. Dass es möglich ist, Rahm in steriler Form für den
Consum herzustellen, davon habe ich mich überzeugt durch Untersuchung
mehrerer Proben des von der Nährmittelfabrik von Rademann hergestell¬
ten Rahmes. Die Buttermilch aus pasteurisirtem Rahm soll nach Weig-
mann weniger Wohlgeschmack besitzen. Eine Verarbeitung pasteurisirter
Milch zu Käse soll dagegen doch noch mit technischen Schwierigkeiten ver¬
bunden sein, weil der durch den Labprocess gewonnene Bruch eine weichere,
losere Beschaffenheit darbietet als bei nicht erhitzter Milch. Auch sollen die
aus solcher Milch hergestellten Käse nach Weigmann entweder gar keine
oder eine abnormale, der betreffenden Käsesorte nicht entsprechende Reifung
durchmachen. Nach seiner Ansicht kann und muss er es jedoch nur «als
eine Frage der Zeit betrachten, dass es gelingen wird, Käse auch aus pasteu¬
risirter Milch herzustellen. Nach Klein genügt es, der pasteurisirten Milch
ein Stück Vollreifen Käses zuzusetzen, um gute Käse aus 15 Minuten auf
90° pasteurisirter Milch zu erhalten. Hamilton ist es sogar gelungen, aus
Milch, die auf 102° erhitzt war, regelrechten Käse herzustellen durch Zusatz
von angesäuerter Milch. Hiernach würde die vom hygienischen Standpunkte
aus anzustrebende Pasteurisirung des Rohmateriales auch für die Käse¬
bereitung technisch nicht mehr auf unüberwindliche Schwierigkeiten stossen.
„Es sind nun noch andere Vorschläge zur Conservirung der Milch
gemacht worden. So hat Bernstein vorgeschlagen, die Milch, nachdem
sie producirt ist, nicht abzukühlen, sondern sofort auf eine Temperatur von
70° zu erhitzen, und wenn Bie von dem Lande nach den grossen Städten
hin transportirt wird, in Wagen, die auf 70° erhitzt sind, zu befördern.
Nun, meine Herren, durch dieses Verfahren wird natürlicher Weise auch
eine Sterilisation der Milch erreicht — nicht eine Sterilisation, sondern eine
Pasteurisation, will ich lieber sagen, die durchaus ausreichend ist und eine
gute Beschaffenheit der Milch garantirt. Ob sich dieses Verfahren, bei
welchem ja ohne Zweifel alle vegetativen Formen abgetödtet werden, in
der Praxis durchführen lässt, erscheint jedoch fraglich.
„Durch das Pasteurisiren auf Temperaturen unter 100° C. werden, wie
bekannt, die Dauerformen, die Sporen zahlreicher Bacterienarten, deren Vor¬
kommen in der Milch zuerst von Hüppe und mir nachgewiesen ist, nicht
getödtet. Um diese Sporen zu vernichten, muss man die Milch höher er¬
hitzen. Dann aber gehen in der Milch erhebliche Veränderungen vor sich,
welche namentlich den Geschmack und auch die Verdaulichkeit ungünstig
beeinflussen.
„Herr College Fr änkel hat seinerzeit ein bestimmtes Verfahren, welches
von Popp und Becker eingeführt ist, warm empfohlen. Er hat zahl¬
reiche Untersuchungen angestellt über Milch, weiche nach diesem Verfahren
hergestellt war, und hat gefunden, dass sie thatsächlich keimfrei war. Es
sind dann eine ganze Reihe von verschiedenartigen Sterilisationsverfahren,
welche wirkliche Keimfreiheit garantiren sollen, angegeben worden. Es
gehört dazu immer eine hochgehende Erhitzung oder auch eine langdauernde
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Hygiene der Molkereiproducte. 73
Erhitzung, und gleichwohl ist das Resultat doch meist ein zweifelhaftes.
Die Untersuchungen von Flügge haben gelehrt, dass die ausserordentlich
widerstandsfähigen Keime aus der Gruppe der Kartoffelbacillen und Heu¬
bacillen durch langes Kochen und auch selbst durch Kochen bei Tempera¬
turen von über 100°, bis 102°, nicht immer mit Sicherheit abgetödtet werden,
und dass dann in solcher scheinbar sterilisirten Milch nachher diese Keime
auswachsen und zu verschiedenen Veränderungen der Milch Veranlassung
geben können. Diese Bacillen wachsen zumTheil, ohne die Milch auffallend
zu verändern, zum Theil fällen sie die Caseinstoffe und verwandeln sie die¬
selben in Pepton, auch erzeugen sie einen bitteren Geschmack. Diese Bac-
terien sind nach Lübbert und nach Flügge giftig durch ihre Leibes¬
substanz, während sie nach Untersuchungen von Weher dadurch besonders
giftig wirken, dass sie, wenn sie mit der Milch zusammen in den Darm-
tractus von Kindern kommen, faulige Zersetzungen hervorrufen, welche zu
Darmkatarrhen Veranlassung geben können. Da diese Sporen so schwer zu
vernichten sind, ist es besser, wenn man sich nicht unbedingt auf die „steri-
Ü8irte a Milch verlässt. Es empfiehlt sich, auch diese sterilisirte Milch kühl
zu halten und sie überhaupt nur im Nothfalle anzuwenden. Im Grossen
und Ganzen genügen die Verfahren, welche ich vorhin angegeben habe, um
die Milch in frischem unzersetztem Zustande zum Gebrauche herzurichten.
„Es ist nun noch ein Punkt zu erörtern: das ist die Behandlung
der Milch im Haushalte, und diese spielt eine sehr bedeutende Rolle.
Wenn die Milch wunderschön behandelt ist von ihrer Production ab, wenn
kein Schmutz mehr darin ist, wenn sie centrifugirt oder durch Kiesfilter
gegangen ist, wenn sie pasteurisirt ist, abgekühlt ist, tadellos ist, und sie
kommt ins Haus und wird da in schlechte, schmutzige Gefässe eingegossen
— bacteriologisch gesprochen — und wird hingestellt, dann kann sie durch
Keime, die von diesen hineinkommen, wiederum rasch verderben, sie kann
auch wieder Krankheitskeime aufnehmen, und es kann Alles, was vorher
gut war, in kurzer Zeit im Haushalt wieder schlecht gemacht werden. Sie
muss desshalb angemessen behandelt werden. Es ist nöthig, dass die Milch
im Haushalt kurz nach der Ankunft wo möglich abgekocht, oder wenigstens
pasteurisirt, d. h. auf eine Temperatur von mindestens 70°, besser noch von
85°, etwa 30 Minuten erhitzt wird, dann in demselben Gefässe schnell ab¬
gekühlt und kühl auf bewahrt wird bis zum Gebrauche. Für diese Zwecke sind
auch sehr geeignete Apparate construirt worden. Ein solcher von Oppen¬
heimer angegebener Apparat besteht aus einem Wasserbehälter aus Blech
mit doppelten, mit Asbest gefüllten Wandungen, einem durch den Deckel in
das Wasserbad reichenden Thermometer und einem Einsatz von acht Milch¬
flaschen. Dieser ganze Behälter wird aufs Herdfeuer gebracht. Es wird
durch den Asbest hindurch das Wasser zum Kochen gebracht, oder auch
nur auf 75° erhitzt. Dann bleibt der Apparat eine halbe Stunde in der
Nähe des Herdes stehen. Die Temperatur sinkt nicht unter 70°. Wenn
die Milch nun sofort schnell abgekühlt und kühl, am besten im Eisschranke,
gehalten wird, so hält sie sich ausgezeichnet. Der Apparat hat sich prak¬
tisch bei der Säuglingsernährung bewährt.
„In neuerer Zeit werden die Thermophore in den Handel gebracht.
Diese Thermophore sind Behälter, welche dazu dienen, die Milch längere
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74 3QCVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Zeit ohne viele Umstände auf bestimmter Temperatur zu erhalten. Sie be¬
stehen aus einem doppelwandigen Behälter, zwischen dessen Wandungen ein
Salz, im Wesentlichen eine Mischung von unterschwefligsaurem und essig¬
saurem Natron, eingebracht ist In die Höhlung des Behälters kann man
eine Flasche mit Milch hineinsetzen. Der ganze Apparat wird acht oder
zehn Minuten in kochendes Wasser gebracht; dann löst sich das Salz auf,
und wenn man nun den Behälter in einen zum Apparat gehörigen Isolator
setzt und hinstellt, so krystallisirt allmählich das Salz wieder aus. Dabei
wird Wärme frei, und diese Wärme wird auf die Flasche mit Milch über¬
tragen, Die Milch hält sich dann stundenlang auf einer hohen Temperatur.
Die Untersuchungen, welche über diese Thermophore angestellt sind, haben
zu verschiedenen Resultaten geführt Dunbar und Dreyer, ferner auoh
Sommerfeld haben sich günstig über die Apparate geäussert Aus dem
Laboratorium von Flügge sind sie von Kobrak sehr warm empfohlen
worden. Derselbe hat gefunden, dass, wenn man die Milch, wie vorgeschrieben,
erhitzt, sie sich fünf Stunden und darüber auf über 50° erhält, und dass,
wenn sie dann kalt wird, in derselben alle pathogenen Keime zu Grunde
gegangen sind. Hagemann ist der Ansicht, dass die Apparate nicht alle
gleich gut functioniren. Es müsste also die Thermophor-Gesellschaft darauf
hingewiesen werden, dass sie jeden Apparat, welchen sie verkauft, vorher
erst genau auf seine Leistungsfähigkeit prüft, und dass sie nicht etwa die
fabrikmässig hergestellten Apparate ohne Weiteres in den Handel giebt.
In neuester Zeit hat Verney behauptet, dass durch die Temperatur, welche
in den Thermophoren erreicht wird, pathogene Keime, welche künstlich zu¬
gesetzt werden zur Milch, nicht abgetödtet werden, ja er hat behauptet,
dass nach Verlauf von etwa sechs bis sieben Stunden ein colossales Wuchern
der Keime wieder vor sich geht, weil ja dann die Milch eine Temperatur
unter 40° erreicht hat, welche ganz besonders geeignet ist, um die sporen¬
bildenden Organismen zur Vermehrung zu bringen* Er vermag desshalb
auf Grund seiner Untersuchungen die Anwendung des Thermophors zur
Warmhaltung der Säuglingsmilch nicht zu empfehlen.
„Damit möchte ich schliessen, wiewohl das Thema noch keineswegs
vollständig erschöpft ist. Sie haben gesehen, meine Herren, dass auf dem
Gebiete der Hygiene der Molkereiproducte in neuerer Zeit ausserordentlich
viel gearbeitet worden ist. Wir wollen anerkennen, dass grosse Fortschritte
gezeitigt worden sind, dass die Milch und die Molkereiproducte im Grossen
und Ganzen sehr viel besser geworden sind, wie früher, und dass ein hygie¬
nisches Verständniss auch bei den Producenten Platz gegriffen hat. Aber
vom hygienischen Standpunkte müssen wir gleichwohl betonen, dass be¬
stimmte Gefahren trotz aller Vorsicht doch noch bestehen bleiben. Es sind
dies, abgesehen von den giftigen Stoffen der Futtermittel, die Gefahren der
Verbreitung der für den Menschen pathogenen Organismen, und die Ge¬
fahren, welche durch die Zersetzung der Milch bedingt sind. Um diesen
Gefahren vorzubeugen, ist es nöthig, zu verlangen, vom hygienischen Stand*
punkte aus, dass alle Milch, welche in den Handel kommt, nun auch sicher
vorher von diesen krankheitserregenden Keimen und Zersetzungskeimen
befreit wird. Das kann erzielt werden durch ein Pasteurisiren auf eine
Temperatur von 85°. Praktisch wichtig aber ist es vor allen Dingen, dass
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76
Hygiene der Molkereiproducte.
iti den Molkereien alle diese Vorsichtsmaassregeln in der strengsten Weise
durchgeführt werden, dass alle Milch pasteurisirt wird und dass auch, wie
Schlegdendahl bei Besprechung der Typhuserkrankungen, welche durch
Milch hervorgerufen sind, hervorhebt, die Milchkannen, welche die Milch¬
producenten liefern, in der Molkerei nicht nur sorgfältig gereinigt werden,
sondern auch durch Dampf sterilisirt werden. Gerade durch die nicht
gereinigten Kannen soll sehr vielfach der Typhuskeim verbreitet worden
sein. Es ist zu verlangen, dass gute, brauchbare Steriüsations- und Pasteuri-
sationsapparate angewendet werden, wie solche in grosser Zahl zu Gebote
stehen. Herr Prof. Weigmann aus Kiel hat mir mitgeteilt, dass er eine
Anzahl von solchen Apparaten, über deren Gebrauohsfähigkeit er Unter¬
suchungen angestellt hat, nachher hier demonstriren wird.
„Meine Herren, wenn diese hygienischen Forderungen im Molkerei¬
betriebe erfüllt werden, dann können wir sicher sein, dass weiterhin die
Erkrankungen in der ganzen Bevölkerung, namentlich in der Kinderwelt,
abnehmen werden. Es wird dadurch ein ganz ausserordentlicher Fort¬
schritt in der Hygiene gezeitigt sein.“
Hierauf eröffnet der Vorsitzende die Discussion:
Oekonomierath Plehn, Vorsitzender des Deutschen milch-
wirthschaftlichen Vereins (Berlin), betont, dass der Verein, als dessen
Vertreter er hier spreche, auf seine Fahne die Aufgabe geschrieben habe,
die Milchwirtschaft im Allgemeinen zu fördern, nicht etwa bloss die Inter¬
essen der Producenten, und dass der Verein in den 26 Jahren seines Be¬
stehens schon sehr häufig Gelegenheit gehabt habe, auch im Interesse der
Consumenten sein Wqrt in die Wagschale zu legen.
Vielfach sei die Milchwirtschaft von den Hygienikern angegriffen
worden, am meisten wohl vor zwei Jahren auf dem Tuberculosecongress in
Berlin, wo es zu lebhaften Anklagen gekommen sei, die sich soweit ver¬
stiegen, dass einer der Herren gesagt habe, die Landwirte hätten bloss ein
Herz für ihre Schweine und ihre Kälber, nicht aber für ihre Mitmenschen
und deren Kinder. Diese und andere Anschuldigungen seien später von
einem Berliner Arzt in einer Schrift niedergelegt worden, in der sehr weit
gehende Forderungen aufgestellt worden seien, aus denen man aber ersehe,
dass dieser Herr nicht die geringste Kenntniss der landwirtschaftlichen
Productionsverhältnisse habe. Denn abgesehen von einigen Fällen, in denen
sogenannte Luxuswirthschaften vorhanden seien, gebe es sehr viele kleinere
Wirtschaften, in denen doch auch Milch, und gute Milch producirt werde,
welche allen den von ihm formulirten weitgehenden Forderungen durchaus
nicht genügen. Auch verlange der betreffende Arzt, die zulässigen Futter¬
mittel, mit denen die Kühe gefüttert werden dürfen, sollen von der Medicinal-
behörde bekannt gegeben werden, während der Landwirt doch nur das
füttere, was er habe und was er selbst erzeuge, da er doch dafür sorgen
müsse, billig zu füttern und die Milch zu einem Preise herzustellen, der nicht
höher sei, als er beim Verkauf erzielt werden könne.
Nun glaube er aber sicher, dass seitens der Medicinalbehörden Futter¬
mittel wie Fabrikrückstände, z. B. Schlempe von Kartoffeln, oder Schnitzel
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76 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
aus Zuckerfabriken, oder die Rückstände aus den Stärkefabriken wahrschein¬
lich als ein sehr ungesundes und ungenügendes Futter angesehen werden.
Aber zweifellos mit Unrecht. Es sei gar nicht so leicht, festzustellen, ob
eine Milch gut oder schlecht sei. Ein Mittel aber gebe es und das bestehe
darin, dass sich aus einer ungesunden, aus schlechtem Futter hervorge¬
gangenen Milch nicht eine feine Butter herstellen lasse. Nun sei aber bei
zahlreichen Ausstellungen festgestellt worden, dass auch bei Fütterung von
Rübenschnitzeln, von Kartoffelschlempe, von Stärkerückständen eine sehr
gute und feine Butter hergestellt werden könne, vorausgesetzt, dass diese
Stoffe nicht in übermässiger Menge gefüttert werden, dass sie gefüttert werden
mit einer rationellen Beimengung anderer gesunder Futterstoffe. Mit einem
gänzlichen Verbot aller jener Futterstoffe würde man theilweise die Production
von Milch verbieten, und das wäre kein Mittel, der Volkswohlfahrt zu
nützen.
Ferner verlange jener Arzt, dass der für den Verkauf zulässige Mini¬
malwerth an Fettgehalt und das specifische Gewicht von der Medicinalbebörde
bestimmt werde. Nach den langjährigen und sorgfältigen Untersuchungen
von Fleischmann gebe es Kühe, die bei ganz vollständig normalem Ge¬
sundheitszustände, bei ganz normaler Fütterung nur 2 Proc. Fett in ihrer
Milch haben, wodurch der Beweis erbracht sei, dass eine Milch mit nur
2 Proc. Fett nicht gefälscht zu sein brauche. Dem gegenüber sei die An¬
sicht der Medicinalbehörde, dass eine Milch, die weniger als 2*7 Proc. Fett
enthalte, verfälscht sein müsse, nicht haltbar.
Der betreffende Arzt habe wohl einen Rückzug angetreten dadurch,
dass er eine ziemlich matte, einigermaassen entschuldigende Erklärung ver¬
öffentlicht habe. Aber ein Gutes habe die Sache insofern gehabt, als sie die
Landwirthe einigermaassen aufgerüttelt habe. Es sei die Besorgniss auf¬
getreten, dass derartige von einem Arzt in die Welt geschickte Anschuldi¬
gungen doch am Ende in weiten Kreisen geglaubt werden könnten, dass
der Glaube verbreitet werden könnte, die Landwirthe interessirten sich wirk¬
lich nicht für die Gewinnung einer gesunden Milch, nicht für die Sanirung
ihrer Viehheerden. Desshalb sei aus den Kreisen des Deutschen milchwirth-
schaftlichen Vereins ein Gesetzentwurf über die Vertilgung der Tuberculose
unter den Kühen ausgearbeitet worden, der dem Bundesrath zu weiterer
Veranlassung übergeben werden solle. Damit haben die Landwirthe gezeigt,
dass sie unter allen Umständen geneigt seien, alles zu thun, was in ihrer
Macht stehe, um eine gesunde Milch zu produciren.
Allerdings ein wenig Egoismus sei auch dabei, handele es sich doch
auch darum, den Viehstand gesund zu machen oder gesund zu erhalten.
Der Herr Referent habe schon angedeutet, in wie colossaler Weise unsere
Viehstände verseucht seien. Es werde geschätzt, dass von den in Deutsch¬
land vorhandenen ungefähr zehn Millionen Kühen ungefähr die Hälfte ver¬
seucht sei. Die Landwirthschaft habe also das grösste Interesse, die Vieh¬
seuchen möglichst zu vertilgen. Der Gesetzentwurf gehe dahin, dass alle
diejenigen Kühe, welche in einer Form tuberkelkrank seien, dass unmittel¬
bar die Tuberkelbacillen in die Milch übergehen können — also bei Euter-
tuberculose und bei allgemeiner Tuberculose, bei welcher die Tuberkelbacillen
in die Blutbahn übergehen können — getödtet werden sollen, gegen eine
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Hygiene der Molkereiproducte.
77
Entschädigung, die von Staat und Viehbesitzer gemeinschaftlich getragen
werde. Dies zeige, dass die Landwirthe Interesse haben, an ihrem Theil
an der Arbeit mitzuwirken.
Noch einige Bemerkungen zu den Leitsätzen wolle er machen. Der
Herr Referent habe in dankenswerther Weise ausgesprochen, es lege den
Molkereigenossenschaften, deren Mitwirkung er besonders hervorhebe, nahe,
folgende Anforderungen zu stellen:-, es sei also nicht davon die Rede,
dass die Behörden die Anforderungen stellen sollen.
In einem Punkte aber müsse er dem Referenten widersprechen. Die
absolute Durchführung der Pastenrisirung aller zum Verkauf gelangenden
Milch sei nicht möglich, oder wenigstens müsse. man, wenn man sie aus¬
führen wolle, einen grossen Theil der Milchproduction verbieten. Das
Pasteurisiren koste Geld, und desshalb sei es nicht möglich, in den kleinen
Betrieben diese Maassregel durchzuführen. Vielfach seien es kleine Ge¬
werbetreibende, die einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb haben, eine
kleine Parcelle besitzen oder sich eine solche pachten, hier ihre zwei, drei,
vier Kühe haben, und die Milch in die nächsten Häuser den Consumenten
bringen. Von solchen Leuten die Sterilisation oder die Pasteurisation zu
verlangen und durchzuführen, sei unmöglich, dies komme einem gänzlichen
Verbot dieser auch für die Consumenten nützlichen Betriebe gleich. Für
solche Leute müsse eine Ausnahme gemacht werden, und dies sei auch nicht
so gefährlich. Man sollte sich nur klar machen, wie eine so gelieferte Milch
im kleinen Haushalte behandelt werde; in der Regel werde die Hausfrau sie
gleich abkochen, und so werde sie nicht leicht dem Verderben in der Küche
ausgesetzt sein. So zweckmässig die verschiedenen Apparate und ganz be¬
sonders die Soxhlet’sehen auch für -die Wohlhabenderen seien, für die in
ärmeren Verhältnissen Lebenden seien sie nicht anwendbar, weil sie zu
theuer seien und zu zeitraubend in der Anwendung. Er stimme dem Herrn
Referenten durchaus bei. dass die Milch im Allgemeinen nicht im rohen
Zustande in den Handel kommen solle, wo das aber nicht zu vermeiden sei,
solle sie im Haushalt gleich aufgekocht werden.
Professor Dr. Weigmann (Kiel) will den Ausführungen des Herrn
Referenten über das Uebergehen gewisser Stoffe des Futters in die Milch
einige Mittheilungen zufügen. Herr Geheimrath Löffler habe bereits ge¬
sagt, dass das ganze Capitel ein noch sehr dunkles sei. In der That seien
die widersprechendsten Resultate bei solchen Versuchen zu Tage gekommen,
und auch heute sei gerade über diesen Punkt noch sehr wenig Bestimmtes
bekannt. Man habe Versuche gemacht mit Stoffen, welche ganz entschieden
sehr deutlich hervortreten müssten, wenn sie in die Milch übergingen, z. B.
mit ätherischen Oelen, mit Fenchel u. s. w., und habe gefunden, dass diese
Stoffe ganz entschieden nicht in die Milch übergehen. Auf der anderen
Seite habe man gefunden, dass Stoffe, welche weniger auffallend seien, in
die Milch übergehen. So gehe z. B. bei Fütterung von Baumwollensaat
ein Körper, welcher im Baumwollensaatfutter enthalten sei, thatsächlich in
die Milch über und lasse sich chemisch nachweisen.
Sehr interessant sei das, was Herr Geheimrath Löffler über die Bil¬
dung von Solanin durch Bacterien erwähnt habe. Er könne hier hinzu-
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78 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
fügen, dass auch er vielfach Beobachtungen darüber gemacht habe, dass
Stoffe, welche sonst nur von Pflanzen producirt werden, auch von Bacterien
producirt werden können. So z. B. habe er die Beobachtung gemacht, dass
der sogenannte Rübengeschmack der Butter bacteriellen Ursprungs sei, dass
nicht irgend ein Stoff aus der Rübe in die Butter übergehe, sondern dass
es Bacterien gebe, welche diesen sogenannten Rübengeschmack und Rüben-
geruch thatsächlich erzeugen, nicht allein in der Milch erzeugen, sondern
auch erzeugen auf Gelatineculturen.
Was nun die Uebertragung von Krankheitskeimen durch die
Milch auf den Menschen beim Genüsse betreffe, so sei, nachdem auf dem
Tuberculosecongress in Berlin und auf dem Congress der Thierärzte in
Karlsruhe in beiden Versammlungen mit grosser Bestimmtheit ausgesprochen
worden sei, dass die Uebertragung der Tuberculose von dem Vieh auf
den Menschen nur durch die Milch stattfinden könne, es Aufgabe der Ver¬
tretungen der Milchwirtschaft, speciell des Deutschen milchwirthschaftlichen
Vereins gewesen, auch diese Frage in Behandlung zu nehmen. Der Deutsche
milchwirthschaftliche Verein habe desshalb eine Commission beauftragt, diese
Frage bis ins Detail hinein zu verfolgen und zu bearbeiten. Es sei ihm als
dem Vertreter der bacteriologischen Wissenschaft in dieser Commission die
Aufgabe zugefallen, die Literatur durchzijsehen nach der Richtung hin, in
welcher Weise eventuell Tuberkelbacillen aus der Milch entfernt werden
können durch das Erhitzen. Wie schon vorhin durch den Herrn Referenten
erwähnt worden sei, widersprechen sich hier ebenfalls die Resultate, die
durch die verschiedenen Versuche, die angestellt worden seien, sich ergeben
haben. Während der Eine behaupte, es könne der Tuberkelbacillus selbst
durch Kochen nicht abgetödtet werden, und ein Anderer: es könne der Tu¬
berkelbacillus bei 30 Minuten langem Erhitzen auf 60 bis 65° nicht abge¬
tödtet werden, behaupten Andere, dass das bei 60 bis 65° schon innerhalb
15 Minuten der Fall sei, — ja sogar schon innerhalb 10 Minuten —, und
dass sogar eine momentane Erhitzung— allerdings auf eine höhere Tempera¬
tur, auf 85 ° —, zur Abtödtung genüge. Was speciell diesen Temperaturgrad
von 85 ° anlange, so sei er sowohl nach der rein bacteriologischen Seite, wie
auch nach der molkereitechnischen Seite hin von besonderer Wichtigkeit.
Es sei nämlich die Temperatur von 85° diejenige, welche in der Molkerei¬
technik eventuell noch angewendet werden könne bei der Erhitzung der
Milch und bei der Erhitzung des Rohmaterials für die Molkereiproducte.
Auf der anderen Seite sei die Temperatur von 85 ° diejenige, welche am
kürzesten einzuwirken brauche, um die Krankheitskeime abzutödten.
Es seinun für ihn von besonderer Wichtigkeit gewesen, in dieser Commis¬
sion ein Beweismaterial beizubringen über die Frage, ob die Pasteurisirungs-
apparate, wie sie im Molkereibetriebe gebräuchlich seien, brauchbar seien
für die Abtödtung der Krankheitskeime oder nicht. Da nach dieser Rich¬
tung hin in der Literatur verhältnissmässig wenig gearbeitet worden sei,
mit Ausnahme einiger, einen einzelnen Apparat betreffenden Arbeiten, so
habe er sich daran gemacht, selbst Versuche anzustellen. Er habe eine
ganze Reihe von verschiedenen Pasteurisirungsapparaten, der neueren aller¬
dings, wie sie im Molkereigewerbe im Gebrauch seien, in der Versuchs-
molkerei der Versuchsanstalt in Kiel vereinigt und habe dort in gleich-
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Hygiene der Molkereiproduöte.
massiger Weise Versuche abgestellt, erstebs über die Frage, wie lauge die
Mileh in einem Apparat verweile und zweitens ob vielleicht, wenn auch
nicht gerade der Tuberkelbacillus, so doch Keime, welche im vegetativen
Zustande sich befinden, durch die Erhitzung mit dem betreffenden Apparate
abgetodtet werden. Er habe hier eine Reihe von Abbildungen angebracht,
welche die ConBtruction der Pasteurisirungsapparate veranschaulichen.
(Der Vortragende demonstrirt an Zeichnungen die Construction mehrerer
gebräuchlicherer Milchpasteurisirungsapparate und beschreibt die Durch»
führung von Versuchen, welche Aufschluss geben, wie sich in einem be¬
stimmten Moment die in einen Apparat eintretende Milchportion in diesem
weiter bewegt, und nach welcher Zeit die einzelnen Theilmengen dieser
Milchportion wieder austreten. Die Resultate dieser Versuche, in Curven
zur Darstellung gebracht, lassen erkennen, wie lange die einzelnen Antheile
einer Milchportion der Erhitzung ausgesetzt sind, wie lange sie also auf die
beabsichtigte Temperatur erhitzt worden sind.)
Aus den Versuchen nun habe sich ergeben, dass bei allen Pasteuri-
sirungsapparaten die eintretende Milch eine starke Vertheilung erfahre, so
dass einzelne Antheile recht bald, andere sehr viel später aus dem Apparat
wieder austreten, und dass je nach der Construction des Apparates der
ganze Verlauf der Durchmischung und des Wiederaustrittes der Milch wie
auch die Dauer der Erhitzung der einzelnen Antheile einer Milchportion
verschieden sei.
Bei den einfachsten Pasteurisirapparaten trete nach kaum einer halben
Minute schon ein allerdings sehr geringer Theil der Milch aus, es folgen
dann rasch grössere Mengen, so dass bei einer Minute nach dem Eintritt
der Milch der Antheil am grössten sei. Immerhin werden drei Viertel der
gesammten Milchportion einer Erbitzungsdauer von etwa 30 Secunden bis
5 Minuten ausgesetzt.
Bei den complicirten Apparaten „mit getrennter Führung“, bei denen
die Milch erBt in einen Vorraum gelange, in welchem sie schon so ziemlich
auf die gewünschte Temperatur gebracht werde und dann erst in einen
zweiten Raum, in welchem sie der Temperatur noch einige Zeit ausgesetzt
sein solle, — verbleiben auch die ersten Antheile länger im Apparat, werden
also länger erhitzt, so z. B. bei dem Apparat vom Bergedorfer Eisenwerk
nahezu zwei Minuten.. Es handle sich dabei jedesmal um ganz geringe
Mengen, welche, wie aus den Curven ersichtlich, gegenüber der Gesammt-
menge kaum in Betracht kommen, wirklich beachtenswerthe Mengen treten
erst später aus. Für diese Antheile Bei dann die Erhitzungsdauer je nach
dem Fassungsvermögen des Apparates verschieden lang; je grösser der
Apparat, desto länger werde die Erhitzung hinausgeschoben, weil eben die
Milchmengen, mit welchen die eintretende Milch im Apparat vermischt
werde, viel grösser seien. So sei die Erhitzungsdauer für drei Viertel der
gesammten Menge einer in einem bestimmten Moment in den Apparat ein¬
tretenden Milchpoition beim wenig geräumigen Kleem ann’schen Hochdruck¬
pasteur lVa ff Minuten, beim umfangreichereren Hochdruckpasteur vom
Bergedorfer Eisenwerk 4 bis 19 Minuten.
Aus den Versuchen ergebe sich also, dass die grössere Menge der durch
einen Pasteurisirapparat hindurchgehenden Milch sicher mehrere Minuten
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lang erhitzt werde, und dass nur ganz verschwindend kleine Mengen
sehr frühzeitig austreten, also nur sehr kurze Zeit der Erhitzung aus¬
gesetzt seien.
Man könnte nun glauben, dass auf diese Weise Keime der Pasteuri¬
sirung entwischen könnten, und es sei das auch in der medicinischen Li¬
teratur bisher behauptet worden. Es habe ihm desshalb sehr viel daran
gelegen, festzustelleu, ob eventuell Krankheitskeime auf diese Weise der
Pasteurisirung, der Vernichtung, entwischen. Er sei nun nicht in der Lage,
in einem praktischen Betriebe mit Krankheitskeimen selbst zu arbeiten. Es
würde ja vielleicht mit Tuberkelbacillen möglich gewesen sein, da man ja
voraussetze, dass an und für sich in der Milch Tuberkelbacillen enthalten
seien. Aber immerhin leide der Ruf selbst einer Versuchsmolkerei darunter,
wenn solche Versuche angestellt werden, und es sei ihm, wie gesagt, nicht
möglich ge wesen, direct den Nachweis mit Tuberkelbacillen zu liefern. Er
habe desshalb den indirecten Beweis angetreten, so zwar, dass er der ge-
sammten zu erhitzenden Milch eine grosse Menge von einer Milchcultur des
Bacillus prodigiosus zugefügt habe, um dann zu sehen, ob diese Bacterien&rt
nach dem Erhitzen in der Milch wieder auftrete. Speciell habe er diesen
Bacillus prodigiosus gewählt, weil dieser verhältnissmässig leicht wiederzu¬
finden und leicht nachzuweisen sei, und auf diese Weise ja das Resultat am
besten gesichert sei. Es habe sich nun gezeigt, dass in keiuem Falle, auch
selbst bei den einfachen Apparaten, — bei denen die Milch eben eintrete,
durchgerührt und dann weiter befördert werde, — in der erhitzten Milch
der Bacillus prodigiosus sich mehr gefunden habe, und er schliesse daraus,
dass thatsächlich die Keime, soweit sie in vegetativer Form sich vorfinden,
dass heisse also in lebender Form, nicht in der sogenannten Dauerform, als
Sporen, — der Pasteurisirung bei 85° C. erliegen, auch wenn sie mit den
einfachen Apparaten ausgeführt werde. Auch sei ihm vor Kurzem mit-
getheilt worden, dass in dem Institut für Infectionskrankheiten directe Ver¬
suche mit Tuberkelbacillen gemacht worden seien, und dass auch diese Ver¬
suche gezeigt haben, dass Tuberkelbacillen sich in der pasteurisirten Milch
nicht mehr finden.
Man dürfe daher als sicher annehmen, 1. dass selbst eine sehr kurze
Erhitzungsdauer für die Abtödtung vegetativer Keime genüge, und dass
2. unsere gebräuchlichen Pasteurisirapparate der .an sie zu stellenden
Anforderung, nämlich der sicheren Abtödtung vegetativer Bacterien,
gerecht werden.
Da die Krankheitskeime, mit Ausnahme des Milzbrandbacillus, bis jetzt
nur in vegetativer Form bekannt seien und in Milch auch nur in dieser
Form vorzukommen scheinen, so dürfe man auch folgern, dass die Pastenri-
sirung der Milch bei 85° C. mit unseren Apparaten genüge, um die Krank¬
heitskeime in der Milch zur Vernichtung zu bringen.
Das Molkereigewerbe würde also in der Lage sein, mit ihren Pasteurisir-
apparaten eine krankheitskeimfreie Milch herzustellen und an den Markt
zu bringen.
Wie verhalte sich aber das consumirende Publicum zu solcher pasteuri¬
sirten Milch? In verschiedenen Städten sei von Seiten der Molkereien der
Versuch gemacht worden, pasteurisirte Milch an das Publicum abzusetzen,
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Hygiene der Molkereiproducte.
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der Erfolg sei jedoch in den meisten Fällen ein ungünstiger gewesen:
Das Publicum habe sich gegen solche „gekochte“ Milch ablehnend verhalten.
Es möge sein, dass in den betreffenden Fällen nicht ganz richtig ver¬
fahren worden sei, dass vielleicht zu hoch erhitzt worden sei und es möge
vor Allem an der nöthigen Aufklärung und Vorbereitung des Publicums
gefehlt haben. Thatsache sei jedoch, dass die mit unseren Pasteurisir-
apparaten — selbst den einfachsten, also nur kürzere Zeit erhitzenden — be¬
handelte Milch etwas Kochgeschmack habe. Für manchen Consumenten
sei dieser Kochgeschmack allerdings kaum bemerkbar, namentlich wenn die
Milch kühl genossen werde, wieder andere aber nehmen ihn sofort wahr,
glauben dann, dass sie nicht frische, sondern alte, gestandene Milch vom
Milchlieferanten erhalten haben, und weisen sie zurück.
Es gelinge also nicht so ohne Weiteres, die Marktmilch durch eine
mittelst Pasteurisirung krankheitskeimfrei gemachte Milch zu ersetzen;
jedenfalls werde es den Meiereien nicht gelingen, wenn man nicht etwa durch
Anwendung einer besonderen Bezeichnung und durch eine besondere Art
des Verkaufs, etwa in Flaschen, das Publicum besonders darauf aufmerksam
mache. Der Vertrieb solcher „ krankheitskeimfreier Milch“ in Flaschen
vertheuere aber die Milch, wenn auch nur vielleicht um 1 bis 2 Pfg. pro
Liter, und das sei eine Mehrausgabe, welche von demjenigen Theile des
Publicums gemieden werde, der die meiste Milch verbrauche, und welchem
man den Vorzug des Genusses gesunder Milch ganz besonders gerne zu¬
wenden möchte. Man würde also eine allgemeine Einführung der pasteuri-
sirten Milch nur schwer erreichen können.
Immerhin aber sei sie wünschenswerth, und da viele Consumenten die
Milch doch erst nach vorheriger Aufkochung gemessen, so dürfte sich mit
der Zeit doch ein wenn auch beschränkter Absatz für die pasteurisirte Milch
finden, wenn nur das Publicum genügend aufgeklärt und darauf aufmerksam
gemacht werde, dass es unter einer besonderen Bezeichnung, etwa unter der
von Forsten bereits eingeführten Bezeichnung „krankheitskeimfreie
Milch“, eine gesunde und länger haltbare Milch erhalte.
Freilich werde auch dies immer nur ein Nothbehelf bleiben, und der
vom Deutschen milchwirtschaftlichen Verein eingeschlagene Weg, die Milch
indirect durch das Vieh zu saniren, sei entschieden der richtigere. Falls
aber Einführung der pasteurisirten Milch nothwendig werden sollte, oder
ein Wunsch des Publicums nach solcher Milch laut werden sollte, so dürfe
damit gerechnet werden, dass technische Hindernisse nicht bestehen, und
dass das Molkereigewerbe in der Lage sei, eine gesunde und doch wohl¬
schmeckende Mich zu liefern.
Professor Dr. Lehmann (Würzburg) kann auf Grund einer zwei¬
jährigen praktischen Erfahrung bei der Controle einer städtischen Molkerei
die Durchführbarkeit der von dem Referenten ausgesprochenen Gedanken
vollständig bestätigen. Zwei Jahre lang, 1898 bis 1900, habe er den Be¬
trieb einer mittleren Molkerei in Würzburg in der Weise controlirt, dass er
einmal das Pasteurisiren des Rahmes, aus dem die Butter hergestellt werde,
zweitens das Sterilisiren der Kindermilch bacteriologisch sorgfältigst
untersucht habe. Mit einem Bergedorff’schen Milchpasteuriseur oder
Vierteljnhrsschrift für Gesundheitspflege, 1902. c
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82 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. offen tl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Rahmp&8teuri8eur sei Rahm auf 85°G. erwärmt worden, die Temperatur,
die jetzt allgemein als eine besonders empfehlenswerthe gelte. Auf diese
Temperatur sei er in erster Linie durch Kostversuche gekommen, und dann
durch Versuche im Becherglase heim Umrühren mit dem Glasstabe. Dabei
habe sich ergeben, dass bei 85° C. eine enorme Verminderung der B&cterien
eintrete, ohne dass eine nennenswerthe Veränderung des Geschmackes her¬
vorgebracht werde. Als Mittel von 60 bacteriologischen Untersuchungen
habe sich ergeben, dass die Keimzahl, die vor dem Pasteurisiren im Rahm
zwischen 12 und 30 Millionen geschwankt habe, nach dem Passiren des
Apparates im Durchschnitt nur noch 8000 betragen habe, bei vielen Ver¬
suchen aber auch weniger: 5000, 2000, 1000, selbst 0. Aus diesen Ver¬
suchen dürfe man wohl den Schluss ziehen, dass die Gefahr, welche durch
den Genuss der Milch oder des Rahms, oder der daraus hergestellten Butter
hervorgebracht werden könne, durch das Erhitzen während 10 Minuten auf
85° C. auf ein kaum taxirbares Minimum herabgesetzt werde. Er glaube,
dass diese Constatirung im Zusammenhang mit den Mittheilungen der
Herren Löffler und Weigmann weiter dazu beitragen werde, die Sache
zu klären.
Zur Frage der Möglichkeit, in derartigen Betrieben eine wirklich keim¬
freie Milch herzustellen, könne er mittheilen, dass er in den zwei Jahren
über 500 Milchproben in dem Zustande untersucht habe, wie sie eingeliefert
worden seien, und kurz nach der Sterilisirung, und dass diese Proben alle
steril gewesen seien, d. h. dass sie kein Wachsthum auf der Gelatineplatte
ergeben haben. Sie seien aber, mit Gelatineplatten geprüft, auch noch steril
gewesen, nachdem sie 14 Tage bei Zimmertemperatur gestanden hätten.
Die ganz wenigen Ausnahmen habe man zurückführen können entweder auf
eine Beschädigung des Gummis oder — glücklicher Weise nur einmal —
auf eine absichtliche directe Nachlässigkeit des Meiers. Der Meier, nachdem
er den Tag vorher einen Verweis erhalten habe, habe gesagt, er wolle doch
einmal sehen, ob diese complicirten Sterilisirungsgeschichten wirklich noth-
wendig seien, und habe dann nur ganz kurze Zeit sterilisirt. Diese Milch
sei nicht steril gewesen, sei bei Zimmertemperatur sehr rasch verdorben.
Es sei desshalb gewiss wichtig, wie der Herr Referent gesagt habe, dass in
Molkereien die grösste Gewissenhaftigkeit und Reinlichkeit in der Hand¬
habung der Vorschriften herrschen müsse, es sei dies aber auch eine der
Hauptschwierigkeiten, eine Molkerei tadellos zu leiten.
Dl*, med. Kurt Möller (Erfurt) knüpft daran an, dass der Herr Referent
gesagt habe, dass es wie das Einschlagen einer Bombe gewirkt habe, als in
diesem Jahre Herr Geheimrath Koch die Lehre von der Nichtidentität der
Tuberculose der Rinder und des Menschen aufgestellt habe, und gewiss
werde dies Erstaunen Alle ergriffen haben, die seit etwa zwei Jahrzehnten
in diesem Glauben zu leben gewohnt seien. Es seien ja zweifellos ausser¬
ordentlich beachtenswerthe Experimente von Schütz und Koch, die be¬
wiesen haben, dass ein Uebergang von Menschentuberculose auf Rinder
nicht stattfinde. Zweifellos seien auch sehr beachtenswerth die Beobach¬
tungen, die der Herr Referent erwähnt habe, die von Aerzten an Menschen
gemacht seien. Es sei ja natürlich, dass es nur sehr wenige Aerzte geben
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Hygiene der Molkereiproducte.
werde, die derartige Experimente unternehmen, und in Folge dessen werde
die Zahl solcher Experimente immer eine kleine bleiben. Desswegen sei
man auf casuistische Mittheilungen zur Tuberculosefrage angewiesen, die
sich im Laufe der Zeit vermehren werden, wenn erst einmal eine Grundlage
gegeben sei. Diese zu beschaffen, sei der Zweck seiner Worte.
Er verfüge über zwei Beobachtungen, die schon lange zurückliegen,
die er aber nicht veröffentlicht habe. Denn da wir Alle in der Anschauung
über die Identität der Rinder- und Menschentuberculose gelebt haben, seien
dieselben von gar keinem besonderen Interesse gewesen. Beide Beobach¬
tungen beziehen sich auf junge, gesunde Metzger, von denen beim Schlachten
perlsüchtiger Rinder der Eine sich in den Unterarm, der Andere in den
Finger geschnitten habe, und bei denen beiden kurze Zeit nach diesem
Schnitt ausgedehnte Sehnenscheidentuberculose aufgetreten sei, in deren In¬
halt er Tuberkelbacillen habe nachweisen können. Diese beiden Fälle
scheinen ihm immerhin der Erwähnung werth. Durch die Koch-Schütz’-
schen Experimente werde zwar gezeigt, dass der Uebergang der Menschen¬
tuberculose auf die Rinder nicht möglich sei, und ferner beweise das Kranken¬
material, welches sehr wenige primäre Darmtuberculosen aufweise, dass die
Tuberculose der Rinder den menschlichen Darmcanal nur schwer oder gar
nicht inficire. Vielleicht aber auch seien in den Verdauungssäften bestimmte
chemische Ingredienzien enthalten, die die Tuberkelbacillen im Magendarm¬
canal abtödten oder abschwächen, jedenfalls aber scheine es ihm möglich,
dass durch eine derartige directe Infection, wie er sie geschildert habe, die
Tuberculose vom Rinde zum Menschen übertragen werden könne. Auf¬
schluss darüber, ob diese Anschauung richtig sei oder nicht, könne natür¬
lich erst die Zukunft bringen, in der der Impfversuch auf Thiere nicht unter¬
lassen werden dürfe.
Reg. u. Geh. Medicinalrath Dr. Rapmund (Minden) erwähnt, dass
es eine bekannte Thatsache Bei, dass Typhus sehr häufig durch Milch ver¬
breitet werde. Aber die in dieser Beziehung angestellten Ermittelungen
haben stets ergeben — wenigstens bei nicht wenigen derartigen Epidemieen,
die er in seiner amtlichen Eigenschaft zu beobachten Gelegenheit gehabt
habe, — dass die Ursache der Verschleppung nicht in der Milch, sondern in
dem Wasser zu suchen gewesen sei, mit dem entweder die Milchgefässe ge¬
spült oder die Milch verdünnt worden sei. Um so mehr müsse desshalb
darauf Werth gelegt werden, dass bei allen Producenten, der Forderung
des Herrn Referenten entsprechend, einwandfreies Wasser vorhanden sei.
Das sei eine Forderung, deren Erfüllung, wie er dem Herrn Oekonomierath
Plehn gegenüber betonen möchte, nicht viel Geld koste, und nicht bloss
dem Milchconsumenten, sondern auch Milchproducenten und dessen Familie
selbst zu Gute komme.
Der von Herrn Oekonomierath Plehn mehrfach erwähnte Berliner Arzt
sei übrigens mit manchen seiner Forderungen gar nicht so über das Ziel
hinausgeschossen. Wenn er z. B. verlange, dass bei der Milchproduction
Reinlichkeit herrsche, so könne man ihm nur vollkommen beistimmen, und
wenn er wirklich, wie Herr Oekonomierath Plehn mitgetheilt habe, eine
entschuldigende Erklärung wegen seiner zu weit gehenden Forderungen ab-
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84 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
gegeben habe, so hätte er das sicherlich nicht gethan, wenn er häufiger in
Ställe hineingekommen wäre und Gelegenheit gehabt hätte, das Melken der
Kühe zu beobachten. Hierbei lasse die Reinlichkeit erfahrungsgemäss viel
zu wünschen übrig, obwohl sie nichts koste; denn Seife und Wasser seien
bekanntlich billig. Es sei gar nicht nöthig, dass die Ställe cementirt oder
gar mit Fliesen luxuriös ausgelegt seien, aber dass Reinlichkeit im Stalle
herrsche, dass derjenige, der die Kühe melke, seine Arbeit mit reinen Händen
verrichte, dass er das Euter vorher ab wasche u. dergl., das sei eines der
wichtigsten Haupterfordemisse der Milchproduction, dessen Erfüllung nichts
koste. Und das sollten sich die Herren Landwirthe merken.
Was nun die Uebertragung von Diphtherie und Scharlach durch die
Milch betreffe, so habe bei allen von ihm in dieser Beziehung beobachteten
Fällen eine sorgfältig angestellte Ermittelung stets ergeben, dass nicht die
Milch, sondern die Person des Milchproducenten oder Milchhändlers den
Zwischenträger gebildet habe, also durch persönliche Uebertragung von
Haus zu Haus die Infection hervorgerufen worden sei. Um derartige Ueber-
tragungen zu verhüten, könne nicht streng genug verfahren werden. Wie
häufig komme es vor, dass in einem Hause, in dem eine ansteckende Krank¬
heit herrsche, diese verheimlicht werde, bloss um den Milchhandel anstands¬
los fortsetzen zu können! Das müsse aber streng verboten werden; und
die Beachtung dieses Verbots koste ebenfalls nichts.
Herr Oekonomierath Plehn habe behauptet, dass der mehrfach erwähnte
Berliner Arzt wenig verwaltungsrechtliche Kenntnisse an den Tag gelegt
habe, indem er verlangt habe, dass jeder, der Milchhandel treibe und Milch
producire, eine Concession haben müsse. Das sei wohl von dem Producenten
auch nicht gemeint, sondern nur, dass jeder, der Milch in der Stadt ver¬
kaufen wolle, dies vorher bei der Polizeibehörde anzumelden habe. Zu einer
solchen Vorschrift sei die Polizeibehörde ebenso berechtigt, wie zum Erlass
besonderer Bestimmungen für den Verkauf von Kindermilch u. dergl. Sie
könne z. B. vorschreiben, dass Milch als „Kindermilch“ nur verkauft werden
dürfe, wenn der betreffende Milchproducent bestimmten Anordnungen in
Bezug auf Fütterung und Reinhaltung der Milchkühe u. s. w. genüge, und
wenn er sich einer ständigen thierärztlichen Controle unterstelle. Solche
Vorschriften gebe es in vielen Städten und seien hier hervorgegangen aus
der betreffenden städtischen Polizeiverwaltung nach vorherigen Verhand¬
lungen und im Einvernehmen mit den Landwirthen. Ein derartiges Vor¬
gehen sei dringend erwünscht. Denn nur wenn diejenigen Leute, die Milch
verkaufen wollen, dies polizeilich an melden müssen, könne auch die erforder¬
liche Controle über sie geführt werden; dann sei die Polizeibehörde auch
weit eher in der Lage zu controliren, ob in dem Hause des Milchhändlers
eine ansteckende Krankheit herrsche.
Professor Dr. Carl Fraenkel (Halle) erwähnt, dass es auf Grund
der neueren Untersuchungen wohl keinem Zweifel mehr unterliege, dass es
möglich sei und sicher gelinge, die Milch von allen pathogenen Bacterien
zu befreien, wenn man sie nur eine entsprechend lange Zeit hindurch auf
85°C. erwärme, d. h. der Pasteurisirung unterwerfe. Aber dazu bedürfe
es, wie namentlich auch die Ausführungen von Prof. Weigmann dargethan
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Hygiene der Molkereiproducte.
hätten, einer verhältnissmässig recht sorgfältigen Behandlung der Apparate
und einer genauen Controle ihrer Thätigkeit, um zu sicheren Ergebnissen
zu gelangen. Dass das in der Praxis zuweilen, sogar häufig, nicht geschehe,
dafür habe der Herr Referent ein ganz interessantes Beispiel mitgetheilt.
Unter Umständen benutze die mit der Wartung derartiger Apparate be¬
traute Persönlichkeit als Thermometer ihre Hand, die hierfür doch kein
zuYerlässiges Instrument sei. Desswegen wolle es ihm scheinen, als ob die
Sterilisationsapparate im engeren Sinne, die mit Siedetemperaturen
arbeiten, gewisse Vorzüge besitzen. Wenn Dampf entwickelt werde oder
die Milch ins Sieden gerathe, so sei dies ein Ereigniss, das einer missdeut¬
lichen Auslegung nicht mehr zugänglich erscheine, und also einen sicheren
Anhalt dafür gewähre, dass der Apparat in der gehörigen Weise functionire.
Nun habe man aber gegen den Gebrauch solcher Sterilisationsapparate
eine Reihe von Bedenken geltend gemacht. Abgesehen davon, dass durch
sie die Milch vertheuert werde, solle dadurch die Zusammensetzung der
Milch verändert werden, ihre Wirkung solle nicht ganz zuverlässig sein, es
solle eine Anzahl von Keimen ihrer Wirkung entgehen u. dergl.
Was die Veränderung in der Zusammensetzung der Milch betreffe, so
müsse er auf Grund eingehender Versuche und Erfahrungen behaupten, dass
diese sich innerhalb bescheidener, erträglicher Grenzen halte, wenn man ge¬
wisse Vorsichtsmaassregeln beobachte, wenn die Milch also beispielsweise in
kleinen Glasgefässen der Erhitzung ausgesetzt werde, wenn man die Gefässe
zunächst im offenen Zustande dem Apparat überantworte und erst später
schlies8e, wenn man die Sterilisationstemperatur nicht wesentlich über 100° C.
steigere, ihre Dauer nicht über eine halbe Stunde hinaus ausdehne u. dergl. m.
So behandelte Milch zeige weder eine Ausscheidung des Fettes aus dem
Emulsionszustande noch eine wirklich auffallende Veränderung im Ge¬
schmack oder in der Färbung, und eine derartige Milch könne doch völlig
keimfrei sein.
Seit ungefähr vier Jahren werde in seinem Institut beispielsweise eine
von der Halleschen Molkerei in der an gedeuteten Weise behandelte Milch
auf ihren Keimgehalt untersucht, und die Resultate seien ausserordentlich
günstige. Die sterilisirte, von Krankheitskeimen befreite Milch sei, unter
welcher Bezeichnung sie in den Handel gebracht werde, bei Zimmertempe¬
ratur selbst in den heissesten Sommertagen stets unzersetzt und keimfrei
geblieben, sie habe sogar die Feuerprobe eines wochenlangen Aufenthalts im
Brutschrank meist ohne Schaden bestanden, und so gut wie niemals sei
hierbei eine Flasche der Zersetzung anheimgefallen oder habe sich bei ge¬
nauer bacteriologischer Prüfung als keimhaltig erwiesen. Allerdings sei
diese Milch auch in der sorgfältigsten und saubersten Weise, unter Beob¬
achtung aller derjenigen Vorsichtsmaassregeln gewonnen worden, auf welche
der Vorredner mit gutem Recht hingewiesen habe. Das sei ja gewiss eine
unerlässliche Vorbedingung für den Erfolg aller weiteren Maassnahmen,
dass man schon im Kuhstall die genügende Sorgfalt beobachte.
Er wiederhole, auch die Pasteurisirung möge unter Umständen ebenso
befriedigende Ergebnisse liefern wie die Sterilisation; er sei keineswegs ein
einseitiger Anhänger der letzteren. Aber er müsse doch dem Leitsatz des
Herrn Referenten gegenüber darauf verweisen, dass man vorläufig eine
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ö6 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
allgemeine Pasteurisirung oder Sterilisirung der Milch kaum verlangen
könne, weil eine solche immer nur im Grossbetriebe möglich sei. Und
desshalb komme er nun zu dem Schluss, dass auf dem Gebiete der Milch¬
hygiene so gut wie auf dem der Fleischhygiene eine wirkliche Besserung
im Allgemeinen nur von einer immer weiteren Ueberführung der Klein¬
betriebe in den Grossbetrieb erwartet werden könne; die vielen Kleinbetriebe
seien in der That ein Uebel ersten Ranges für die Milchhygiene. Ein sehr
wesentlicher Fortschritt nach dieser Richtung sei die Bildung von Genossen-
schaftsmolkereien. Aber auch damit sei man noch keineswegs am Ziel.
Das werde vielmehr erst erreicht sein, wenn einmal wie für das Fleisch die
Schlachthöfe, so für die Milch ähnliche Anstalten ins Leben gerufen seien,
die den ganzen Verkehr von einer gemeinsamen Stelle aus regeln und be¬
aufsichtigen. Die Casse-Helm’sehe Eismilch gewähre die Möglichkeit, in
sehr viel ausgedehnterem Maasse, als das bisher habe geschehen können,
diesen Weg zu betreten.
Die von dem Vorredner erwähnte, vielfach behauptete Uebertragung
von Diphtherie und Scharlach durch die Milch könne man sich z. B. für
Diphtherie vom bacteriologischen Standpunkte recht schlecht erklären, da
der Diphtheriebacillus sich nur bei Temperaturen von etwa 20 bis 22° C.
entwickele, zudem nicht in der Milch gedeihe, wenn diese nicht sterilisirt
und von anderen concurrirenden Bacterien befreit sei. Wie solle er also in
der Milch die angedeutete Rolle spielen können? Da sei ganz gewiss mit
der Möglichkeit zu rechnen, dasB nämlich mit den Gefässen, in denen die
Milch auf bewahrt werde, und die durch erkrankte Angestellte der betreffen¬
den Milchwirthschaft verunreinigt, berührt seien, der Ansteckungsstoff seine
Ausbreitung finde.
Hiermit ist die Discussion geschlossen und es erhält das Schluss¬
wort:
Referent Geh. Med.-Rath Professor Dr. Löffler. „Meine Damen
und Herren! Ich freue mich, dass im Grossen und Ganzen das, was ich
gesagt habe, keinen Widerspruch erfahren hat, sondern als sachgemäss an¬
erkannt worden ist.
„Was Herr Oekonomierath Plehn gesagt hat in Bezug auf die Aus¬
führungen des Arztes aus Berlin, ist ja von Herrn Geheimrath Rapmund
schon zum Theil als nicht richtig zurückgewiesen worden. Aber ich muss
doch noch hervorheben, dass in der That das, was da in diesem Artikel
verlangt ist, bereits in der Praxis durchgeführt ist in einer grossen Stadt,
in Dresden. Dort existirt eine Polizeiverordnung, nach welcher Jeder, der
Milch in Dresden verkaufen will, dies polizeilich anmelden muss. Also da
ist dieser Forderung vollkommen Genüge geleistet.
„In Bezug auf die Futtermittel habe ich ja schon hervorgehoben, dass
diese Frage durchaus noch nicht endgültig gelöst ist. Her Professor Weig-
mann hat mitgetheilt, dass eine ganze Reihe von Stoffen nicht in die
Milch übergehe, dass der Rübengeschmack der Butter nicht den verfütterten
Rüben entstammt, sondern bacteriellen Ursprungs ist, dass Baumwollsamenöl
in die Milch übergeht, während andere Oele, wie z. B. das Sesamöl, dies
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Hygiene der Molkereiproducte.
nicht thun. Es müssen jedenfalls noch weitere thierphysiologische und
chemische Untersuchungen ausgeführt werden, um festzustellen, ob und
welche Futtermittel in der That eine besondere Gefahr bilden, insofern, als
giftige Stoffe aus ihnen in die Milch übergehen. Es ist das eine Frage, die
sehr schwierig zu beurtheilen sein wird, und die wahrscheinlich noch lange
Zeit bis zu ihrer Lösung in Anspruch nehmen wird, inzwischen hat man
aber, wie bereits gesagt, in manchen Verordnungen für Kindermilch schon
Rücksicht genommen darauf, dass doch so etwas möglich ist. Diesbezüg¬
liche Vorschriften existiren. Sie existiren in in einer grossen preussischen
Verordnung und sie existiren in zahlreichen Verordnungen, welche in
grossen Städten erlassen worden sind.
„Was nun die Mittheilungen von Herrn Dr. Müller anbelangt, seine
zwei Beobachtungen, in welchen eine Uebertragung von thierischen Tuberkel¬
bacillen auf Fleischer durch Wunden an den Händen stattgefunden haben
soll, so werden solche Fälle gerade künftighin ausserordentlich wichtig sein
für weitere Untersuchungen nach der Richtung hin, ob nun diese Verände¬
rungen, welche sich von Rindertuberkelbacillenmaterial dem Anschein nach
entwickelt haben, auch wirklich Rindertuberkelbacillen enthalten, und ob
sich aus diesen localen Infectionen später allgemeine Tuberculosen entwickelt
haben. Solche Fälle muss man aufzufinden suchen und studiren. Wir
können nur wünschen, dass die praktischen Aerzte ihre Aufmerksamkeit
darauf richten. Es sind ja übrigens ähnliche Fälle, wie die von Herrn Dr.
Müller mitgetheilten, auch schon an anderen Orten beobachtet. So z. B. ist
mir ein Fall mitgetheilt von Professor Bier in Greifswald. Er erzählte mir,
dass er einen Fall gesehen habe, in welchem ein Mann sich ein Tättowirungs-
zeichen, das er auf dem Arm hatte, ein schwarzes Zeichen, mit Milch weg¬
bringen wollte. Wenn man nämlich mit Milch nachtättowirt, so verschwindet
die schwarze Tättowirung. Der Mann hat, ganz genau auf die tättowirten
Stellen beschränkt, eine Eruption von tuberculosen Knoten bekommen. Die
weitere Nachforschung hat ergeben, dass die Milch, mit der er dieses Weg-
tättowiren vorgenommen hatte, von einer tuberculosen Kuh herstammte.
Es fehlte aber auch in diesem Falle der endgültige Beweis, dass die Knoten
durch Rindertuberkelbacillen hervorgebracht waren. Es wäre ja immerhin
möglich, dass durch Speichel oder auf sonst irgend eine Weise menschliche
Tuberkelbacillen in die Tättowirstiche eingeführt wären. Es wird desshalb
nothwendig sein, künftighin derartige Fälle genau zu untersuchen.
„Was die Uebertragung des Typhus anbelangt, so ist in der That in
einer grossen Zahl von Epidemieen, wie Herr Geheimrath Rapmund aus-
gefübrt hat, das Wasser als das Medium angesehen und nachgewiesen
worden, durch welches allein die Typhusbacillen in die Milch hineingelangt
sind. Es sind aber auch eine Anzahl von Fällen berichtet, in welchen
zweifellos durch die Manipulation von Leuten, welche mit der Pflege von
Typhuskranken zu thun hatten, die Keime in die Milch gelangt sein müssen,
weil alle Wasserverhältnisse tadellos gewesen sind. In Bezug auf die Di¬
phtherie halte ich es ja sehr wohl für denkbar, dass durch Händler, welche
mit kranken Kindern zu thun gehabt haben, auch die Diphtheriebacillen in
die Häuser hineingekommen sind. Aber es ist doch sehr merkwürdig,
dass in den beiden Beobachtungen, welche mir Herr College Deneke aus
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88 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Stralsund mitgetheilt hat, eine so grosse Anzahl von Fällen, 45 und 34,
alle durch denselben Milchmann hervorgerufen sein sollen. Ich könnte
mir die grosse Zahl der Fälle nicht genügend erklären, wenn man nicht
annehmen wollte, dass die gelieferte Milch die Bacillen enthalten habe. Ich
glaube, die Frage ist noch nicht genügend aufgeklärt. Die Diphtherie¬
bacillen können sehr wohl in der sterilisirten Milch wachsen. Vielleicht
kommt es nur darauf an, ob die Milch ganz frisch ist, wenn sie mit Di’
phtheriebacillen inficirt wird. Wenn sie ganz frisch ist, ist sie ja so gut wie
sterilisirt. Dann ist es ja sehr wohl möglich, dass Diphtheriebacillen, die
da hineingelangt sind, sich in derselben vermehren, und wenn die Milch
dann noch gestanden hat bis zum Abend, dann ist es doch möglich, dass
eine stärkere Anreicherung von Diphtheriebacillen stattgefunden hat.
„Was nun zum Schluss den Punkt anlangt, bezüglich welches von
Herrn Oekonomierath Plehn und von Herrn Collegen Fränkel eine etwas
abweichende Ansicht geäussert worden ist, nämlich die Frage der Pasteuri-
sirung der zum Verkauf gebrachten Milch, so möchte ich bemerken, dass
die Meinungsverschiedenheit der Herren wohl durch ein kleines Missver-
ständniss in der Auffassung meiner Forderung bedingt ist. Ich habe ver¬
langt, dass, da durch die Molkereien, wenn sie einmal inficirt sind, so
schwere Gefahren und so ausgedehnte Erkrankungen hervorgerufen werden
können, die Milch, welche von diesen Molkereien geliefert wird, pasteurisirt
werden muss. Dass praktisch die Pasteunsirung der Milch jedem einzelnen
kleinen Bauer auferlegt werden sollte, habe ich nicht verlangt, wiewohl
theoretisch diese Forderung durchaus berechtigt ist. Es kommt ja manche
Unreinlichkeit vor bei diesen kleinen Leuten, und es können gelegentlich
sehr wohl Krankheitskeime in die • von ihnen gelieferte Milch kommen.
Aber wenn dies nun auch einmal geschieht, so wird doch immer nur eine
kleine Anzahl von Individuen dadurch betroffen werden, und nicht gleich
eine grosse Menge von Menschen. Die Gefahr, welche von der Milch der
kleinen Besitzer droht, ist daher verschwindend gering gegenüber der Ge¬
fahr, welche droht, wenn in eine Molkerei Krankheitskeime verschleppt
werden.
„Damit möchte ich meine Bemerkungen schliessen. 4
Schluss der Sitzung 4 Uhr.
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen. 89
Zweite Sitzung.
Donnerstagt den 19. September, Vormittags 9 Uhr.
Vorsitzender, Oberbürgermeister Schneider, eröffnet die
Sitzung mit einigen geschäftlichen Mittheilungen und ertheilt hierauf Herrn
Landes-Maschinen-Ingenieur A. Oslender das Wort zum Referat
über den dritten Gegenstand der Tagesordnung:
Fortschritte auf dem Gebiete centraler
Heizungs- und Lüftungsanlagen für Wohnhäuser
und öffentliche Gebäude im letzten Jahrzehnt.
Referent, Landes- Maschinen -Ingenieur Oslender (Dasseldorf):
„Hochansehnliche Versammlung! Geehrte Damen und Herren! Wenn
ich es unternehme, Ihnen die während des letzten Jahrzehnts gemachten
Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs - und Lüftungsanlagen
durch einen einstündigen Vortrag ins Gedächtniss zurückzu rufen, so kann
dies naturgemäss nur auf Kosten der Vollständigkeit des zu entwerfenden
Bildes geschehen. Wie Sie wissen, verehrte Anwesende, sind die Fort¬
schritte in der Technik während der letzten zehn Jahre allenthalben ganz
gewaltige gewesen und so auch namentlich im Heizungs- und Lüftungsfach,
so dass unendlich viele und vielseitige Fortschritte auch hier zu ver¬
zeichnen sind, die alle zu erwähnen weit mehr Zeit in Anspruch nimmt, als
mir zur Verfügung gestellt werden konnte. Ich muss daher um nachsichtige
Beurtheilung bitten, wenn Jemand aus dieser Versammlung nicht das von
mir erwähnt findet, was er wohl gern von mir berührt sehen mochte. In
diesem Falle bietet die anschliessende Discussion noch Gelegenheit, Aus¬
kunft zu ertheilen, wovon ich daher durch Fragestellung ausgiebig Gebrauch
zu machen bitte.
„Meine Herren! Zur Beurtheilung der Fortschritte auf dem Gebiete
centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen für Wohnhäuser und öflentliche
Gebäude im letzten Jahrzehnt ist es nothwendig, den Stand der Entwicke¬
lung der Heizungs- und Lüftungstechnik in dem früheren Zeiträume kurz
darzulegen. Da die letzte Epoche in der Entwickelung genannter Anlagen
nicht genau mit dem Ende des verflossenen Jahrzehntes zusammenfällt, so
wird es ferner nöthig, zur Kennzeichnung der letzten Entwickelungsstufe
noch etwas weiter als bis zum Jahre 1890 zurückzugreifen, um ein zutreffen¬
des Bild der Fortschritte im letzten Jahrzehnt zu gewinnen.
„Die letzte Epoche in der Entwickelung auf dem Gebiete centraler
Heizungs- und Lüftungsanlagen für Wohnhäuser und öffentliche Gebäude
setzte in Deutschland an und fällt in die Zeit der Erfindung und Vervoll¬
kommnung der Niederdruckdampfheizung, die uns in bemerkenswerther
Weise in praktischer Anwendung ungefähr um das Jahr 1885 entgegentritt.
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90 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
„Bis dahin beherrschte bei grösseren Anlagen in Deutschland und
Oesterreich hauptsächlich die Warmwasserheizung das Feld. Luftheizungen
und Heisswasserheizungen wurden für weniger ausgedehnte und weniger
kostspielige Anlagen gebaut. Bochdruckdampfheizungen kamen nur aus¬
nahmsweise in Deutschland und Oesterreich und für untergeordnete Zwecke
zur Beheizung von Fabriken und kürzerem Aufenthalt oder vorübergehen¬
der Benutzung dienenden Versammlungs - und Schaustellungsräumen zur
Anwendung. Für dauernde Anlagen suchte man die Dampfheizung wegen
unüberwindbarer Uebelstände nicht unmittelbar, sondern als gemischtes
Heizsystem, d. i. in Verbindung mit Wasser- oder Luftheizung, den örtlichen
Verhältnissen entsprechend, nützlich zu verwerthen.
„In der systematischen Entwickelung der Dampf - und Warmwasser¬
heizungen, Luft- und Heisswasserheizungen war in den letzten Jahren vor
1885 ein gewisser Stillstand eingetreten. Die Anwendung der Dampf¬
heizung nahm zu dieser Zeit eher ab als zu. Die Fortschritte in der Ent¬
wickelung der Heizungs- und Lüftungsanlagen beschränkten sich auf Aus¬
bildung der Wärmeentwickeler und Heizkörperregulirungen.
„Bei der Warmwasserheizung richtete sich demgemäss die Aufmerksam¬
keit auf die Kesselconstructionen, bei den Heisswasserheizungen auf Ver¬
vollkommnung der Heisswassererzeuger, bei der Luftheizung auf zweck-
massigere Bauart der Luftheizöfen und Klappen.
„Das Ausland war, abgesehen von Oesterreich, bis in die letzten Jahre
vor 1885 nicht im Stande, auf die Entwickelung der deutschen Heizungs¬
und Lüftungstechnik wesentlich befruchtend einzuwirken. Deutschland hatte
eben schon damals neben Oesterreich und Amerika eine führende Stellung
in diesem Fache erlangt. Während England hauptsächlich bei den Wasser¬
heizungen verblieb und abgesehen von wenig verlockenden Kesselconstructio¬
nen kaum etwas Neues auf den Markt brachte, hielt Frankreich in der Haupt¬
sache an den Luftheizungen fest. Die Nachbarländer von Deutschland und
Oesterreich: die Schweiz, Holland, Belgien, Dänemark und Russland, wurden
von deutschen und österreichischen Heizungs-Ingenieuren fachlich beherrscht
und immer mehr gewonnen. Russland, die Donaustaaten, die Türkei gaben
ihre Aufträge nach Oesterreich und Deutschland, ja selbst aus Japan wandte
man sich für die Beheizung von Staatsbauten nicht nach Amerika oder Eng¬
land, sondern an deutsche Heizungsfirmen.
„Das Jahr 1883 stellte den deutschen Heizungs-Ingenieuren eine Auf¬
gabe von bis dahin ungewöhnlicher Grösse und Bedeutung, wodurch ein
wesentlicher Einfluss auf die Entwickelung des Heizungs- und Lüftungs¬
faches ausgeübt wurde. Das Reichsamt des Innern hatte einen öffentlichen
Wettbewerb um Erlangung von Entwürfen zur Heizungs- und Lüftungs¬
anlage für den neuen Reichstagsbau zu Berlin ausgeschrieben. Die Auf¬
gabe gab Gelegenheit, den damaligen Stand des Faches weiten Kreisen dar-
zuthun, andererseits den deutschen Heizungs- und Lüftungstechnikern grosse
Anregung zur Verwerthung und Darlegung der bisherigen Erfahrungen und
Kenntnisse auf diesem damals schon hoch entwickelten technischen Sonder¬
gebiet. Die Mannigfaltigkeit und Grossartigkeit der bei Lösung der Preis¬
aufgabe von verschiedenen Bewerbern zu Tage getretenen Gedanken rief
das Erstaunen des Preisrichtercollegiums hervor. Dank besonders auch den
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen. 91
reichen Geldmitteln, welche die Reichstagsbau Verwaltung für den Zweck zur
Verfügung gestellt hatte, wurde die Heizungs- und Lüftungsanlage des
neuen Reichstagsgebäudes ein Denkstein in der Entwickelung des Heizungs¬
und Lüftungsfaches, der bei der Besprechung der Fortschritte auf diesem
Gebiete nicht übersehen werden darf.
„Die preisgekrönten Heizungstechniker hatten die Vortheile aller damals
bekannten und als gut erprobten Heizsysteme für den Reichstagsbau zu
verwerthen gesucht, und ergab sich daraus die Anwendung eines Misch¬
systems für die Heizungsanlage des Reichstagsgebäudes.
„Hochdruckdampf besorgte die Wärmezufuhr vom weit abgelegenen
Kesselhause zu den einzelnen Wärmevertheiiungscentren im Gebäude und
diente zur Vorwärmung der Ventilationsluft. Demgemäss fiel die Wärme¬
übertragung von den Heizstellen in die beheizten Räume in der Hauptsache
der Warmwasserheizung zu. Die grossen Säle, besonders auch der Sitzungs¬
saal für das Plenum, wurden mit Luftheizung beheizt
„Die weitergehende unmittelbare Verwerthung des Hochdruckdampfes
in der heute üblichen Weise kannte man damals noch nicht. Auf den Vortheil
der Einheitlichkeit des Heizsystems musste für das Gebäude von vornherein
verzichtet werden. Nichtsdestoweniger brachte die neue Heizungsanlage des
Reichstagsbaues in der Ausführung eine grosse Zahl neuer Gedanken zur
Verwirklichung, so in der Entfernung des Niederschlagwassers aus dem Rohr¬
netz und den Heizkörpern unter Ausschluss von Condenstöpfen, in der
automatischen Zurückbeförderung des Niederschlagwassers aus dem Heiz¬
keller nach dem höher gelegenen Kesselhause mittelst automatisch gesteuerter
Pumpen, in der Heizkörperanordnung über den Oberlichtern und in den
hohen Fenstern zwecks Bekämpfung der Zugluft, in der Anwendung doppelter
und mehrfacher Rohrleitungen zu den Warmwasserheizkörpern zwecks voll¬
kommener Regulirung des Wärmegrades und erhöhter Betriebssicherheit J ).
„Die Lüftungsanlage des neuen Reichstagsgebäudes verdient mehr
Interesse wie die Heizungsanlage. Sie entwickelte sich als einheitliches
System und theilweise nach neuen Gesichtspunkten, insbesondere wurde
dabei von der inzwischen dienstbar gemachten Elektricität umfassender
Gebrauch gemacht. Acht mächtige Blackmann-Ventilatoren von 1*67 m bis
2*10 m Flügeldurchmesser, von den Ankerwellen der Elektromotoren un¬
mittelbar in Bewegung gesetzt, besorgen die Zufuhr der Frischluft in das
Gebäude wie das Hinaufschaffen der Abluft über Dach. Vier weitere Venti¬
latoren von 1*22 m bis 1*52 m Flügeldurchmesser dienen zur Heizung und
Lüftung des grossen Sitzungssaales. Die Thermometerstände in den ein¬
zelnen Räumen werden auf elektrischem Wege in das Aufsichtszimmer des
den Betrieb leitenden Heizungs-Ingenieurs übertragen. Von hier aus ist
die Einstellung der Luftklappen auf hydraulischem Wege möglich gemacht.
Durch umfassende Anwendung von Luftfiltrirungs - und Luftbefeuchtungs¬
einrichtungen , namentlich auch durch zahlreiche Anlagen von Luftnach-
wärmkammern und Mischklappen suchte man die inzwischen erkannten
Uebelstände der Luftheizung auszuschalten.
M Vergl. Ausgeführte Heizungs- und Lüftungsanlagen von David Grove.
Verlag von Wilhelm Ernst u. 8ohn, Berlin 1895.
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92 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
„Die ganze Lüftungsanlage baut sich ebenso wie die Heizungsanlage
auf streng wissenschaftlicher Grundlage auf, und werden hinderliche Luft¬
strömungen durch den mechanischen Betrieb der Lüftungsanlage sicher
überwunden. Hierdurch wurde es u. a. möglich, für den grossen Sitzungs¬
saal eine, gegenüber der bisherigen Methode umgekehrt arbeitende Lüftungs¬
anlage zur Durchführung zu bringen, wobei die Frischluft an der Decke
eintritt und die Saalluft durch den Fussboden abgesaugt wird. Diese Aus¬
führungsart war für Deutschland neu. Der Hauptcanal zur Zuleitung der
frischen Ventilationsluft in das Gebäude nahm wegen seiner ungewöhnlich
grossen Abmessungen ein hallenartiges Aussehen an. In zwei dreistöckigen
Seitenhallen wird die Frischluft entweder vom Dach des Gebäudes oder
aus den Gartenanlagen entnommen und durch Stofffilter besonderer Bauart
entstaubt, mittelst heizbarer Wasserschalen befeuchtet, nachdem dieselbe
durch Dampfheizkörper auf Zimmertemperatur vorgewärmt worden ist.
Das Nachwärmen der Ventilationsluft auf Einströmungstemperatur geschieht
in seitlich an den Hauptcanal anstossenden Heizkammern. Zur Nach¬
wärmung der Heizluft für den grossen Sitzungssaal benutzte man ihrer
milden Heizwirkung halber Niederdruckwarmwasserheizkörper, welche wäh¬
rend der Nachtzeit mit grossgefässigen Warm Wasserkesseln zwecks Ver¬
meidung erheblicher Temperaturschwankungen verbunden werden.
„Die Lüftungsanlage für den Reichstagsbau war und blieb durch diese
Neuerungen vorbildlich für alle grösseren Lüftungsanlagen bis zur Jetztzeit,
so für das Reichsgerichtsgebäude in Leipzig, das Rathhaus in Hamburg, das
Justizgebäude in München und für die beiden Häuser der Abgeordneten
Preussens. Nicht so die Heizungsanlage des Reichstagsgebäudes, der
inzwischen bereits ein lebenskräftiger Mitbewerber durch Vervollkommnung
der Dampfheizung erwachsen war, und gelangte letztere daher beim Rath¬
hausbau in Hamburg (Juli 1887) bereits zur Anwendung.
„Mit dem Auftreten dieser neuen Beheizungsart, ungefähr um das Jahr
1884, begann eine neue Epoche auf dem Gebiete centraler Heizungs- und
Lüftungsanlagen für Wohnhäuser und öffentliche Gebäude. Deutschland
hat den Vorzug, auch diese neue Epoche eingeleitet zu haben, indem es die
Namen zweier deutschen Ingenieure sind, woran sich die neuen Erfindungen
und Vervollkommnungen zur heutigen Niederdruckdampfheizung knüpfen.
Diese deutschen Ingenieure, Bechern in Hagen und Käuffer in Mainz,
haben sich durch ihr unermüdliches Vorwärtsstreben und zähes Festhalten
an dem als gut Erkannten ein grosses Verdienst um den Fortschritt in der
Heizungs- und Lüftungstechnik erworben.
„Man pflegt gewöhnlich den zuerst genannten Ingenieur Adolph
Bechern in Hagen i. W., den Mitbegründer der weithin bekannten Firma
Bechern und Post, als den Erfinder der Niederdruckdampfheizung zu be¬
zeichnen. Das ist streng genommen unrichtig. Wenn auch Bechern der
geniale Bahnbrecher für die Niederdruckdampfheizung war, und ohne die
Ergebnisse seines Vorgehens wohl kaum die nachherigen, besonders auf
Dampfheizungen bezüglichen Erfindungen gemacht worden wären, so muss
doch der unlängst verstorbene Heizungs-Ingenieur Paul Käuffer in Mainz
als der eigentliche Erfinder der heutigen Niederdruckdampfheizung bezeichnet
werden. Die von Bechern angegebene Dampfheizung blieb in ihrem für
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen etc. 93
die Brauchbarkeit der Heizung so wesentlichen Verhalten hinsichtlich der
Regulirbarkeit der Heizkörper eine Hochdruckdampfheizung; ihre Heizkörper
waren ebenso wenig unmittel¬
bar regulirbar wie bei dieser.
Bekannt ist, wie der Erfinder
sich mit grösserem oder ge¬
ringerem Erfolge bemüht hat,
diesen Uebelstand durch die
indirecte Regulirung bei An¬
wendung von Isolirmänteln zu
beseitigen, und wie man sieb
vom Standpunkte des Hygie¬
nikers aus mit vollstem Recht
und mit Erfolg gegen dieses
Gewaltmittel einer Heizkörper¬
regulirung schliesslich auf¬
gelehnt hat. Trotzdem ver¬
danken wir dem Erfindungs¬
geiste Bechern 7 s die unent¬
behrlichsten Vorbedingungen
für den Betrieb der Nieder¬
druckdampfheizung, insbeson¬
dere den Grundgedanken zur
selbstthätigen Regulirung der
Centralheizungen, die Beein¬
flussung des Ganges der Feue¬
rung durch Regelung der
Zimmerheizkörper und bei
Dampfheizungen für Wohn-
räume den selbstthätigen
Rückfluss aller Condenswässer
in den Dampfkessel. Es
ist das besondere Verdienst
Be ehern’8, diese Grund¬
gedanken 8ämmtlich in die
Praxis, wenn auch nicht alle
in der heutigen Anwendungs¬
form, übertragen zu haben,
womit er gleichzeitig seinen
Zeitgenossen das Werkzeug
zur Weiterentwickelung und
Vervollkommnung der Dampf¬
heizung in die Hand gab.
Und dennoch ist diese Ver¬
vollkommnung bei der Dampf¬
heizung so wesentlich für k> ©
die Sache und so durchschlagend für den Erfolg, dass man nicht umhin
kann, Bechern nur als den Pfadfinder, dagegen Käuffer als den eigent-
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94 XXVI. Versammlung d. D. Vereine f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
liehen Erfinder der heutigen Niederdruckdampfheizung zu bezeichnen. Wie
die Geschichte der Erfindungen so oft gezeigt hat, so war es auch hier;
es mussten erst verschiedene Personen, wenn auch unabhängig von einander,
zusammen wirken, um die Erfindung zu zeitigen und für die Praxis brauch¬
bar zu machen. [Zu vergleichen: Die schematische Darstellung der Ent¬
wickelung der Niederdruckdampfheizung aus der Hochdruckdampfheizung
durch Bechern und Käuffer, Fig. 1, auf vorstehender Seite.]
„Selbst der von Bechern für die Dampfheizung eingeführte selbst¬
tätige Feuerzugregler war in seinen Grundzügen vorbildlich schon
vorhanden. Bechern hatte den Temperaturregulator der Eierbrut¬
apparate diesem Feuerregulator zu Grunde gelegt. Es ist dies ein ähn¬
licher Apparat, wie er Ihnen, meine Herren, jedenfalls wohl bekannt ist,
unter Anderem auch an den sogenannten Kinderbrutkästen Verwendung
findet. Wenn man die späteren Darlegungen Bechem’s bei Verteidigung
des Wertes seiner Erfindungen anderen Wettbewerbungen gegenüber ins
Auge fasst, so kann man sogar behaupten, dass er das Wesen der heutigen
Niederdruckdampfheizung erst längere Zeit nach Bekanntwerden der
Käuffer 1 sehen Niederdruckdampfheizungsanlage erfasst hat. Dies erklärt
sich wohl damit, dass Bechern nicht wie Käuffer Heizungs - Ingenieur,
sondern Hütten-Ingenieur von Beruf ist und daher in den 80er Jahren noch
nicht die praktischen Erfahrungen mit den bisherigen Hochdruckdampf¬
heizungen und die Uebersicht über die Mängel und Mittel zur Beseitigung
derselben bei den damals bekannten Heizsystemen besass als der berufs¬
mässige Heizungs - Ingenieur Käuffer.
„Letzterer hatte die Ursache des Misserfolges Bechem’s bei der
Heizkörperregulirung alsbald richtig erkannt; er wies 1889 mit allen
Mitteln darauf hin, dass der hohe Betriebsdruck in der Bechem’schen
Dampfheizung die Ursache dieses Misserfolges sei. Erst bei weiterer
Verminderung des Betriebsdruckes in der Bechem’schen Dampfheizung
sei eine brauchbare Heizungsanlage bei Fortfall der Isolirmäntel durch
Anwendung von Regulirventilen an den Heizkörpern zu erzielen. Käuffer
nannte die von ihm erfundene Dampfheizung wegen ihres in Folge
niedrigen Betriebsdruckes grundverschiedenen Verhaltens im Vergleich
zur Bechern’ sehen Dampfheizung auch nicht „Niederdruckdampf¬
heizung“, sondern „Wasserdunstheizung“, wiewohl diese Bezeichnung für
das neue Heizsystem wenig zutreffend ist, indem selbst bei einer Ueber-
druckspannung von nur 0*3 bis 1 m Wassersäule in einem geheizten KesBel
wohl von niedrig gespannten Dämpfen, nicht aber von Wasserdunst die
Rede sein kann. Die richtige Bezeichnung für das neuerfundene Heiz¬
systemwar aber bereits damals durch Bechern in der Bezeichnung „Nieder¬
druckdampfheizung“ vorweg in Anspruch genommen worden.
„Die Bechem’sche Regulirungsmethode der Wärmequelle durch den
Feuerzugregler wurde alsbald auch auf die verschiedenen anderen Heizungs¬
systeme übertragen, namentlich auch auf die Wasserheizungsanlagen.
„Die Erfindung Käuffer’s brach sich nur langsam Bahn. Noch
arbeiteten andere Heizungs - Ingenieure an der Aufgabe, die unmittelbare
Regulirung der Heizkörper durch Ventile auch bei der Bechem’schen
Dampfheizung möglich zu machen. Schweer, damals in Berlin, Gebrüder
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen. 95
Körting in Hannover, auch Rudolph Otto Meyer in Hamburg verfielen
auf den Gedanken, durch Wasserverschlüsse den Durchgang des Dampfes
darch die Heizkörper- in die Condensleitung zu verhindern. Körting
nannte eine derartige Heizanlage „ Niederdruckdampfheizung mit Wasser-
syphonregulirung“. Käferle in Hannover versuchte den gleichen Zweck mit
sehr engen, nur 5 mm weiten Condenswasserrohrleitungen unter gleich¬
zeitiger Anwendung von kurzen Wasserverschlüssen in Metalltaschen zu
erreichen. Noch andere Heizungs - Ingenieure setzten Rückschlagventile
oder gar Condenstöpfe in die Ausgangsleitungen der Heizkörper ein oder
versuchten, den Dampfeintritt in die Condensleitungen durch Drosselung der
letzteren oder deren Ausgänge mittelst hahn- oder ventilartig gebauter
Regulirkörper zu verwehren. Abgesehen davon, dass die genannten Maass¬
nahmen sämmtlich die Anlagekosten der Bechem’schen Dampfheizung ver-
theuerten, brachten dieselben den weiteren Nachtheil, dass die Heizungs¬
anlage um diese, bei richtiger Erkenntniss und Verwerthung des Käuffer’-
schen Gedankens, ganz entbehrlichen Zuthaten verwickelter und daher
betriebsunsicherer wurden. Manche traurige Erfahrung that inzwischen
die Mängel dieser leider nur zu früh und zu sehr angepriesenen neuen
Dampfheizungen dar, so dass das kaufende Publicum schliesslich den
Neuerungen der Niederdruckdampfheizungen überhaupt misstrauisch gegen¬
überstand. Noch hatten die Heizungstechniker den Werth der Käuffer’-
schen Erfindung nicht erfasst, wonach die einfachste Lösung der Auf¬
gabe in der weitergehenden Erniedrigung des Betriebsdruckes bei der
Bechem’schen Dampfheizung zu finden war. Sie wurden vielfach wohl
durch Käuffer selbst irre geleitet, der bereits einer neuen Aufgabe zu¬
strebte, nämlich der, ein allseitig geschlossenes Dampfheizsystem zu
construiren und darauf bezügliche Patente nahm.
„Dies war der Stand der Heizungs- und Lüftungstechnik ungefähr um
das Jahr 1900.
„Meine Herren! Es kann als wesentlicher Fortschritt auf dem Gebiete
centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen für Wohnhäuser und öffentliche
Gebäude gelten, dass um diese Zeit von verschiedenen deutschen Heizungs¬
technikern, hauptsächlich auch von Fritz Käferle in Hannover, darauf
hingewiesen wurde, dass die sogenannten geschlossenen Dampfheizungs¬
anlagen, in welchen nach dem Vorgänge Käuffer’s der Luftinhalt angeblich
nicht erneuert, nur hin- und hergeschoben werden sollte, ihres vielgerühmten
Werthes baar seien, dass auch bei den offenen Niederdruckdampfheizungen,
bei denen die Luft frei aus- und eingehen kann, ein Zusammenrosten in
absehbarer Zeit nicht eintritt. Die Käuffer’sehe Niederdruckdampfheizung
stellte sich nunmehr in ihrer grossen Einfachheit jedem Fachmann dar;
ihre Anwendung war nicht mehr an bestimmte Patentansprüche gebunden;
sie wurde in Folge dessen sehr bald Allgemeingut der Heizungs- und
Lüftungstechniker, zumal inzwischen auch die Bechem’schen Patente theil-
weise ausser Kraft getreten, theilweise durch zahlreiche ähnliche Construc-
tionen ersetzt bezw. überholt worden waren.
„Alsdann erschöpften sich die Heizungsfirmen in einer wahren Hoch-
fluth von Erfindungeu neuer selbstthätiger Feuerzugregler und Heizkörper¬
ventile, welch letztere sämmtlich ihren Zweck mehr oder weniger darum
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96 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
verfehlten, weil die nothwendigste Vorbedingung zur zuverlässigen Wirk¬
samkeit derselben unerfüllt blieb, nämlich die Bedingung, dass zur guten
Function der Ventile die Beibehaltung des gleichen Druckunterschiedes vor
und hinter dem Heizkörperventil unter allen vorkommenden Betriebsver¬
hältnissen der Heizungsanlage vorhanden sein muss.
„Es ist das Verdienst des Heizungs-Ingenieurs August Schätzlein
Berlin, diese letztere Aufgabe im Jahre 1894 auf ebenso einfache wie sinn¬
reiche Weise gelöst zu haben. Die Actien-Gesellschaft Schäfferu. Walcker
zu Berlin trat im Jahre 1896 mit der Erfindung in die Oeffentlichkeit, indem
dieselbe auf der Berliner Gewerbe- und Industrieausstellung eine betriebs¬
fähige Niederdruckdampfheizungsanlage nach dem Patent Schätzle vor¬
führte 1 ). Die Erfindung beruht darauf, dass ein von der Betriebsdruck¬
wassersäule getragener Schwimmer dem Sinken bezw. Steigen des Dampf¬
druckes vor den Heizkörperventilen entsprechend den Luftaustritt hinter
den Ventilen befördert bezw. erschwert. Bisher hat der Schätzle’sche
Gedanke noch nicht die Bedeutung gefunden, deren er würdig ist; denn
das Schätzle’sche Heizsystem bringt uns der Lösung der weiteren Auf¬
gabe näher, der wir als Endziel in der Entwickelung der Centralheizungs¬
anlagen zuzustreben haben, nämlich der selbstthätigen Wärme¬
regulirung unserer Aufenthaltsräume.
„Sie wissen, meine Herren, dass unsere Blutcirculation nach der Haut
ein sehr wirksamer Wärmeregulator für den Körper ist, und dass der Körper
sich innerhalb weiter Grenzen den äusseren Temperaturverhältnissen in
Folge dessen anzupassen vermag. Wenn der Ueberschuss oder der Mangel
an Wärme unangenehm empfunden wird, sind meist schon Temperaturen
erreicht, die schon längere Zeit vorher nicht mehr als vortheilhaft für unsere
Gesundheit zu bezeichnen waren und daher den Körper bereits nachtheilig
beeinflusst haben. Andererseits sind einmal vorhandene Raumtemperaturen
wegen der Wärmereservation der Massen und natürlichen Trägheit aller
Heizmethoden nicht so rasch zu beseitigen, um ein zeitweiliges Unbehagen
in den Aufenthaltsräumen ganz vermeiden zu können. Das Unbehagen und
die Gesundheitsschädigung wiederholen sich um so öfter, je häufigeren
Schwankungen die Raumtemperaturen unterworfen sind. Es erscheint daher
nothwendig, einen vom persönlichen Wohlbefinden unabhängig arbeitenden
Apparat für die Einhaltung einer gewählten Temperatur in den beheizten
Aufenthaltsräumen verantwortlich zu machen, indem dieser Apparat voll¬
ständig automatisch die Regulirung der Heizkörper zu bewirken hat.
„Nun ist es unmöglich, meine Herren, den Kesselbetriebsdruck einer
Niederdruckdampfheizungsanlage constant zu erhalten. Auch der empfind¬
lichste Feuerzugregler kann dies nicht erreichen. Die Beschickungs - und
Schürperioden werden den Dampfdruck stets beeinflussen; an continuirliche
Beschickung und Schürung ist bei Feuerungen mit festen Brennstoffen
kaum zu denken. Der Dampfdruck schwankt sogar sehr erheblich in jeder
Niederdruckdampfheizung während des Betriebes. Wasserheizungen eignen
*) cfr. A. Oslender, „Von der Versammlung der Heizung«- und Lüftungs¬
fachmänner vom 31. August bis 4. September 1896 in Berlin“. Centralblatt für
allgemeine Gesundheitspflege XVI. Jahrgang.
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen. 97
sich wegen der Temperaturschwankungen des geheizten Wassers und wegen
des grossen WärmeerhaltungsVermögens der Heizkörper nicht zur selbst-
thätigen Regulirung der Raumtemperaturen. Bei Luftheizungen kann der
Auftrieb und damit die Luftein- und -Austrittsgeschwindigkeit nicht constant
erhalten werden f da der Auftrieb insbesondere von der schwankenden
Au88entemper&tnr abhängig ist. Somit kann von den bisher bekannten
Centralheizungssystemen nur die Niederdruckdampfheizung die Vorbedingung
zur 8elhstthätigen Regulirung der Raumtemperaturen erfüllen, vorausgesetzt,
dass es gelingt, den Betriebsdruck für die Heizkörperventile constant zu
erhalten, und diese wichtige Neuerung hat uns die Bauart Schätzle ge¬
bracht. Bei den Schätzle’sehen Niederdruckdampfheizungen muss die
Raumerwärmung bei richtig bemessener Heizkörpergrösse ganz allein dem
jeweilig geöffneten Ventilquerschnitt entsprechen, indem die Temperatur
des in den Heizkörper eintretenden Dampfes beachtenswerten Schwankungen
nicht unterliegt. Den Querschnitt der Heizkörperventile aber dem jeweiligen
Stande der Zimmertemperaturen selbsttätig anzupassen, die Ventile also
bald mehr oder weniger zu öffnen, bald zu schliessen, das wird bei dem
hochentwickelten Stande der heutigen Maschinentechnik voraussichtlich sehr
bald verwirklicht sein. Liegen doch schon heute eine grössere Zahl be¬
achtenswerter Vorschläge und praktische Ausführungen dazu vor J ).
„Seit der Erfindung Schätzle’s sind nennenswerte Fortschritte in der
Vervollkommnung der Heizsysteme nicht gemacht worden. Nichtsdesto¬
weniger ist die Entwickelung des Heizungs- und Lüftungsfaches nicht zum
Stillstand gekommen. Die weiteren Fortschritte in der Entwickelung cen¬
traler Heizungs- und Lüftungsanlagen für Wohnhäuser und öffentliche
Gebäude erstrecken sich einerseits auf die Anwendung centraler Beheizung
auf grosse, weit verzweigt gelegene Gebäudegruppen, andererseits auf die
Verbesserung des Heizbetriebes und die dadurch bedingte Erhöhung der
Wirtschaftlichkeit, und zuletzt, nicht zum geringsten, auf die Vervoll¬
kommnung der Wärmeentwickler und der Heizkörper, sowie ihrer Regu¬
lirungsvorrichtungen. Diese Fortschritte sind zum Theil dem Einflüsse
Amerikas, nainentlich auch durch die Weltausstellung in Chicago zuzu¬
schreiben.
„Meine Herren! Amerika ist von jeher das Land kühner Projecte und
dasFeld zur Verwirklichung grossartiger technischer Ideen gewesen. Werden
doch drüben schon seit Jahren nach den Berichten der Fachblätter mancher¬
orts die Häuserreihen ganzer Strassen und Stadtteile durch Centralheizung
erwärmt. Derartige Ausführungen waren bis vor Kurzem selbst in dem
heiztechnisch weit vorgeschrittenen Deutschland fast unbekannt. Wohl
beheizte man hier und da grössere zusammenhängende Miethhäuser, meist
solche, die eine gemeinsame elektrische Beleuchtungsanlage besitzen, mit
Dampf. Auch versuchte man es bei einzelnen nicht zu weit verzweigt ge¬
legenen Häusern derselben Anstalt mit Beheizung von einer Heizstelle
aus, jedoch in solchen Fällen meist unter Zuhülfenabme eines Misch-
heizsystemes. Indess blieb die horizontale Ausdehnung der Heizanlagen,
*) Z. B. von David Grove in Berlin und von der 8ocidt6 industrielle de
Mulhouse. Systeme G. Dorian (Juin 1900), Paris, boul. de Belleville 114.
VtertetyahrMchrlft für Gesundheitspflege, 1962. 7
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98 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
auch bei solchen Districtheizungen, immerhin auf kürzere Entfernungen
beschränkt. Auch vereinigte man zu einer Centrale kaum jemals Heiz¬
anlagen für Gebäude, welche verschiedenen Zwecken dienen.
„In letzterer Hinsicht hat die neueste Zeit einen grossen Fortschritt vorerst
auf dem Gebiete centraler Beheizung öffentlicher Gebäude zu verzeichnen.
Diesen Fortschritt verdanken wir dem Vorgehen des königl. sächsischen
Bautenministeriums, das eine Reihe von bis jetzt vierzehn meist sehr grossen
Öffentlichen Gebäuden in Dresden durch Anlage einer ausgedehnten Canal-
und Rohrleitungsanlage innerhalb des Strassenkörpers mit einander zu
einer einzigen Heizungscentrale verbindet und auf diese Weise mit Wärme
versorgt. Die Anlage umfasst eine Centrale von jetzt zehn, später vierzehn
Dampfkesseln von je 200 Quadratmeter Heizfläche, sie ist noch nicht ganz
ausgebaut, jedoch schon letzten Winter mit Erfolg betrieben worden. Das
thatkräftige Vorgehen des Ministeriums in Sachsen zeitigte auch andere
Districtheizungen grösserer horizontaler Ausdehnung, wovon ich die Pro-
vinzial-Heil- und Pflegeanstalten zu Galkhausen bei Köln und diejenige in
Lüneburg, auch die Nervenheilanstalt in Gross - Schweidnitz bei Löbau in
Sachsen als Beispiele anführe. Die Vortheile solcher Fernheizwerke springen
in die Augen: vermehrte Reinlichkeit und Vereinfachung des Heizbetriebes,
Vermeidung von Rauch- und Russbelästigung im stark bebauten Gelände, Ver¬
minderung der Feuersgefahr und bei richtiger Ausführung reichlicher wirt¬
schaftlicher Nutzen sind die Früchte solcher wohl durchdachter Unter¬
nehmungen.
„Es liegt sehr nahe, die heute allerorts zur Anwendung gelangende
Steinkohlenleuchtgas- und Wassergasheizung auf dieselbe Stufe mit Fernheiz¬
werken zu stellen, und derartigen Anlagen denselben Nutzen zuzusprechen.
Meine Herren! Nichts ist unrichtiger als dieses. Vom Standpunkte des
Gesundheitstechnikers aus muss sogar die Ausbreitung solcher Beheizungs¬
arten lebhaft beklagt werden.
„Die vielen, oft schrecklichen Unfälle an solchen Gasheizungsanlagen
bilden eine ständige Spalte in unseren Tagesblättern. Die nicht an die
Oeffentlichkeit kommenden Gesundheitsschädigungen sind um so zahlreicher
und nicht minder beachtenswerte Zeigt doch der Geruchssinn und das
Verhalten der Zimmerpflanzen, ohne Zuhülfen ahme der chemischen Analyse,
was uns in der Leuchtgasheizung in so verlockender und darum um so
verderblicher Form als Heizungsart mit centraler Brennstoffzuführung ge¬
boten wird. Möchten Sie alle, meine Herren, als die berufensten
Vertreter zur Wahrung der Gesundheit der Allgemeinheit, jeder
in seinem Berufskreise, ihre Stimmen erheben, damitendlich die
Leuchtgaswerke auf den Aussterbeetat gesetzt werden. Die¬
selben haben bei dem heutigen Stande der Heizungs- und Be¬
leuchtungstechnik keine Existenzberechtigung mehr undarbeiten
den Wohlfahrtsbestrebungen unserer Zeit geradezu entgegen.
„Hocherhitztes Wasser und Hochdruckdampf, letzterer auf dem Con-
tinent, ersteres in Amerika haben in den vorerwähnten District- und Fern¬
heizungen ihre praktische Verwendbarkeit dargethan. Dass dieselbe centrale
Heizstoffzuführung an Stelle von Steinkohlenleucht - oder Wassergas zur
Beheizung von Wohngebäuden in dicht bebauten Geländen möglich ist,
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen. 99
folgt daraus ohne Weiteres, ebenso wie die Vortheile solcher Beheizungs¬
methoden für die Nutzniesser auf der Hand liegen. Ich brauche dieselben
nicht zu wiederholen und würden solche Heizungsanlagen auch aus Gründen
der Gesundheitspflege mehr als bisher zu verwenden sein. Die Rauchplage
könnte dabei mit einem Male beseitigt werden.
„Auch die Fortschritte in der Bauart der Wärmeentwickler und
Heizkörper verdankt der Continent dem Einflüsse der Amerikaner. Wer
kennt heute nicht den Namen „Radiator“? Ein Heizkörper mit hohlen
Rippen, bietet er den bedeutungsvollen Fortschritt, dass er reinigungsfähiger
wie dieser ist und keiner Verkleidung bedarf, was für Wohlbefinden und
Gesundheit nicht hoch genug zu veranschlagen ist. Glatte Radiatoren mit
einem Gliederabstande von mindestens 40 mm Zwischenraum, auf Gonsolen
montirt, sollten allen anderen gusseisernen Heizkörpern, ausser rippenlosen
Plattenheizkörpern mit reinigungsfahigen, wandseitig gelegenen Heizflächen,
entschieden vorgezogen werden. Es ist staunenswert!), wie rasch die deut¬
schen Firmen die Fabrikation der Radiatoren von den Amerikanern auf¬
genommen und weiter entwickelt haben.
„Das zuletzt Gesagte gilt auch insbesondere von den amerikanischen
Kesselbauarten. Täglich kommen neue Constructionen auf den Markt. Sie
bestehen — leider möchte ich sagen — aus Gusseisen, bieten aber den Vor¬
theil einfacherer und rascherer Beschaffung und ermöglichen damit die
grössere Verbreitung der Centralheizungsanlagen. Trotz dieser Vorzüge
können sie die schmiedeeisernen Vollkessel, wenigstens bei grösseren An¬
lagen, niemals ersetzen und ziehe ich solche schon bei Kesselgrössen über
8 qm jenen entschieden vor. Es würde zu weit führen, auch nur den Ver¬
such zu machen, eine Uebersicht über die neuen Kesselbauarten zu entwerfen.
Sie bestehen sämmtlicb aus einer Anzahl gleichartiger, zusammengeschraubter
Heizglieder und bedürfen keiner Einmauerung. Die Preislisten der Heiz¬
firmen geben über alle näheren Fragen Auskunft. Noch möchte ich die
rostarmen und wasserrostreichen Kesselbauarten ihrer Eigenart wegen, nicht
aber zur Empfehlung, erwähnen. Bemerkenswerth ist noch, dass heute auch
Centralheizungskessel für Stein- und Braunkohlenfeuerung gebaut werden.
„Die Fortschritte in den Heizkörperregulirungen sind echt deutschen
Ursprungs. Für Dampfheizungen waren es zuerst die Nadelventile, welche
nach dem Vorgänge Käuffer’s schon Ende der 80er Jahre vielfach Ver¬
breitung fanden. Man bohrte die Durchgangsöffnungen, die, wie schon
der Name sagt, oft nur Nadelweite besassen, je nach der Stellung und dem
Betriebsdrucke des Heizkörpers an Ort und Stelle auf solche Weite auf, dass
sich der Heizkörper bei dem durch die Thätigkeit des Regulators am Kessel
gewahrten höchsten Betriebsdruck eben noch mit Dampf füllen konnte.
Schon Käuffer wandte ausser den Nadelventilen in richtiger Erkenntniss
ihres grösseren Werthes präciser Regulirbarkeit Regulirhähne bei den Nieder¬
druckdampfheizungen an und passte er diese Regulirhähne dadurch den ört¬
lichen Betriebsdruckverhältnissen und der Grösse der Heizkörper an, dass
er die Hahnküken, behufs Erzielung eines grösseren oder geringeren Dampf¬
durchlasses, mehr oder weniger von den Heizungsmonteuren flach feilen
iiess. Indess zeigte sich hierbei, sowohl wie bei dem Aufbohren der Nadel¬
ventile, dass diese Arbeiten nur sehr schwierig richtig auszuführen und sehr
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100 XXYI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
zeitraubend waren, auch einmal zu weit gebohrte Ventile oder zu stark an¬
gefeilte Hähne in dem jeweilig vorliegenden Falle nicht verwendbar blieben.
Desshalb bemühten sich die Heizfirmen alsbald, die Anpassung der Ventil-
und Hahnquerschnitte durch besondere Einstellvorrichtungen zu erzielen,
welche eine Vordrosselung der Durchgangsquerschnitte herbeiführen und
ihrer Bestimmung gemäss nur dem Eingeweihten, insbesondere also dem
Heizungsmonteur zugänglich sind. Indess wurde bei den meisten dieser
sogenannten Präcisionsventile und -hähne unbeachtet gelassen, dass in der
Regel ein ausserordentlich geringer Durchgangsquerschnitt zur Erzielung
der grössten Leistung eines Heizkörpers ausreichend ist, und dass die volle
Oeffnuug des Querschnittes bei Anwendung von gewöhnlichen niederschraub-
baren Ventilsitzen oder von Regulirhähnen mit gewöhnlicher rechteckiger
Durchgangsöffnung schon bei der geringsten Handhabung des Ventil- oder
Hahngriffes eingestellt wird, so dass sich die weitere Bewegung der Ventil¬
oder Hahnspindel als sogenannter „todter Gang“ darstellt. Eine Einstellung
der Heizkörper nach dem Erwärmungsgrade der beheizten Räume ist also
bei Anwendung solcher Regulirventile oder Hähne nahezu unmöglich. Die
Regulirung der Zimmertemperatur kann nur durch abwechselndes An- und
Abstellen des Heizkörpers, also nur bei fortwährender Aufmerksamkeit und
Thätigkeit des Zimmerinsassen, und auch dann nur unvollkommen erreicht
werden.
„Es hat langer Zeit bedurft, ehe diesem ersichtlichen Mangel von Seiten
der Heizungslieferanten und Ventilfabrikanten Rechnung getragen wurde,
und auch heute noch leiden bei Weitem die meisten sogenannten Präcisions¬
ventile an dem erwähnten Uebelstande. Nur sehr wenige Ventil- bezw. Hahn¬
bauarten lassen eine wirkliche Einstellung des Heizkörpers nach dem Wärone-
bedürfniss zu. Beachtenswerth ist unter diesen die Bauart von H. Rösicke
in Berlin und Rudolph Otto Meyer in Hamburg, welche Heizfirmen eben¬
falls auch Regulirhähne vielfach verwenden. Der Grundgedanke dieser
Bauarten ist die Verwendung dreieckiger an Stelle von rechteckigen Durch¬
gangsöffnungen, welche besonders bei spitzwinkeligen Dreiecken eine weit
feinere Einstellung eines gewünschten Querschnittes als bei den landläufigen
Bauarten ermöglicht. Die einmalige Regulirung des grössten Hahndurchganges
für die höchste Heizkörperleistung findet durch Veränderung der Höhe des
Dreieckes statt. Da das Dreieck auf dem ganzen Hahnkükenumfang ab¬
gewickelt ist, so erfolgt die Veränderung des Hahndurchganges in allen
Spindelstellungen zwischen 0° und 360°, so dass ein sogenannter todter
Gang hier nicht vorhanden ist. [Zu vergleichen die gegenüberstehenden bild¬
lichen Darstellungen Fig. 2 und 3.]
„Bei den Heizkörperregulirungen würden auch die Regulirverfahren
mittelst Condenswasserstauern der Firmen Gebrüder Pönsgen in Düsseldorf
und Fritz Käferle in Hannover, sowie das sogenannte Luftumwälzungs¬
verfahren (D. R.-P. vom 27. Januar 1894) von Gebrüder Körting in Han¬
nover zu erwähnen sein. Schon zu Eingang meiner Ausführungen habe ich
mich dahin ausgesprochen, dass ich die Condenswasserstauer, ebenso wie
Condenstöpfe, die auch vielfach unter dem Namen Entleerer (System
Heintze) von den Heizfirmen verkauft werden, für entbehrlich halte, so¬
fern genügende Sorgfalt auf Einstellung der Regulirventile verwendet und
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Fig. 4.
Zu Seite 100.
1
Einstellbarer Regulirhahn für Niederdrnckdampf- n. Warmwasserheizungen*
Berichtigung:
Die Abbildungen Fig. 1 bis 3 gehören zu S. 94; es stellen Fig. 1 eine
Hochdruckdampfheizung, Fig. 2 eine Be ehern’sehe Dampfheizung
und Pig. 3 eine Käuffer’sche Niederdruckdampfheizung dar.
Auf Seite 94, Zeile 7 lies: Fig. 1 auf Seite 93 und Fig. 2 u. 3 auf ßeite 101.
Auf Seite 100, Zeile 39 lies: Fig. 4.
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102 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
nügend empfindlichen Feuerzugregler möglich ist. Dem Luftumwälzungs¬
verfahren wird der Vortheil der Erniedrigung der Oberflächentemperatur
der Heizkörper zugeschrieben. Wenn man bedenkt, dass bei der heute all¬
gemein üblichen Bemessung der Rohrweiten für 1 m Wassersäule Betriebs¬
druck die höchste auftretende Oberflächentemperatur des Heizkörpers etwa
90°C. an der ungünstigsten Stelle beträgt, dass aber für gewöhnlich der
Betriebsdruck viel niedriger als 1 m Wassersäule sein wird, und demgemäss
auch die Dampftemperatur im Heizkörper sich weiter erniedrigt, so wird
man begreifen, dass ein Bedürfniss zu einer künstlichen Herabsetzung der
Heizkörperoberflächentemperatur bei den heutigen Niederdruckdampfhei¬
zungen thatsächlich nicht vorhanden ist. Auch kann, was als weiterer Vor¬
theil des Luftumwälzungsverfahrens hingestellt wird, die Verlegung der
Wärme abgebenden Flächen der Heizkörper in die Nähe des Zimmerfuss-
bodens sowohl durch Wahl niedrig gehaltener Heizkörper (eventuell von
Rohrheizkörpern), als durch Anordnung der Dampfeinströmung nahe den
Heizkörperfüssen, auch ohne Anwendung von besonderen Einströmungsröhren
oder -düsen erzielt werden. Schliesslich ist das Luftumwälzungsverfähren
nicht neu, indem es schon im Jahre 1891 von Käuffer u. Co. und deren
Lizenzträger vielfach zur Anwendung gelangte a ), wobei sich ergab, dass
auch ohne Anwendung besonderer Düsen, durch einfache Anordnung von
Löchern in dem Einströmungsrohre innerhalb der Heizkörper, deren gleich-
mässige Erwärmung erzielt wird. Es sei dabei noch weiter erwähnt, dass
das Einströmungsrohr nicht zwecks Erniedrigung der Heizkörpertemperatur,
sondern um eine sichere Entlüftung der Radiatorheizkörper zu gewährleisten,
von Käuffer u. Co. und Anderen angeordnet wurde, wobei sich alsdann
zeigte, dass auch ohne Anwendung der Einströmungsrohre die Entlüftung
und vollständige Heizkörpererwärmung möglich ist und daher das Einströ¬
mungsrohr als überflüssig bei späteren Anlagen wieder fortgelassen wurde.
„Meine Herren! Die weiteren Fortschritte auf dem Gebiete centraler
Heizungs- und Lüftungsanlagen im letzten Jahrzehnt bestehen in der haupt¬
sächlich in dieser Zeit erfolgten Verbesserung der Betriebsaufsicht über der¬
artige Anlagen. Dem Beispiele Berlins und der rheinischen Provinzialver¬
waltung, welche bereits vor mehr als 20 Jahren die Nothwendigkeit einer
fachmännischen Aufsicht über den Neubau und den Betrieb der Central -
heizungs- und Lüftungsanlagen in den ihrer Verwaltung unterstellten Ge¬
bäuden erkannt haben, sind inzwischen eine ganze Anzahl grosser deutscher
Städte in der Anstellung von Heizungsingenieuren als Beamte gefolgt. So
sind etatsmässige Stellen für Heizungsingenieure bisher in den nachfolgen¬
den Städten geschaffen worden: München, Nürnberg, Dresden, Leipzig,
Breslau, Stettin, Hamburg, Lübeck, Bremen, Cassel, Charlottenburg, Halle,
Barmen, Düsseldorf, Köln, Frankfurt a. M. Mit jedem Jahre wird die Liste
der städtischen Heizungsingenieure grösser, so dass sich bereits ein Mangel
an dazu geeigneten Kräften, besonders an solchen mit ausreichender prak¬
tischer Erfahrung, worauf es bei Auswahl der Bewerber an erster Stelle
ankommen sollte, fühlbar gemacht hat. Auch die Reichs- und preussische
l ) Im December 1891 bemühte sich Käuffer erfolglos um Patenterlangung
auf das Verfahren.
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen. 103
Regierung haben für die Heizungs- und Lüftungsanlagen des Reichstags¬
gebäudes, bezw. der beiden Abgeordnetenhäuser Specialfachleute zur An¬
stellung gebracht, wenngleich von Heizungsingenieuren geleitete Bureaus
zur Beschaffung und Betriebsunterhaltung der übrigen zahlreichen in Staats¬
gebäuden vorhandenen Heizungs- und Lüftungsanlagen zur Zeit in Deutsch¬
land noch nicht bestehen. — Die Gründung eines besonderen Lehrstuhles für
Heizungs- und Lüftungstechnik an der grössten deutschen technischen Hoch¬
schule zu Berlin und, was besonders dabei yon Bedeutung ist, die Berufung
eines Heizungsingenieurs auf denselben, darf nicht unerwähnt bleiben,
ebenso dürfen die Verdienste dieses hervorragendsten Vertreters des Hei¬
zungs- und Lüftungsfaches, des Herrn Geheimen Regierungsrath Professor
Rietschel, um die Entwickelung des Faches, bei Besprechung der Fort¬
schritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen im letzten
Jahrzehnt nicht unangedeutet bleiben.
„Meine Herren! Ist auf diese Weise besonders für Ueberwachung der
Neuanlagen und des Betriebes der Centralheizungsanlagen in öffentlichen
Gebäuden im letzten Jahrzehnt reichlich gesorgt worden, so wird um so mehr
empfunden, dass es bisher noch an unabhängigen und unparteiischen Be-
rathungsstellen für die ungezählten centralen Heizungs- und Lüftungsanlagen
privater Wohnhäuser und Fabrikgebäude etc. fehlt Wie viel Geld und
Aerger könnte durch die Errichtung solcher Berathungssteilen gespart wer¬
den, und wie gross würde der Nutzen derselben für die allgemeine Gesund¬
heitspflege sein! Dies näher zu erörtern, werden Sie mir, meine Herren,
wohl erlassen können. Viele unter Ihnen, welche in die Lage gekommen
sind, bei Beschaffung von Centralheizungsanlagen mitzuwirken, werden den
Nutzen einer unparteiischen sachverständigen Berathung in solchen Fragen
gewiss erkannt haben. Dass es nicht immer im Interesse des Besitzers einer
Centralheizung ist, die sachverständige Aufsicht über den Betrieb und die
Instandhaltung dem Lieferanten der Anlage oder einer Concurrenzflrma zu
übertragen, lässt sich leicht begreifen. Sofern es aber hieran überhaupt fehlt,
wird die Gesundheit der Hausbewohner, anstatt durch die Centralheizungs¬
anlage gepflegt, sehr oft schweren Schädigungen ausgesetzt, wie die Befund¬
berichte bei zufälligen Revisionen mancher Centralheizungs- und Lüftungs¬
anlagen sattsam dargethan haben. Auch bei der Brennmaterialauswahl und
-beschaffung bedarf es sehr oft des sachverständigen Rathes, ebenso wie die
Beurtheilung der angemessenen Verbrauchsmengen an Brennmaterial und
bei reichen Erfahrungen und bei fortwährender Vergleichung gleichartiger
Betriebe durch den erfahrenen Heizungsingenieur möglich ist. Allein hier¬
durch würden die Kosten einer derartigen Aufsicht über die privaten Central¬
heizungsbetriebe mehrfach eingebracht werden. Diese sich als dringend
nothwendig erweisenden unabhängigen Beratungsstellen für Besitzer pri¬
vater centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen für Wohnhäuser, Fabriken etc.
könnten durch Gründung von Ceutralheizungsüberwachungsver-
einen nach Muster der Dampfkesselüberwachungsvereine ge¬
schaffen werden. Die Vereinsbeamten würden, wie bei den Dampfkessel¬
überwachungsvereinen, in allen den Bau und Betrieb von Centralheizungs-
*) Vergl. Beilage zur Deutschen Bauzeitung vom Januar 1883. „TTeher Luft¬
heizung“ von J. H. Reinhardt in Würzburg.
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104 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
und Lüftungsanlagen betreffenden Fragen Rath und Auskunft ertheilen, bei
Aufstellung von Programmen zu Heizungs- und Lüftungsanlagen mitwirken
können, die Prüfung der Entwürfe und Angebote solcher Anlagen übernehmen,
und als Sachverständige, Preis- und Schiedsrichter in allen derartigen Fragen
thätig sein. Die Kosten für die Thätigkeit der Vereinsbeamten würden, wie
bei den Dampfkesselüberwachungsvereinen, durch Vereinsbeiträge zu decken
sein. Bei der grossen Verbreitung der Centralheizungs- und Lüftungsanlagen
können letztere voraussichtlich sehr niedrig gehalten werden.
„Meine Herren! Konnten wir im verflossenen Jahrzehnt bei den Central¬
heizungsanlagen erfreulicher Weise eine fortgesetzte Entwickelung beob¬
achten, so ist das bei den Lüftungsanlagen kaum, jedenfalls nicht in dem
gleichen Maasse der Fall. Für manche Verwaltungsstellen hat es sogar den
Anschein, als sei dort das Verständniss für die Lüftungsanlagen in den
letzten Jahren im Rückgänge begriffen. Aus den erst vor Kurzem (24. März
1901) erschienenen neuen ministeriellen „Anweisungen zur Herstellung und
Unterhaltung von Centralheizungs- und Lüftungsanlagen“ *) ist unverkenn¬
bar zu entnehmen, dass die Anforderungen an die Lüftungsanlagen seitens der
preussischen Staatsbehörde seit dem Jahre 1885 wesentlich ermässigt worden
sind, während die Heizungsanlagen sowohl bei der Neubeschaffung als auch
in der Betriebsaufsicht schärfer und eingehender beachtet werden. So ist
beispielsweise auch die Grösse des Luftwechsels neuerdings wieder niedriger
bemessen, als noch 1893 festgesetzt worden war und, was die Hauptsache
ist, es sind die früher den Staatsbaubeamten wenigstens zweimal jährlich
zur Pflicht gemachten Messungen des Luftwechsels und Feststellungen der
Luftbeschaffenheit mittelst des Kohlensäureapparates und des Hygrometers
ganz in Fortfall gekommen. Damit ist die zuverlässige Controle des sach-
gemässen Betriebes der Lüftungsanlagen selbstredend auch gefallen und die
gute Function derselben den Heizern überlassen, die bekanntlich zur Ver¬
minderung ihrer Arbeitsleistungen für die möglichste Abstellung der Lüf¬
tungsanlagen bemüht bleiben werden.
„Auch bei manchen Gemeindeverwaltungen sind die Lüftungsanlagen zu
Gunsten der Heizungsanlagen sehr erheblich in den Hintergrund getreten,
so beispielsweise bei den Münchener Schulheizungen, ein System, das leider
auch hier und da in anderen Städten, u. a. neuerdings in Köln, Anwendung
gefunden hat. Die Lüftungsanlage ist bei dem Münchener Schulheizungs¬
system scheinbar ausreichend vorhanden; aber eine derartige Anlage fnnc-
tionirt nicht nach Erforderniss, weil es dabei an der Hauptsache, das ist
am nothwendigen Auftrieb der frischen Zuluft fehlt. Die Abluftcanäle er¬
zeugen in Folge dessen eine Saugspannung in den Lehrsälen und damit
Zugluft an Thüren und Fenstern. Da die Heizfläche für die Erwärmung
der Ventilationsluft nicht im Keller des Schulgebäudes, sondern in den Lehr¬
sälen selbst aufgestellt ist, so ist die Erwärmung der Lehrsäle überreichlich
gesichert und dadurch ein Ueberheizen der Lehrsäle, das besonders bei den
Klassen der Lehrerinnen häufig beobachtet werden kann, leicht möglich ge¬
macht. Auch ist dem von manchen Lehrkräften sehr beliebten Aufstellen
der Oberlichter an den Fenstern während des Unterrichtes, unter gleich-
l ) Verlag von Wilhelm Ernst u. Sohn, Berlin 1901.
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen. 105
zeitiger Einstellung der vollen Heizkraft des Ofens, zum Nachtheil der Ge¬
sundheit der Schulkinder, besonders bei grösserer Kälte, der grösste Vorschub
geleistet. Während sich die Lehrpersonen durch Wahl einer günstig ge¬
legenen Aufenthaltsstelle im Schulsaale der zweifellos durch die geöffneten
Oberlichtfenster entstehenden Zugluft entziehen können, sind die Schulkinder
gezwungen, an ihren Plätzen zu verharren, und werden sich dieselben eines
Einspruches gegen dieses Attentat auf ihre Gesundheit aus leicht begreif¬
lichen Gründen wohl enthalten. Die Hinlenkung der Aufmerksam¬
keit der Mediciner und der Schulbehörden auf diesen Uebel-
Btand würde ich als dankenswerthen Erfolg meiner Ausfüh¬
rungen im Interesse der Gesundheitspflege unserer Schuljugend
betrachten.
„Meine Herren! Es bedarf zur Bekämpfung solcher Missstände eines
gewissen Zwanges, und dieser besteht zunächst darin, dass Lüftungs¬
anlagen nach Münchener Muster möglichst verhindert werden und dass dafür
Lüftungsanlagen an ihre Stelle gesetzt werden, die das Eintreten besagter
Uebelstände vermeiden. Tritt die frische Luft mit einem gewissen Ueber-
druck in den beheizten Raum ein, so hat sie das Bestreben, die Aussenluft
an den unvermeidlichen Undichtigkeiten an Thüren und Fenstern zurück
zu halten und damit schon die Zugluft zu bekämpfen. Der Ueberdruck kann
durch mechanische Ventilation mittelst Ventilatoren oder Gompressoren,
sowie durch Erwärmung der Zuluft im Kellergeschoss hervorgebracht wer¬
den, wobei auf ein richtiges Verhältniss der Querschnitte der Abluftcanäle
zu den Luftzuführungscanälen zu achten bleibt. Beide Ventilationsmethoden
sind in Anwendung, erstere besonders in England und Amerika. Von der
mechanischen Ventilation wird in Deutschland für Schulheizungen noch wenig
Gebrauch gemacht, dagegen ist die letztere Methode, durch Erwärmung der
Zuluft im Untergeschoss einen Ueberdruck zu erzielen, bei uns besonders
in Norddeutschland zu Hause. Es ist ferner nöthig, ein gewisses Mindest¬
masse an Frischluft den Schulen, Krankenhäusern und Versammlungsräumen
durch die Art der Ausführung der Heizungs- und Lüftungsanlage unter
allen Umständen zu sichern. Der Heizungsingenieur der Stadt Wien, Herr
Bauinspector Hermann Beraneck, hat auf diesen Umstand, auf Grund
seiner praktischen Erfahrungen bei den Wiener Schulheizungen im Jahre
1896, zuerst hingewiesen und die Ausführungsart derartiger Heizungs- und
Lüftungsanlagen angegeben. Beraneck nennt seine Schulheizungen Central¬
heizungsanlagen mit zwangs weiser Ventilation. Die Lüftung wird dadurch
erzwungen, dass eine Abstellung derselben nur durch Rückgang der Tem¬
peratur in den beheizten Lehrsälen zu erkaufen ist. Ist also ein Raum bei
den Beraneck’schen Anlagen genügend beheizt, so ist er auch zweckent¬
sprechend und hinreichend gelüftet. Gegen zu niedrige Raumtemperatur
ist aber auch das Lehrerpersonal sehr empfindlich, während dasselbe den
Aufenthalt in der verdorbenen Klassenluft erfahrungsgemäss weit weniger
empfindet, zumal die Aufmerksamkeit doch zunächst auf den Unterrichts¬
gegenstand gerichtet ist, und der Geruchssinn bei Beurtheilung der Luft-
verderbniss versagt, wenn die Luftverschlechterung des Aufenthaltsraumes
allmählich im Beisein des Beobachtenden fortschreitet. Beraneck stellt
nur in dem Falle Heizkörper in den Schulsälen auf, wenn der Wärmebedarf
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106 XXYI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
in Folge der Abkühlung des Raumes grösser ist, als die dem Raume durch
die eingeführte warme Luft von einer nicht zu überschreitenden Temperatur
zuströmende Wärmemenge beträgt. Es ergeben sich danach meist nur für
Eckräume und auch für diese nur verhältnissmässig kleine Heizkörper.
„lieber Vorhandensein von Heizkörpern in den Lehr- oder Kranken*
sälen selbst kann man getheilter Meinung sein. Ich vertrete die Ansicht,
dass es besser ist, keine Heizkörper in den Schulsälen aufzustellen, und da¬
für lieber die Eintrittstemperatur oder die Stärke des Luftwechsels zu ver-
grössern. Jedenfalls sollte man aber nur unverkleidete und von Hand ab¬
waschbare Heizkörper in den Schul- und Krankensälen unterbringen. Rippen¬
heizkörper hinter Vorsetzern und dazu in Mauernischen untergebracht, sind,
weil reinigungsunfähig, hygienisch unzulässig, und auch aus diesem Grunde
muss die Anwendung von Münchener Schulheizungen, trotz ihres billigen
Anschaffungspreises, bekämpft werden.
„Auch die unter meiner Leitung (1890 bis 1899) entstandenen Kölner
Schulheizungen haben Lüftungsanlagen mit zwangsweiser Ventilation er¬
halten, wobei Mischklappen zur Anwendung gekommen sind. Die Luft
wird mit Ausnahme von einer Schule, die mit Niederdruckdampfheizung
versehen ist, durch Feuerluftheizung erwärmt.
„Meine Herren! Ich fasse meine Ausführungen in folgenden Schluss¬
sätzen zusammen und stelle dieselben zur Discussion:
1. Als Endziel der Bestrebungen zur Vervollkommnung der centralen
Heizungs- und Lüftungsanlagen ist die vollständig selbstthätige
Wärme- und Lüftungsregulirung in den Aufenthaltsräumen zu be¬
trachten. Für dicht bebautes Gelände ist centrale Heizstoffzufuhr
zu den Aufenthaltsräumen anzustreben. Steinkohlenleuchtgas und
Wassergas, einzeln oder gemischt verwendet, eignen sich wegen ihrer
Gesundheitsscbädlichkeit nicht für diesen Zweck.
2. Lüftungsanlagen sind für Gesundheit und Wohlbefinden nicht weniger
wichtig wie Heizungsanlagen, und dürfen erstere daher nicht zu
Gunsten der letzteren vernachlässigt werden. Für Schulen, Kranken¬
häuser und Versammlungsräume ist ein Mindestluftwechsel durch
die Art der Einrichtung der Heizungs- und Lüftungsanlage zu er¬
zwingen.
3. Durch Gründung von Centralheizungsüberwachuugsvereinen nach
Muster der Dampfkesselüberwachungsvereine würde der zweckent¬
sprechende Bau und Betrieb der Heizungs- und Lüftungsanlagen
wesentliche Förderung erfahren.“
Der Vorsitzende eröffnet hierauf die Discussion:
Dr. Petruschky , Stadtrath und Director der hygienischen Unter¬
suchungsanstalt zu Danzig, ist der Ansicht, dass, so sehr auch die Heizungs¬
technik im Fortschritte begriffen sei, die Lüftungstechnik nicht immer Hand in
Hand mit ihr geschritten sei; und doch sei gerade die Fortschaffung der ver¬
brauchten Luft und die Herbeischaffung frischer Luft eine der wichtigsten
Forderungen der öffentlichen Gesundheitspflege. Der Herr Referent habe
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen. 107
schon erwähnt, welche Nachtheile die Lüftung durch die alleinige Wirkung
des auf steigenden warmen Abluft Stromes habe. Diese Art der Lüftung er¬
zeuge eine Saugspannung, diese wiederum begünstige Zugluft und habe
noch einen Uebelstand, der namentlich für manche Kranke, für Asthmatiker
und derart Leidende eine grosse Unannehmlichkeit bedinge, indem die Ein-
athmung dieser etwas verdünnten und immer zur Verdünnung neigenden
Luft bei ihnen Athmungsbeschwerden erzeuge.
Als Möglichkeiten, diese Art der Saugspannung zu vermeiden, habe der
Referent zwei genannt: erstens die mechanische durch Ventilatoren, die
naturgemäss sehr kostspielig sei, und zweitens die Vorwärmung der zu-
geführten frischen Luft. Es gebe aber auch noch eine dritte Methode, die
anscheinend in Vergessenheit gerathen sei, die in den achtziger Jahren von
dem Architekten Wuttke geschaffen, aber wohl in Folge gewisser Mängel,
die ihr Anfangs angehaftet haben, wieder aufgegeben worden sei. Wuttke
habe zur Lüftung die Triebkraft des Windes benutzt und diese vom Dach
•her, also aus den oberen reinen Luftschichten, zugeführt. Es habe dies
naturgemäss sehr grosse Vorth eile, wenn die einzuführende Luft nicht aus
den dunstigen, unreinen Luftschichten der Städte, sondern von oben über
die Dächer her aus den reinen Luftschichten, zugeführt werde. Diese Zu¬
führung von oben her durch den Wind könne in der Weise ausgenutzt
werden, dass man einen Luftschacht einrichte, dessen Oeffnung sich durch
eine mechanische Vorrichtung je nach der Richtung des Windes einstelle.
Das sei aber eine mangelhafte Methode und sie habe sich desswegen nicht
als praktisch erwiesen, weil solch eine mechanische, drehbare Vorrichtung
leicht in Unordnung gerathe. Desshalb sei in Danzig, in dem Hause des Herrn
Sanitätsrath Dr. Tornwaldt, der als Vorkämpfer dieser Lüftungsmethode
in Danzig gewirkt habe, die Vorrichtung derart angebracht worden, dass
vier getrennte Luftzuführungsschächte gebaut seien, von denen jeder gegen
eine bestimmte Windrichtung oben offen sei, so dass, von woher auch der
Wind komme, er immer in einen dieser Luftschächte hineindrücken müsse.
Die anderen Luftschächte seien unten durch einfache Papierventile ge¬
schlossen , so dass eine saugende Wirkung der Windes verhindert werde.
Die von dem Winde aus den reinen, oberen Luftschichten in die Schächte
hineingedrückte Luft gelange nach unten in einen Sammelraum, in den
Windkessel, in dem sich die Central-Heizungs Vorrichtung befinde. In diesem
Privathause sei dies ein gemauerter Ofen, der noch durch besondere Vor¬
richtungen, durch besondere Ableitung der Feuerungsgase in starker Weise
ausgenutzt werde, sö dass man die Erwärmung ziemlich schnell erreiche und
dass sie andererseits auch ziemlich lange Vorhalte. Selbstverständlich könne
man aber auch jede Centralheizungsanlage, jede Art von Heizkörpern bei
dieser Art von Luftzuführung benutzen. Hierbei habe man also beide
Lüftungsfactoren in Thätigkeit: die mehr active Wirkung des Windes, der
sich geltend macht, auch wenn er noch so schwach sei, und dann der Auf¬
trieb der vorgewärmten Luft. Selbst bei dem geringsten Winde functionire
diese Anlage ausgezeichnet und unter Vermeidung jeder Saugspannung:
aber auch bei starkem Winde wirke die Anlage gut, da der grosse Weg,
den die Luft zurücklege, die Heftigkeit und Ungleichheit des Druckes sehr
abschwäche; in allen Fällen sei eiue ausreichende Lüftung der Räume er-
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108 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
reicht. In den sechs Jahren, in denen die Einrichtung im Hause des Herrn
Tornwaldt bestehe, habe sich diese Lüftung so ausgezeichnet bewährt, dass
die Stadt Danzig sie für ein neu zu erbauendes Krankenhaus in die Pläne
aufgenommen habe.
Nach den in Danzig gemachten Erfahrungen habe er sich berufen ge¬
fühlt, die Herren Techniker und Hygieniker auf diese Art der Lüftung auf¬
merksam zu machen und sie wo möglich zu veranlassen, Versuche in etwas
grösserem Maassstabe damit anzustellen, namentlich, da sie in keiner Weise
theurer sei als die sonst bestehenden Lüftungseinrichtungen, und da sie
seines Erachtens für Schulbauten und derartige Gebäude, in denen Ansamm¬
lungen von Menschen die Regel bilden, geradezu ein ideales Verfahren sei.
Commerzienrat Ingenieur Uenneberg (Berlin) bemerkt, dass, wer
immer zu dem weiten und wichtigen Fache der Centralheizungs - und
Lüftungsanlagen in irgend welcher Beziehung stehe, es sicherlich mit grosser
Freude begrüsst habe, dass der Verein nach längerer Pause auch dieses
Capitel einmal wieder auf seine Tagesordnung gesetzt habe. Schon aus
beruflichem Interesse heraus sei er dem Vortrage des Herrn Referenten mit
der grössten Aufmerksamkeit gefolgt, aber zu seinem Bedauern müsse er
bekennen, dass nach seinem subjectiven Empfinden dieses Referat, so um¬
fassend und fieissig und so durchdacht es auch sei, sich doch in einer
Richtung bewegt habe, die seines Erachtens den Verhandlungen hier nicht
angepasst sei. Der Verein für öffentliche Gesundheitspflege könne sich un¬
möglich mit den zahllosen Constructionsdetails, die auf einem so weiten Ge¬
biete existiren, des Näheren befassen, er müsse höhere und allgemeinere
Gesichtspunkte zur Geltung bringen. Diejenigen, die beruflich an der
Lösung der einschlägigen Fragen arbeiten, kämen gerade hierher, um zu
hören, welche Richtung sie ihren Bestrebungen demnächst geben sollen.
Aber irgend welche allgemeine Directiven seien in den Schusssätzen des Herrn
Referenten nicht präcise zum Ausdruck gekommen.
Man könne die Frage von zwei Seiten beurtheilen, von der technischen
und von der hygienischen. Die technische Erörterung aber sei nicht so
aufzufassen, als sollte hier entschieden werden, wie die verschiedenen Auf¬
gaben zu lösen seien, sondern es könne nur entschieden werden: was durch
die Technik erreicht werden solle.
Als Fachmann müsse er es aussprechen, dass nach der Arbeit eines
Menschenalters — nicht nur von zehn Jahren — man jetzt über eine Fülle
zweckmässiger und guter Constructionen verfüge. Die Erkenntniss des
Wesens der einzelnen Heizungs- und LüftungsSysteme sei, dank namentlich
den Arbeiten von Rietschel, eine so vollkommene geworden, dass man
weniger danach strebe, in den Einzelheiten noch wieder besondere Voll¬
kommenheiten herbeizuführen — was ja an sich auch wünschenswerth
sei —, sondern dass man in erster Linie jetzt das Bedürfnis fühle, von
einem Forum, wie der Verein es darstelle, zu hören, welches die hygienischen
Normen seien, nach denen man Heizungs- und Lüftungsanlagsn unter Be¬
nutzung der bekannten Constructionen anordnen und ausführen solle.
Man vergegenwärtige sich, dass heut zu Tage noch fast in jeder Stadt die
Schulheizungen nach besonderen Gesichtpunkten hergestellt werden; dass
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen. 10D
man in der einen Stadt vollkommen andere Ansichten über die richtige
Lüftnng und Heizung der Krankenhäuser habe, wie in der anderen, u. s. w.
Da müsse man doch sagen: das Fach habe sich technisch zwar hoch ent¬
wickelt, aber vom Standpunkte der Hygiene aus sei noch ein gewisses Chaos
der Anschauungen vorhanden, welches zu lichten weniger die construirenden
Ingenieure berufen seien, als die Hygieniker, die sich mit der Gesundheits¬
pflege als solcher beschäftigen.
Was den Technikern hauptsächlich das Leben schwer mache, das sei,
dass ihr Fach durch den Gang der Dinge auf ein Niveau heruntergedrückt
worden sei, welches seiner wissenschaftlichen Bedeutung und seiner Ver¬
bindung mit der Hygiene nicht entspreche. Die Heizungs-Ingenieure zählen
heut zu Tage mehr oder weniger zu den bauuntemehmenden Firmen, sie
werden behandelt wie Handwerker, und das Maass der geistigen Arbeit beim
Bau von Heizungs- und Lüftungsanlagen werde nicht immer so gewürdigt,
wie es verdiene. Man empfange dadurch auch nicht den Ansporn, weiter
zu streben, und der Eifer, das Beste zu leisten, erlahme sehr leicht unter
dem Drucke des Submissionswesens, welches nirgend schlechter angewandt
sei, als gerade auf dieses Fach. Das seien aber Fragen, auf die Redner
hier nicht eingehen könne und wolle.
Er halte es für ganz falsch, wollte man, wie der Herr Referent Vor¬
schläge, ein so eng gestecktes Ziel sich setzen, wie etwa die selbstthätige
Regulirung der Heizung und Lüftung innerhalb der Aufenthaltsräume. Man
könne darüber zweierlei Meinung sein, ob diese Aufgabe überhaupt lösbar
sei, er selbst sei der Meinung, sie sei unlösbar, und er würde seine kostbare
Zeit nicht daran verschwenden, selbstthätige complicirte Mechanismen zu
erfinden, um allenfalls der Sache nahe zu kommen. Darin liege unsere Auf¬
gabe nicht, sondern sie liege darin, dass man die Constructionen mehr und
mehr ihrem eigentlichen hygienischen Zwecke anpasse und sie so einfach
gestalte wie möglich und so allgemein verständlich wie möglich.
Und da komme ein ganz wesentliches Moment hinzu: man müsse über¬
haupt die Keqntniss dieser Dinge in viel weitere Schichten tragen, als es
bisher der Fall gewesen sei. Man stosse auf ein Vacuum von Anschauungen
und Kenntnissen, welches ganz erstaunlich sei, wenn man mit den Reflectanten
auf Heizungs- und Lüftungsanlagen in Berührung komme. Es gebe Bau¬
herren, die sich theure Häuser bauen lassen mit kostbaren technischen Ein¬
richtungen und es nicht einmal erfasst haben, worin der Unterschied zwi¬
schen einer Dampf- und einer Wasserheizung bestehe. Es liege da eben
eine Lücke in unserer allgemeinen Bildung vor. Vergegenwärtige man sich,
dass unsere Kinder sich heut zu Tage in ihren Mussestunden damit beschäftigen,
Telephone zu bauen, dass die jungen Leute an Modellen von Locomotiven
und Maschinen sich beschäftigen, dass sie mit grosser Gelehrsamkeit über
Gleichstrom und Wechselstrom zu reden verstehen, wenn sie aus der Schule
nach Hause kommen. Aber frage man einen strebsamen und intelligenten
Tertianer oder Secundaner, ob er wisse, was eine Dampfheizung und was
eine Wasserheizung sei, und ob er wisse, wie es sich mit dem Wärmebedarf
in den menschlichen Wohnungen verhalte, und warum und wie stark ge¬
lüftet werden müsse — auch nur annähernd —, so sei darüber durchaus
nichts von ihm zu erfahren. Und doch, so gut wie man sich bemühe, die
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110 XXYI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentL Gesundheitspflege zu Rostock.
Kenntniss der Nahrungsmittel in weitere Kreise zu tragen, so gut man über
die F.rnährungstheorie auch schon die Jugend unterrichte, so gut müsste
sie unterrichtet werden über das Bedürfnis des Menschen an Wärme und
Luft. Und es sollte der Verein für öffentliche Gesundheitspflege es doch
auch einmal versuchen, auf dieser Bahn uns weiter zu führen, vor allen
Dingen dadurch, dass er gewisse Normen auf stelle, welche Kraft seiner
Autorität allgemeine Anerkennung finden würden. Es dürfe nicht in der
einen Stadt heissen: es seien im Krankenhause für ein Bett 30cbm Luft er¬
forderlich, während man in einer anderen der Ansicht sei, derselbe Kranke
habe 80 cbm nöthig. Die Technik sei nicht in der Lage, einheitliche Grund¬
sätze zu befolgen und sich consequent weiter zu entwickeln, so lange der¬
artige principielle Ungleichheiten bestehen.
Wenn er hätte vom geschäftlichen Standpunkte aus Schlusssätze
aufstellen sollen, so würde er ungefähr gesagt haben: „Die Bestrebungen
zur Vervollkommnung der Centralheizungs- und Lüftungsanlagen können
nur dann den wünschenswerthen Erfolg haben, wenn die Besteller mehr wie
bisher die geistige Arbeit der in dem Fache thätigen Ingenieure und
Fabrikanten sowohl in Bezug auf die Gesammtanordnung wie die constructive
Durchbildung zur Geltung kommen lassen, wenn sie nicht nur die Anlage¬
kosten, sondern auch die Kosten der Instandhaltung und des Betriebes in
Rechnung ziehen, wenn sie streng auf eine sachgemässe Ausführung und
die Verwendung tadellosen Materiales halten, wenn sie endlich mitwirken
— insbesondere Aerzte und Architekten —, das ganze Fach von dem hem¬
menden Drucke des ihm in jeder Beziehung schädlichen Submissionswesens
zu befreien.“
Aber dem höheren Standpunkte, wie er für den Verein für öffent¬
liche Gesundheitspflege in Frage komme, würde eher ein Satz ent¬
sprechen, wie der folgende: „Das Ziel aller Bestrebungen zur Vervoll¬
kommnung der Centralheizungs- und Lüftungsanlagen muss sein, sie in
höherem Maasse wie bisher zu einem wesentlichen Hülfsmittel der Gesund¬
heitspflege zu gestalten. Dazu ist es erforderlich, dem Grundsätze allgemeine
Anerkennung und Befolgung zu verschaffen, dass eine dem Laien verständliche
und von ihm zu beherrschende richtige Vertheilung von Wärme und Luft
auf die jeweils in Frage kommenden einzelnen Räume von Fall zu Fall, den
hygienischen Bedürfnissen und allgemein anerkannten Normen entsprechend,
durch die Anordnung und Durchbildung jeder Heizungs- und Lüftungsanlage
sichergestellt sein muss.“
Dann wolle er noch ein kurzes Wort über die sogenannten Fernheiz-
anlangen sagen und es aussprechen, dass einer der grössten Fortschritte,
welche in der letzten Zeit gemacht worden seien, zweifellos der Bau grösserer
Fernheizungsanlagen und Districtheizungen sei. Es sei nicht ganz richtig,
dass das sächsische Ministerium ganz allein das Verdienst für sich in An¬
spruch nehmen könne, darin den Anfang gemacht zu haben. Die An¬
regung sei zweifellos von dort ausgegangen, aber es seien daraufhin doch
auch andere Kräfte thätig gewesen, um die Construction und Ausführung
des grossen Dresdener Werkes zu vollbringen.
Derartige grosse Anlagen haben nicht nur einen wirthschaftlichen Zweck,
sondern auch einen hygienischen, und zwar den, dass die Verqualmung
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler üeizungs- und Lüftungsanlagen. 111
weiter Districte aufhöre, dass man es viel besser in der Hand habe, die Ver-
theilung von Wärme und auch von Luft gleichmässig auf grosse Districte
zu bewirken, und dass die Feuersgefahr aus all den Gebäuden, welche an
eine derartige Anlage angeschlossen seien, mit einem Schlage entfernt sei.
Man benutze bei diesen Fernleitungen thatsächlich bis jetzt den Dampf als
Träger der Wärme, also für den Heizstofftransport, wie Herr Oslender
sich ausdrücke. Er persönlich sei nicht sehr dafür eingenommen, dass man
an Stelle des Dampfes Gas benutzen solle, indem man an einem Central¬
punkte Gas erzeuge und dann durch dessen Verbrennung an den einzelnen
Gebrauchsstellen wiederum die Wärme entwickele; denn damit falle erstens
der Vortheil, die Feuersgefahr einzuschränken, weg, und zweitens handele
es sich dabei um einen Stoff, der gewisse Gefahren in sich berge. Die Ver¬
giftungsgefahr könne man mit der nöthigen Vorsicht allenfalls Yenneiden,
aber die Explosionsgefahr bleibe, denn Gas werde stets ein Explosionsstoff
genannt werden müssen, sobald es in Mischung mit atmosphärischer Luft
trete, wie es bei der Verbrennung unerlässlich sei. Darin erblicke er vom
Standpunkte dieses Vereines aus ein schweres Bedenken. Er könne sich
auf eine Erörterung der Gasfernheizungsfrage hier nicht einlassen und
wolle nur noch bemerken, dass er in einen Schlusssatz nicht hineinschreiben
würde: „Dieser Stoff ist überhaupt auszuschliessen“, sondern er würde
sagen: „Dieser Stoff ist vom hygienischen Standpunkte aus nicht un¬
bedenklich.“
Zum Schlüsse wolle er noch hervorheben, wo seiner Ansicht nach die
Zukunft des Heizungswesens liege und wohin die weitere Entwickelung ge¬
leitet werden sollte: Nicht in der Auffindung, wie er schon einmal er¬
wähnt habe, kleiner sinnreicher Details — die ergeben sich durch den
Kampf der Concurrenz und durch das Emporkommen immer neuer Kräfte
und Mitarbeiter ganz von selbst —, sondern in der Vereinigung wirthschaft-
licher Grundsätze mit hygienischen! In dem Wirthschaftsleben der be¬
theiligten Industrieen dränge Alles darauf hin, dass man zum Bau grösserer
Districtheizungen übergehe, und zwar einheitlich auf eine Kategorie grosser
Anlagen, welche bereits in stattlicher Zahl ohne Zuthun der Heizungstechnik
entstanden seien. Das seien die grossen Licht- und Kraftwerke! Dort
arbeiten ungezählte Pferdekräfte mit Hülfe colossaler Dampfkesselanlagen,
und es bestehe heute noch die Schwierigkeit, diese Dampfkesselanlagen zu
wirklich ökonomischen Arbeiten zu bringen, weil Licht- und Kraftbedarf
grossen Schwankungen unterworfen seien, und in den Perioden ihrer Minima
ein gewisser angesammelter Ueberschuss von Wärme nicht recht zur Ver¬
wendung gelangen könne. Da müsse die Technik ihre Hebel ansetzen, da
müsse man alle Kräfte vereinen, um das Diagramm des Dampfverbrauches
aus der jetzt schwankenden Curve in eine möglichst horizontale Linie zu
verwandeln. In Dresden habe man zum ersten Male zielbewusst den Licht¬
bedarf durch den Wärmebedarf zu erzeugen gesucht. Der Erfolg sei nicht
ausgehlieben. Damit sei man der Lösung eines wirthschaftlichen Problems
von eminenter Bedeutung ein gutes Stück näher gekommen, darin liege eine
grosse; Zukunft, wenn man niemals vergesse, dass neben den wirthschaft¬
lichen Aufgaben auch die hygienischen gefördert werden müssen.
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112 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Erster Bürgermeister von Borscht (München) wendet sich gegen
die Behauptungen des Referenten, dass in München das Lüftungswesen in
den städtischen Schulen so sehr im Argen liege. Wenn die Schilderung des
Referenten zutreffend sei, müsse sie mit vollem Recht die herbste Kritik
herausfordern. Dem gegenüber müsse er doch constatiren, dass in der
Presse, deren Spalten täglich für zahlreiche „Eingesandt“ offen stehe, und
die allen Klagen über städtische Verhältnisse mit der grössten Bereitwillig¬
keit Raum gewähre, bis jetzt gerade über die Lüftung in den städtischen
Schulen sehr wenig zu lesen gewesen sei — dass Beschwerden seitens der
Eltern der Schulkinder, die in diesem Punkte auch nicht so zurückhaltend
seien, wie von Seiten des Referenten angedeutet worden sei, ebenfalls nicht
zu Ohren der Schulbehörde gelangt seien —, dass der seit 11 Jahren im
Dienst der Stadt München stehende Heizungs- und Lüftungstechniker keine
besonderen Anstände zu constatiren Veranlassung gehabt habe, — und dass
endlich auch die Schulaufsichtsbehörde, deren Organe eine sehr häufige
Controle nicht bloss des Schulunterrichtes, sondern auch der sonstigen Zu¬
stände in den städtischen Schulhäusern vornehmen, ebenfalls nichts Erheb¬
liches zu beanstanden gefunden habe. Dass die Stadt München gerade dem
Heizungs- und Lüftungswesen in ihren Schulen die grösste Aufmerksamkeit
zuwende, sei schon aus dem Kostenaufwande von 35 000 bis 40000 Mark
zu entnehmen, die die Heizungs- und Lüftungsanlage in einem einzigen
Schulhause erfordere. Also ganz so schlimm sei es wohl nicht, wenn auch
nicht geleugnet werden solle, dass in München — wie gewiss auch anderorts —
mancher Lehrer in Bezug auf die Temperatur in den Schulzimmern und die
Handhabung der Lüftung seine eigenen Anschauungen haben möge.
Noch zu einer anderen Bemerkung des Referenten müsse er einige
Worte sagen, nämlich zu derjenigen, dass die Gaswerke eigentlich von der
Bildfläche verschwinden sollten. Das sei doch wohl nur dahin zu verstehen,
dass die Verwendung von Gas zu Heizzwecken zu beanstanden sei, und dass
Gaswerke, die hauptsächlich für Heizungen bestimmt seien, für die Zukunft
keine Existenzberechtigung mehr haben. Inwiefern dieser Satz richtig sei,
vermöge er als Laie nicht zu beurtheilen, doch müsse er der Anschauung
Ausdruck geben, daBs eine Industrie, in der Milliarden investirt seien,
jedenfalls nicht so ohne Weiteres die Segel streichen werde, und dass auch
da, wo Gasheizung eingeführt sei, die Technik Mittel und Wege finden
werde, um sie auch in hygienischer Beziehung weniger bedenklich erscheinen
zu lassen, als sie nach den Ausführungen des Herrn Referenten vielleicht
erscheinen möge.
Ingenieur Vetter (Berlin) ist der Ansicht, dass der Referent eine
Frage nicht genügend beantwortet habe, nämlich diejenige, was die Gesund¬
heitspflege von den Centralheizungs- und Lüftungsanlagen zu erwarten habe.
Und dazu sei es nicht nöthig, sich allzu sehr in Detailfragen zu verlieren.
Die einzelnen Centralheizungssysteme seien schon jetzt ausserordentlich
vervollkommnet, und die Industrie sei wohl in der Lage, wenn die Gesund¬
heitspflege den Bau guter Anlagen fordere, ihr vollauf Genüge zu leisten.
Dann habe er in dem Vortrage des Referenten die Erwähnung der
Warmwasserheizung vermisst, und dies müsse den Anschein erwecken,
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen etc. 113
als ob die Zukunft der Centralheizung in erster Linie bei der Dampfheizung
liege. Dieser Meinung neige er nicht zu, er sei der Ansicht, die Gesund¬
heitspflege solle in erster Linie auf das vollkommenere System der Warm¬
wasserheizung zurückgreifen, schon der Heizflächentemperatur wegen, die
bei der Warmwasserheizung wesentlich geringer sei als bei der Dampf¬
heizung; denn zwischen den Heizflächentemperaturen beider Systeme, zwi¬
schen durchschnittlich 75° und ca. 101° und 102° läge die Verbrennungs¬
temperatur des Staubes. Die Warmwasserheizung sei also die hygienischere
und gerade sie habe auch im letzten Jahrzehnt grosse Fortschritte gemacht,
indem man die Fehler und Nachtheile, welche früher durch die Ungleichheit
der Wärmeabgabe in den verschiedenen Stockwerken entstanden seien, voll¬
kommen beseitigt habe, so dass man heute thatsächlich gute Warmwasser¬
heizungen zu allererst in den Dienst der Gesundheitspflege stellen könne.
Aber auch in der Niederdruck-Dampfheizung seien bedeutende
Fortschritte gemacht worden; die Aufgabe der centralen Regulirung (vom
Kessel für alle Heizkörper) sei ebensowohl als gelöst zu betrachten wie die
der örtlichen Wärmeregulirung durch Ventile. Also auch hier sei die
deutsche Industrie im Stande, Gutes zu leisten.
Nun sei es aber auch nöthig, dass immer Gutes verlangt werde.
Solle eine Central heizungs- und Lüftungsanlage einen wensentlichen hygieni¬
schen Nutzen schaffen, so dürfe das im Einzelnen anzuwendende System,
sei es nun Warmwasserheizung oder Niederdruckdampfheizung oder ein
anderes System, nur in der vollkommensten Durchbildung ver¬
wendet werden. Dann sei es aber falsch, Centralheizungs- und Lüftungs-
anlagen durch Submission zu beschaffen, wie dies gerade im letzten Jahr¬
zehnt noch mehr als früher Mode geworden sei. Wenn eine so complicirte
Anlage, wie es eine Heizungs- und Lüftungsanlage sei, von zwei Ingenieuren
projectirt und veranschlagt werde, so kämen diese hinsichtlich der Con-
struction und des Umfanges, folglich auch hinsichtlich des Preises der
Anlage meistens zu sehr verschiedenen Resultaten, selbst wenn sie mit
gleichen Einzelpreisen veranschlagen. Einer projectire nach den solidesten
Grundsätzen, der Andere glaube von diesen mehr oder weniger ab¬
weichen zu dürfen. So komme es zu vollkommenen und unvollkommenen,
zu hygienisch werthvollen und hygienisch bedenklichen Anlagen. Wenn
nun bei den Submissionen, und das sei ja ihr Zweck, auf das niedrigste oder
auf eines der niedrigsten Angebote vergeben werde, so sei es unvermeidlich,
dass die Anlage gerade nach denjenigen Entwürfen ausgeführt werde, bei
welchen der hygienische Gesichtspunkt am wenigsten zu seinem Recht gelange.
In Betreff des Vorschlages des Referenten, Ueberwachungsvereine zu
gründen, müsse er bekennen, dass er einen Ueberwachungsverein für den
Betrieb von Centralheizungsanlagen nicht für dringend noth-
wendig halte, denn die geringen Schwierigkeiten im Betriebe von Central¬
heizungsanlagen könne man auch ohne das beseitigen. Centralheizungs¬
anlagen und speciell deren Feuerungen seien heute so einfach und so
gefahrlos, dass man auch dem Laien die Handhabung derartiger Apparate
vollkommen überlassen könne.
Anders stelle sich die Frage, ob es räthlich sei, den Bau der Central¬
heizungen zu überwachen, sei es durch Polizeiverordnung, sei es durch
VierteljahrMchrift für Gesundheitspflege, 1902. 3
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114 XXYI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentL Gesundheitspflege zu Rostock.
Gesetz. Vom hygienischen Standpunkte aus werde die Frage wohl zu be¬
jahen sein, Niemand werde behaupten können, dass die sehr strenge Controle
der Baupolizeiverordnungen, durch die der Bauende gezwungen werde, etwas
hygienisch Unbedenkliches zu schaffen, dem Bauwesen geschadet habe, und
so neige er zu der Meinung, es wäre kein grosses Unglück, wenn man noch
einen Schritt weiter ginge und durch polizeiliche Verordnung verhindere,
dass in einen solchen schönen Bau aus Ersparnissrücksichten eine un¬
genügende Heizungsanlage hineingesetzt werden dürfe. Es sei dies aber
eine schwer zu beantwortende Frage, denn wenn es einerseits Gebäude
gebe, in denen Vollkommenheit der Heizungsanlage mit Recht gefordert
werden müsse, so gebe es aber auch Gebäude, wie z. B. Geschäftshäuser
oder Gebäude zu industrieellen Zwecken, bei welchen eine derartige Härte
bei der Beurtheilung der Anlage nicht nöthig und geradezu bedenklich
sei. Wenn der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege es wünsche,
so werde der Verband deutscher Centralheizungs-Industrieeller bereit sein,
der Frage näher zu treten, ob der Gesundheitspflege thatsächüch genützt
werde, wenn in irgend einer Weise der Bau, eventuell auch der Betrieb von
Centralheizungsanlagen unter behördliche oder private Aufsicht zu stellen
wäre, wie denn der Verband überhaupt bereit sei, dem Deutschen Vereine
in Fragen der Centralheizungs- und Lüftungsanlagen stets Rath und jede
gewünschte Auskunft zu ertheilen.
Prof. Dr. 1. Pfeiffer (Rostock) erwähnt, der Herr Referent habe an den
Anfang seiner Schlusssätze die Worte gesetzt: als Endziel der Bestrebungen
zur Vervollkommnung der centralen Heizungs- und Lüftungsanlagen sei die
vollständig selbstthätige Wärme- und Lüftungsregulirung in den Aufenthalts¬
räumen zu betrachten. Dieses Ziel werde wohl vollständig nie erreicht
werden können, da die Ansprüche der Menschen an die Erwärmung des
Raumes immer sehr verschieden seien, es werde also eine gewisse, den
Wünschen des Einzelnen entsprechende Regulirung immer noch nöthig sein.
Selbst wenn man aber dieses Ziel anstrebe, habe man damit zu rechnen,
dass eine ganze Reihe von Anlagen bestehe, die dem Ziele noch nicht ge¬
recht werden, und in Folge dessen brauche man für diese Anlagen wenig¬
stens Einrichtungen, mit denen es möglich sei, eine Regulirung in der besten
Weise vorzunehmen. Die Regulirung werde natürlich nur erfolgen können
nach den Temperatur Verhältnissen des beheizten Raumes. Diese Temperatur¬
verhältnisse seien aber nur den Insassen zugänglich, wenn man nicht Appa¬
rate verwende, die auch den Heizer in die Lage versetzen, sich über die
Temperatur in den einzelnen Räumen jeweils zu orientiren. Es existire nun
ein von Prof. Mönnich in Rostock construirter Apparat, der es gestatte,
von der Feuerungsstelle aus ganz genau die Temperatur in jedem einzelnen
Raume zu controliren, und in Folge dessen auch ermögliche, den Wünschen
eines jeden Insassen des Raumes, wenn es sich um einzelne Insassen handele,
Rechnung zu tragen. Dies sei das Mönnich’sche Fernthermometer,
das durchaus zuverlässig sei und zur Erreichung der Ziele der Central¬
heizungsanlagen , nämlich eine gleichmässige, den Wünschen des Einzelnen
entsprechende Temperatur in den Räumen zu erzielen und zu erhalten, sehr
förderlich sein werde. (Redner stellt eine Anzahl Broschüren über diesen
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen etc. 115
Apparat zur Verfügung und fordert diejenigen Herren, die sich specieller
dafür interessiren, den Apparat in Function zu sehen, auf, dies in der
Centralheizungsanlage des Ständehauses oder an dem tadellos functionirenden
Modell in seinem hygienischen Institut zu thun.)
Ingenieur Director Pftttzner (Dresden) theilt mit, dass die von
dem Herrn Referenten als nothwendig bezeichnete selbsttätige Regulirung
der Heizung in den Räumen hauptsächlich bei der Niederdruckdampfheizung
in Frage komme. Der hierbei als Heizmittel verwendete Dampf könne in
seiner Temperatur vom Dampferzeuger aus nur wenig verändert werden,
und es bleibe desshalb nur übrig, die Wärmeabgabe jedes einzelnen Heiz¬
körpers den wechselnden Wärmebedürfnissen der Räume gemäss durch
Ventile zu reguliren. Dieses erfordere eine gewisse Aufmerksamkeit, zu
welcher nicht immer Zeit und Lust vorhanden sei, und man ziehe dess¬
halb häufig vor, wenn es zu warm werde, die Fenster periodisch zu öffnen,
wodurch ein unnöthiger Wärme Verlust entstehe.
Bei der Warmwasserheizung dagegen sei die Temperatur des Heiz-
mittelg in ziemlich weiten Grenzen — ca. 50° bis 90° C. — veränderlich,
wodurch die Möglichkeit gegeben sei, vom Heizkessel aus die Wärmeabgabe
der Heizkörper und damit auch die Temperatur der Räume zu regeln. Der
Heizer habe dann nur nöthig, einige Räume zu controliren und dafür zu
sorgen, dass bei gleichbleibender Aussentemperatur die Temperatur des
Umlaufwassers am Kessel constant bleibe. Letzteres erfolge seit mehreren
Jahren durch Regulatoren ganz selbetthätig.
Zum Ausgleich der Einflüsse, welche Wind und Sonnenschein auf die
Erwärmung der nach verschiedenen Seiten liegenden Räume ausübe, würden
hei umfangreicheren Warmwasserheizungen getrennte Rücklaufleitungen vor¬
gesehen, mittelst Klappe sei die Umlaufgeschwindigkeit des Wassers in den¬
selben und damit gleichzeitig auch die Wärmeabgabe der Heizkörper vom
Heizraum aus zu reguliren. Eine Regelung mittelst der Ventile an jedem
einzelnen Heizkörper wie bei der Niederdruckdampfheizung sei bei der
Warmwasserheizung erfahrungsmässig nur selten nothwendig.
Was das System Wuttke betreffe, so wolle er bemerken, dass bei der
Entnahme der frischen Luft vom Dach des Gebäudes häufig Rauch und Russ von
benachbarten Schornsteinen mit der Luft in die Zimmer eingetrieben werde.
Schon aus diesem Grunde habe man derartig angelegte Luftschöpfstellen
wieder beseitigen und mehr nach dem Strassenniveau verlegen müssen.
Schliesslich müsse er noch die Dringlichkeit der schon vorher erwähnten
Schaffung von Normen für Lüftungsanlagen erwähnen und wünschen, dass
möglichst sofort eine Commission zur Berathung und Feststellung derselben
gewählt werde; der Verein werde sich damit ein grosses Verdienst erwerben.
Director Dr. Petruschky (Danzig) meint, der Einwand, dass bei
dem Wuttke’schen System Rauch aus den benachbarten Schornsteinen in
den Lüftungscanal eindringe, sei erklärlich, und er habe sehr gründlich
nachgeforscht, in wie weit derselbe begründet sei. Das erwähnte Haus liege
in einer Strasse mit geschlossener Bauart, eine ganze Menge von Schorn¬
steinen sei in der Nähe, die durchaus nicht rauchlos arbeiten, sondern er-
8 *
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116 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öfi’entl. Gesundheitspflege zu Rostock.
heblich rauchen, und trotzdem leide die Ventilationsanlage in dem Hause
nicht den geringsten Schaden dadurch. Es liege dies aber lediglich an der
baulichen Anlage. Der Rauch der Schornsteine steige immer aufwärts,
während der Winddruck horizontal wirke, der Schornstein brauche also nur
höher zu sein als die Oeffnungen der Luftschächte, um Rauchplage zu ver¬
meiden. Thatsache sei, dass Rauchplage sich bei der erwähnten Anlage nie
geltend gemacht habe, und jedenfalls seien die oberen Luftschichten, in denen
sich die Einmündung der Luftzuführungsschächte befinde, immer noch viel
reiner als die im Strassenniveau vorhandene Luft, in der niedergeschlagener
Rauch sich ebenso finde, wie in den oberen Schichten, überdies aber viel
Staub, übele Gerüche und Luft, die von anderen Menschen schon geathmet
worden sei. Entscheiden könne übrigens in einer solchen Angelegenheit
nur die Erfahrung, nicht theoretische Betrachtungen, und die Erfahrung
habe in Danzig zu Gunsten der Anlage entschieden.
Ingenieur Yetter (Berlin) warnt davor, dass ein Laie, der sich eine
Lüftungsanlage bestelle, von dem ausführenden Specialtechniker diese nach
einem bestimmten System ausgeführt verlange. Die Art der Ausführung
müsse der Specialtechniker unter Abwägung aller Umstände feststellen. Die
von dem Vorredner erwähnte Wuttke’sche Einrichtung, die in Berliner
Fachkreisen zwar bekannt, aber nicht vorteilhaft bekannt sei, erfülle schon
die erste Bedingung nicht, welche man an eine Lüftungsanlage stellen
müsse, sie fördere kein constantes Luftquantum. Bei starkem Winde werde
sie vielmehr die Räume zu stark lüften und dadurch im Winter zu sehr
auskühlen, bei Windstille functionire sie überhaupt gar nicht
Hiermit ist die Discussion geschlossen und es erhält das Schlusswort
Referent, Landes-Maschinen-Ingeniear Oslender:
„Verehrte Anwesende! Die Befürchtungen, die ich zu Eingang meines
Vortrages ausgesprochen habe, sind, wie Sie wohl Alle jetzt überzeugt sein
werden, eingetroffen. Die eine Partei klagt mich an, ich wäre nicht all¬
gemein genug gewesen, die andere behauptet, ich wäre nicht genügend ins
Detail gegangen. Ja, meine Herren, bei Behandlung des Gegenstandes
in dem Rahmen der mir verfügbaren Zeit war das natürlich vorauszusehen.
„Ich kann nicht umhin, den Vorrednern in mancher Beziehung mit
anderer Meinung entgegen zu treten. Vor allen Dingen möchte ich dem ver¬
ehrten Herrn Oberbürgermeister von München erklären, dass mir nichts
ferner gelegen hat, als etwa die Münchener Lehrerschaft gegen die Lüftungs¬
anlagen in München aufzuwiegeln. Andererseits aber erwartet man doch
von mir, dass ich ohne Rücksicht auf Ort und Stelle, wo sich die Uebelstände
befinden, darauf aufmerksam mache, und ich kann eben daher nur wieder¬
holen, dass bei den Schulheizungs- und Lüftungsanlagen, wie sie augen¬
blicklich in München gebaut werden, die, was Heizung angeht, wohl
befriedigen werden, insofern, als der Heizeffect, — die Innentemperatur von
20° C. — in der Schule zweifellos bei allen vorkommenden Kältegraden
erzielt wird, dass aber bei diesen Anlagen die Lüftung nicht zu ihrem
Rechte kommt. Die Lüftungsanlage — das wiederhole ich — steht bei den
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Fortschritte auf dem Gebiete centraler Heizungs- und Lüftungsanlagen. 117
Münchener Schulheizungen nur in dem Projecte; sie ist nicht in dem Maasse
thatsächlich vorhanden, wie es in einer gut gelüfteten Schule der Fall sein
solL Ich will mir versagen, das des Näheren auszuführen, das würde Ihre
Zeit zu sehr in Anspruch nehmen.
„Ich habe nicht behauptet, dass die Construction der Fernheizung vom
sächsischen Ministerium ausgegangen ist — um den Ausführungen des Herrn
Commerzienrath Henneberg entgegenzutreten — ich habe nur gesagt,
dass das sächsische Ministerium das Verdienst hat» solche Anlagen zuerst
angeregt und praktisch ausgeführt zu haben.
„Wenn Herr Director Pf ützner gesagt hat, dass die Warmwasserheizung
bei meinen Ausführungen nicht genügend berücksichtigt worden ist, so ver¬
weiseich auf die Ausführungen, die ich bei Eingang meines Vortrages gemacht
habe, wobei ich erklärte, dass die Warmwasserheizungsanlagen vor dem
Jahre 1884 bereits in einer sehr vollkommenen Weise entwickelt worden
sind, und dass sie damals die erste Stelle im Centralheizungsfach ein¬
genommen hätten.
„Ich möchte Herrn Director Pfützner noch speciell fragen, wie er es
machen wird bei Warmwasserheizungsanlagen, die er durch Einhaltung
einer bestimmten Temperatur im Kessel reguliren will, für die Räume, die
vielleicht vom Sonnenschein getroffen werden oder die dem Winddruck be¬
sonders ausgesetzt sind ? Bei solchen Räumen versagt bei der Warmwasser¬
heizung die centrale automatische Regulirung, und gerade hier kommt der
Vortheil der Niederdruckdampfheizung in Betracht, da eben die Temperatur
des heizenden Mittels (des Dampfes) hierbei annähernd constant ist
„Dass mein Leitsatz hinsichtlich der Verwendung der bestehenden
Leuchtgas werke zu Heizzwecken einen Widerspruch bei Ihnen erfahren
würde, war mir von vornherein klar. Seitens des Herrn Oberbürgermeisters
von München ist mit Recht betont worden, dass eben in den Gaswerken
ungeheure Summen, ungezählte Millionen angelegt worden sind, und dass
es nicht möglich ist, vom finanziellen Standpunkte aus nun mit einem Male
auf die Verzinsung dieser Beträge zu verzichten. Ja, meine Herren, das ist
sehr richtig — leider, möchte ich aber sagen —; das kann uns aber nicht
verhindern, hier andere Betriebe vorzuziehen, die diese Werke ersetzen
werden. Ich denke mir auch nicht jetzt die Sache so, dass mit einem Schlage
die Gaswerke ausser Betrieb treten; ich denke mir, wir haben an erster
Stelle jetzt dafür zu sorgen, dass sie nicht weiter ausgedehnt werden. Sie
wollen bedenken, dass wir (der Verein) heute auf unsere Fahne geschrieben
haben, die Städte gesund zu machen. Millionen und abermals Millionen
werden dafür ausgegeben: man führt Wasserleitungen ein, man baut Cana-
Üsationen, man bemüht sich um Parkanlagen, um Stadtwälder, man sorgt
für breite Strassen, für geräuschlose Strassen, alles in der Absicht, unsere
Städte gesund zu machen. Nun brauchen Sie bloss im Gegensatz dazu das
Unheil zu betrachten, das gerade durch die Gaswerke dadurch angerichtet
wird, dass dieselben die Aufwendung dieser Mittel mehr oder weniger illu¬
sorisch machen. Nehmen Sie unsere jetzigen Strassen, die haben eine 20
bis 30 cm dicke Betondecke, darüber noch den Asphalt, sind also überall
lnft- und gasundurchlässig. Unter dem Pflaster liegen oft sehr erhebliche
Gas - Rohrleitungen. Diese Rohrleitungen, meine Herren , sind nicht dicht.
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118 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Schlagen Sie den Etat Ihrer Verwaltungen auf, so werden Sie constatiren,
dass vielfach auf dem Wege vom Producenten, von der Gasfabrik, zum
Consumenten 10 Proc. der Gasproduction entweicht. Nun frage ich Sie,
wo bleibt das Leuchtgas? Durch die Strassendecke kann es nicht in die
freie Atmosphäre gelangen. Es sucht seinen Weg durch die Fundamente
der Häuser, um so mehr, als es dort so zu sagen angesaugt wird, indem die
Häuser stärker erwärmt sind, wie das Erdreich, dem das Gas entströmt.
Es entsteht da ein Auftrieb, und hier arbeitet das Leuchtgas durch Ver¬
mengung mit der Atmosphäre in unseren Aufenthaltsräumen, durch Ver¬
schlechterung der Luft den gesundheitlichen Bestrebungen ganz ersichtlich
entgegen. Ich glaube, meine Herren, Sie können sich das Bild ja selber
weiter ausmalen.
„Ich möchte noch Herrn Commerzienrath Henneberg erwidern, dass
bereits eine ganze Anzahl exact automatisch wirkender Regulirungen für
Dampfheizkörper bestehen. Unter Anderem war eine derartige Ausführung
auf der Pariser Ausstellung zu sehen.
„Dann möchte ich auch noch sagen, um dem Herrn Ingenieur Vetter
gegenüber zu treten: man soll nicht immer gleich nach der Polizei rufen; so
lange, wie es noch möglich ist, auf anderen Wegen zu einer Verständigung
zu gelangen, soll man sich nicht gerade auf die Polizei verlassen. Ich glaube
wohl, dass das einfachste Mittel, zu einer sachgemässen Aufsicht über die
vielen privaten Heizungs- und Lüftungsanlagen zu gelangen, immerhin noch
mein Vorschlag sein wird, die privaten Besitzer von Centralheizungsanlagen
zu Ueberwachungsvereinen zusammen zu 8chlies8en. u
Vorsitzender Oberbürgermeister Schneider: „Ich habe dem
Herrn Referenten zu danken Namens der Versammlung für seine vielfach
belehrenden Darlegungen, und ebenso den Herren, die sich an der Dis-
cussion betheiligt haben, für ihre sachgemässen Ausführungen, die, wie ich
glaube, uns Allen sehr grossen Nutzen geschaffen haben. Ich möchte aber
Etwas doch betonen, meine Herren, weil ich es für nützlich halte, von
dieser Stelle aus das zu sagen. Das betrifft die Ausführungen des Herrn
Referenten über die Verwendung unseres Gases zu Zwecken, die hier in
Frage kommen, und zu weiteren Zwecken, die er nicht angeführt hat. Ich
meine doch, es wird unsere Aufgabe sein, hier zu sagen, dass der Verein
berufen ist, das Erreichbare anzustreben und das Unerreichbare unter allen
Umständen von sich fern zu halten, und ich glaube, dass, wenn etwa in
weiteren Kreisen das Missverständniss auftauchen könnte und sollte, dass
hier die Meinung bestände, die städtischen Gasanstalten wären nicht mehr
zu erweitern, sondern nach und nach auf den Aussterbeetat zu setzen, die
Liebe zu uns in den städtischen Verwaltungen ganz erheblich abnehmen
würde. In Folge dessen, glaube ich, ist es zweckmässig, das hier ganz be¬
sonders zu erklären. u
(Kurze Pause.)
Nach Wiedereröffnung der Sitzung gelangt der vierte Gegenstand der
Tagesordnung zur Verhandlung:
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Die Bedeutung der hygienisch wichtigen Metalle.
119
Die Bedeutung der hygienisch wichtigen Metalle
(Aluminium, Blei, Kupfer, Nickel, Zinn und Zink)
im Haushalt und in den Nahrüngsgewerben.
Es lauten die von dem Referenten, Professor Dr. K. B. Lehmann
(Würzburg), aufgestellten
Schlusssätze:
1. Die verbreiteten Ansichten über die gesundheitliche Bedeutung der ein¬
zelnen Metalle bedürfen in wesentlichen Stücken der Correctur.
2. Es ist stets streng auseinanderzuhalten, ob es sich um die Frage der
Schädlichkeit einmaliger grösserer oder wiederholter kleiner Dosen handelt.
3. Wirklich schädlich und gefährlich ist das Blei und alle Bleipräparate.
Acute Vergiftungen sind selten, chronische recht häufig im Haushalt. Die
Disposition für chronische Bleivergiftung scheint sehr verschieden. Die
deutsche Gesetzgebung ist nicht durchweg glücklich, Bleichromat ist z. B.
kein zulässiges Färbemittel für Textilstoffe, die Gesetze über den Blei¬
gehalt von Glasuren bedürfen der Revision. Auffallender, aber erfreu¬
licher Weise fehlt jede Erfahrung über eine gesundheitsschädliche Wir¬
kung von bleihaltigem Kinderspielzeug (Soldaten, Geschirre).
4. Quecksilbervergiftungen im Haushalt sind zu selten, um dieselben näher
zu besprechen.
5. Die Giftigkeit von Kupfer, Zink, Zinn ist gering und von manchen
Autoren maasslos überschätzt. Acute Vergiftungen durch diese Metalle
im Haushalt sind sehr selten, chronische bisher nicht sicher bewiesen, und
nach den Ergebnissen der Thierversuche unwahrscheinlich. Viele so¬
genannte acute Metallvergiftungen des Haushaltes sind sicher Vergiftungen
durch verdorbene Nahrung. Die Zeitungsberichte über solche Fälle sind
äus8er8t oberflächlich und wissenschaftlich werthlos.
6. Silber, Aluminium, Eisen und Nickel — obwohl theoretisch auch
nicht ungiftig — müssen als praktisch ganz unschädlich bezeichnet werden.
7. Trotz der geringen hygienischen Bedeutung aller Schwermetalle, ausser
Blei und Quecksilber, sind alle Bestrebungen zu unterstützen, diese Metalle
von unseren Nahrungsmitteln (insbesondere Conserven) möglichst fern zu
halten. Gleichgültigkeit der Behörden könnte sehr leicht grobe Nach¬
lässigkeiten der Fabrikanten zur Folge haben, durch die nicht nur das
Ansehen der deutschen Industrie geschädigt, sondern auch namentlich bei
abnorm empfindlichen Personen, Kindern, Greisen, Kranken wirkliche Ge¬
sundheitsstörungen hervorgebracht werden könnten. — Es ist den Schwer¬
metallen gegenüber der gleiche Standpunkt einzunehmen wie den Conser-
virungsmitteln.
Referent, Professor Dr. K. B. Lehmann:
„Hochverehrte Anwesende! Von den Schwermetallen, mit welchen der
Haushalt den Menschen in Beziehung bringt, scheidet Eisen wegen seines
wohlverdienten guten hygienischen Rufes, und Quecksilber, weil es nur sehr
selten zur Wirkung kommt, aus unserer heutigen Betrachtung von vorn¬
herein aus. Dagegen müssen uns die übrigen Metalle Blei, Kupfer,
Zink, Zinn, Nickel und Aluminium eingehend beschäftigen. Einerseits
finden sie theils rein, theils als Legirung oder Verbindung eine so aus¬
gedehnte Anwendung im Hause und der für den Haushalt arbeitenden In¬
dustrie, dass kein Wort über ihre praktische Bedeutung gesagt zu werden
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120 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
braucht, andererseits besteht kein Zweifel, dass sie, in gewissen Dosen auf
geeignetem Wege Thieren oder Menschen zugeführt, schädlich wirken können.
Aus der Thatsache, dass diese Körper giftig wirken können, ist leider
die heute noch weit verbreitete Meinung entstanden, dass sie immer und in
jeder Dosis giftig seien.
„Noch immer bringen die Zeitungen die gläubig aufgenommenen Alarm¬
geschichten von Speisen, welche durch einen geringen oder minimalen Gehalt
an Kupfer, Zinn oder Zink furchtbar giftig wurden, noch immer wird bei einem
räthselhaften Vergiftungsfalle durch Nahrungsmittel von vielen Chemikern
zuerst nach Kupfer gesucht, und immer noch werden recht widersprechende
Ansichten selbst von Aerzten bei gerichtlichen Gutachten vertreten.
„Nachdem nun die letzten Decennien eine Reihe vom praktischen
Standpunkte aus unternommener, sehr sorgfältiger Arbeiten auf diesem Ge¬
biete geliefert haben, ist es wohl am Platze, auch einmal in unserem Kreise
die Frage nach dem Grade der Gesundheitsschädlichkeit der Metalle kritisch
zu besprechen und eine Reihe von Folgerungen für die Industrie — ins¬
besondere die Nahrungsmittelindustrie — daraus zu ziehen. Ich bemerke
schon hier ausdrücklich, dass ich mich auf die Darstellung der Gefahren,
welche diese Metalle im Haushalte bedingen, beschränke und dass ich nur
so weit auf die Hygiene der Fabrik- und Bergwerkarbeiter eingehe, als dies
zum Verständniss der häuslichen Schädigungen nothwendig scheint. Ganz
lässt sich das Eingehen allerdings nicht vermeiden, weil sich in den Fabriken
besonders klare Erfahrungen über die Schädlichkeit resp. Unschädlichkeit
der fraglichen Metalle sammeln lassen.
„Bei praktisch toxicologischen Betrachtungen hat man — was von
Laien meist unterlassen wird — streng zu unterscheiden zwischen der
Wirkung einmaliger mittlerer oder grösserer Dosen und den Folgen der
Einfuhr wiederholter kleiner und kleinster Gaben, und ebenso oft hat man
einen Unterschied zu machen, ob die Metalle resp. Metall Verbindungen in
einer leichtlöslichen oder schwerlöslichen Form geboten wurden, ob sie in
concentrirter Lösung ohne Nahrungszugabe in den leeren Magen oder ob sie
mit Nahrung gemischt wo möglich im Laufe einer reichlichen Mahlzeit auf¬
genommen wurden. Nicht ob ein Körper unter beliebigen Bedingungen Gift¬
wirkungen entfalten kann, interessirt uns, sondern ob er unter den prakti¬
schen Bedingungen des Haushaltes giftig zu wirken im Stande sei.
„Im Haushalte kommen fast nur kleine und mittlere Metallmengen
zur Wirkung, fast stets sind sie mit reichlichen Nahrungsmitteln gemischt,
so dass von vornherein die Gefahr der plötzlichen acuten Vergiftung für
8ämmtliche Schwermetalle im Haushalt nicht gross erscheint. Andere
Symptome als leichte, rasch vorübergehende Magendarmstörungen gehören
bei alle diesen anderen Vergiftungen zu den Seltenheiten.
„Anders verhalten sich einzelne der Metalle bei langdauernder Zufuhr
kleiner Dosen bei der sogenannten chronischen Vergiftung. Allgemein be¬
kannt ist, dass Blei in kleinen und kleinsten lange Zeit verabreichten Dosen
schwere Erkrankungen des Centralnervensystems, der Leber, der Niere u. s. f.
bedingen kann. Brouardel hält 1 Milligramm täglich für ausreichend,
um Menschen bleikrank zu machen. Es liegt nahe, solche Störungen auch
bei fortgesetzter Einführung der anderen Metalle zu vermuthen und, bis
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Die Bedeutung der hygienisch wichtigen Metalle.
einwandfrei das Gegentheil bewiesen ist, anzunehmen, dass es nur genügender
Zeit bedarf, um auch durch kleine Dosen eine chronische Kupfer-, Zinn-
und Zinkvergiftung beim Menschen hervorzubringen. Es sind desswegen
namentlich die Fragen, ob chronische Schädigungen drohen, besonders
sorgfältig zu erwägen, wobei aber zu vermeiden ist, Schlüsse von einem
Metall auf das andere zu ziehen. Zur Gewinnung eines begründeten Ur-
theiles bleibt nichts übrig, als jedes Metall für sich zu besprechen — wobei
ich natürlich die wichtigeren und umstrittenen Fragen ausführlicher be¬
handeln werde. Vollständigkeit kann ich natürlich in keiner Weise an¬
streben, dazu reicht die Zeit nicht.
„Beginnen wir mit dem Blei. Bleigeräthe kommen mit Speisen und
Getränken heute nicht mehr viel in Berührung, da und dort findet sich etwa
noch ein stark bleihaltiger Zinnbecher, von bleihaltigem resp. bleireichem
Loth werden wir beim Zinn sprechen. Dafür hat die Verwendung von
bleiernen Wasserleitungsröhren einen sehr grossen Umfang erreicht, in
vielen Städten wurden und werden die engeren Hausanschlussröhren mit
Vorliebe aus dem weichen, leicht schneid- und biegbaren Blei hergestellt,
dessen Verwendung die Montierungsarbeiten sehr erleichtert.
„Sehr häufig finden sich Bleilegirungen in unseren Häusern als Ge¬
brauchsgegenstände, ich bespreche nur die wichtigste, die Bleisoldaten.
Dieses beliebteste Spielzeug des deutschen Knaben besteht aus Bleizinn-
legirungen mit 98 Proc. Blei in den billigsten, mit 60 Proc. Blei in den
feinsten Sorten, die gewöhnlichsten Sorten sind ganz unvollständig bemalt,
die feinen allerdings vollständig mit bunten Oelfarben bedeckt und mit
feinem Lack überzogen. Aber auch die Mädchen haben bleireiches Spiel¬
zeug. Die sogenannten Puppenzinngeschirre, d. h. die kleinen Töpfchen
und Teilerchen, die zum Spielen mit Brot, Zucker, Chokolade, Aepfel und
dergleichen, also zur „Kalten Küche“ dienen, bestehen aus Legirungen von
40 Proc. Blei mit 60 Proc. Zinn, und sind aus reinem Zinn, wie Stock-
meier überzeugend gezeigt hat, kaum herzustellen, weil sich reines Zinn
viel schlechter in Formen giessen lässt und solche Producte viel theurer
sind, als die aus Legirungen hergestellten.
„Von den chronischen Verbindungen des Bleies spielen im Hause zwei
eine grosse Rolle, die Bleifarben und die Bleiglasuren. Das blendend
weisse Bleiwei88, die Mennige, das gelbe bis orangefarbene Bieichromat oder
Chromblei sind häufig angewendete Farben; Bleiweiss ist heute wohl noch
immer die wichtigste weisse Anstrichfarbe und hat wegen seiner ausgezeich¬
neten Deckkraft alle Concurrenz des Zinkweiss, Barytweiss und der Litho-
pone ausgehalten.
„Bleiweisshaltige Schminken tauchen trotz aller nachtheiligen Er¬
fahrungen und Verbote immer wieder im Handel auf. Chromgelb dient
nach wie vor zum Färben von Maskenstoffen, Baumwollgarn, Zündschnüren,
Federhaltern, Maassstäben — aber auch gelegentlich von Zuckerwaaren.
In Amerika sind Massenfärbungen von Theegebäck mit Chromblei beobachtet.
Alle billigen Thonwaaren werden mit einer geeigneten Bleiverbindung ein¬
gestäubt, ehe sie gebrannt werden. Beim Brennen bildet sich ein glasartiges
Bleialuminiumsilicat, welches dem Topfe die Glasur verleiht.
«Auf die Frage nach der Löslichkeit des Bleies ist zu antworten, dass
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122 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
metallisches Blei in allen Säuren (ausser Schwefelsäure) mehr oder weniger
löslich ist, besonders in den Obstsäuren und der Essigsäure. Schon Kohlen¬
säure bedingt eine starke Löslichkeit für Blei, und Wässer, welche erheb¬
liche Mengen freier Kohlensäure besitzen, ohne gleichzeitig Kalksalze zu
enthalten, sind desshalb im Stande, erhebliche Bleimengen aus Leitungs¬
röhren aufzunehmen. Warum Bleiröhren an kalkreiches Wasser, selbst wenn
es freie Kohlensäure enthält, kein Blei abgeben, zeigt Ihnen dieses Präparat,
an dem Sie erkennen, wie sich schon nach kurzem Gebrauch die Bleiröhren
mit einer erst sehr dünnen, dann immer dickeren Kalkschicht auskleiden.
„Die Bleiglasuren unserer irdenen Töpfe sind je nach ihrer Herstellung
bald unlöslich in den im Haushalt verwendeten Säuren, bald etwas, zuweilen
aber geradezu leicht löslich. Es scheint namentlich darauf anzukommen,
ob mehr basische oder mehr saure Bleialuminiumsilicate gebildet sind, die
ersteren sind im Gegensatz zu den letzteren leicht in Säuren löslich.
„Endlich steht fest, dass in den Körpersäften auch die schwerlöslichen
Bleisalze zwar in geringerem — aber wie wir sehen werden — in hin¬
reichendem Maasse löslich sind.
„Fragen wir nun, ob es zu Bleivergiftungen im Haushalte komme,
so lautet die Antwort von allen Autoren unbedingt bejahend. Acute Blei¬
vergiftungen durch eine oder zwei Bleidosen gehören im Haushalte aller¬
dings zu den grossen Seltenheiten. Die Thatsache, dass sehr viele Aerzte
mehrmals täglich 50mg, ja bis 100mg des leichtlöslichen ätzenden, essig¬
sauren Bleies bei Diarrhöen, Darm-, Lungen- und Blasenblutungen gegeben
und so pro Tag 200 bis 300 mg Bleiacetat = 100 bis 150 mg Blei dem
Menschen eingeführt haben, beweist, dass acute Bleivergiftungen nicht leicht
Vorkommen, denn solche Dosen entgehen in Speisen kaum der Aufmerk¬
samkeit durch ihren abscheulichen Geschmack, und Gelegenheiten zur Auf¬
lösung so grosser Bleimengen sind selten.
„Durch Schrotkörner, die zum Reinigen von Flaschen benutzt und
nachlässiger Weise darin zurückgelassen waren, sind schon acute Ver¬
giftungen nach Wein- oder Essiggenuss beobachtet. Grösseres Interesse hat
aber eine acute Bleivergiftung, welche Herr Dr. Halenke in Speyer vor
einigen Jahren beobachtete, da sie sich auf die Verwendung eines irdenen
bleiglasirten Topfes zurückführen liess. Sie sehen hier den Topf, den mir
Herr Dr. Halenke gütigst überliess, in dem sich zwei Frauen Heidelbeeren
gekocht haben, um sich einen Heidelbeerkuchen zu bereiten. Wie Sie sehen,
hat sich die Glasur des Topfes, soweit die Heidelbeeren reichten, vollkommen
aufgelöst — der Bleigehalt der Heidelbeeren betrug so viel, dass aus einem
Stücke des Kuchens die vorliegende Menge von ca. 160 mg Blei als Blei¬
chromat dargestellt werden konnte. Die Frauen, welche auf einmal je
400 bis 600 mg Blei als äpfelsaures Blei aufgenommen haben mögen, er¬
krankten, die eine leichter, die andere schwerer an Erbrechen, Leibschneiden
und Durchfall, doch erholten sie sich ziemlich rasch. Solche Fälle sind in
der Literatur wie gesagt spärlich beschrieben — es kommen aber wohl
mehr leichte acute Bleivergiftungen vor, als bekannt werden, da das Un¬
wohlsein falsch gedeutet wird.
„Häufiger sind ökonomische chronische Bleivergiftungen. Der
fortgesetzte Gebrauch von bleihaltigen Schminken, Kämmen, Toiletten-
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Die Bedeutung der hygienisch wichtigen Metalle. 123
wässern, von bleigefärbtem Garn, bleihaltiger Zündschnur, Stoffen, die mit
Bleifarben gefärbt waren, von bleihaltigem Schnupftabak, bleihaltigem Mehl,
bleiabgebenden Glasuren, alles dies hat schon Bleivergiftung hervorgebracht,
ja es lässt sich behaupten, dass jede denkbare Ursache einer Bleivergiftung
auch schon thatsächlich gewirkt hat.
„Massenvergiftungen durch fortgesetzte Einfuhr kleiner Bleimengen
haben manche Städte, z. B. Dessau, zu beklagen gehabt, welche sich kalk¬
armes, kohlensäurehaltiges Wasser durch Bleiröhren zuführten. Obwohl
das Wasser oft nur wenige Milligramm Blei pro 1 Liter enthielt, erkrankten
sehr viele Menschen an leichter und eine Anzahl an schwerer Bleivergiftung.
Die leichten Fälle klagen meist nur über wenig charakteristische Symptome:
Etwas Appetitlosigkeit, Mattigkeit, schlechten Geschmack im Munde,
blasse Gesichtsfarbe — alles Merkmale*, welche die Bleivergiftung mit
hundert anderen Gesundheitsstörungen theilt, der charakteristische Blei«
säum am Zahnfleisch, der oft schon sehr früh und bei leichten Fällen auf-
tritt, wird leider oft übersehen, und erst die schwereren Fälle leiten durch
die charakteristischen Symptome der Stuhl Verstopfung unter heftigem Kolik¬
schmerz, der Gelenkschmerzen, der höchst eigenartigen Lähmung der Streck¬
muskeln des Handgelenkes u. s. f. den behandelnden Arzt rasch auf die
richtige Diagnose, die allerdings bei sorgfältiger Beachtung der schon
früh auftretenden grauen Zahnfleischverfärbung oft viel früher hätte gestellt
werden können.
„Wunderbar bleibt bei dem näheren Studium der chronischen Blei¬
vergiftungen stets, dass immer nur ein gewisser Procentsatz der Personen
erkrankt, welche sich der Erkrankungsgefahr aussetzten. Es erklärt sich
dies gewiss zum Theil durch verschieden intensive Zufuhr des Giftes (ver¬
schiedene Reinlichkeit, verschiedenes Wassertrinken), doch reicht diese An¬
nahme nicht zur Erklärung aus. Wir werden vielmehr wohl eine ver¬
schiedene Empfindlichkeit der Menschen gegen kleine Bleidosen annehmen
müssen, die zur Zeit noch schwer erklärbar ist. Vielleicht besteht sie zum
Theil darin, dass die leicht Erkrankenden leicht Blei aufnehmen oder schwer
abscheiden, daneben muss aber eine verschiedene Widerstandsfähigkeit der
Körperzellen gegen Blei auch eine wichtige Rolle spielen. Jedenfalls be¬
zieht sich die Angabe Brouardel’s, dass die Zufuhr von 1 mg Blei täglich
zur chronischen Bleivergiftung genüge, nicht auf alle Menschen.
„Die Verhütung von Bleivergiftungen im Hause scheint ziemlich
leicht. Die Gesetzgebung hat mit grossem Erfolg das gefährliche, stark
bleihaltige Zinnloth aus den Conservebüchsen, die bleireichen Verzinnungen
aus den Küchen beseitigt; die Wissenschaft hat bewiesen, dass die bleireichen
Spielsachen der Kinder nichts schaden. Es ist nicht ganz sicher zu erklären,
warum sich bisher weder auf Bleisoldaten noch auf Puppengeschirre eineBlei-
Tergiftung hat beziehen lassen, wie noch kürzlich Gärtner und C. Fränkel
dargethan haben. — Thatsache ist es. Als Erklärung muss uns vorläufig ge¬
nügen, dass die Kinder doch meist nur vorübergehend mit den Spielsachen
spielen, dass die Bleisoldaten vielfach durch Bemalung geschützt sind, und dass
die geringe Speisemenge, welche in den Kindergeschirren bereitet werde,
keine nennenswerthe Bleimenge zu lösen vermag. Jedenfalls liegt kein
Grund vor, die Spielwaarenindustrie bei der Herstellung dieser altbeliebten
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124 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Gegenstände zu stören. — Bleischrote gehören nicht ins Haus, gegen die blei¬
haltigen Geheimmittel zu Toilettezwecken ist der Staat energisch einge¬
schritten. Bleiröhren für Wasserleitungen ganz zu verbieten, scheint mir
kein Bedürfniss, Städte mit sehr hartem Wasser werden sie ruhig weiter
anwenden dürfen. In zwei Punkten ist aber die deutsche Gesetzgebung
entschieden unvollkommen. Merkwürdiger Weise verbietet, wie Weyl
zuerst betonte, noch kein deutsches Gesetz den Gebrauch von Bleichromat
zur Färbung von Gespinnsten und Geweben, obwohl in reicher Auswahl
Ersatzfarben zu Gebote stehen. Die vorliegende Sammlung einiger in Würz¬
burg gesammelter Proben zeigt, in welchem Umfange heute noch blei¬
gefärbte Textilstoffe im Gebrauch sind, und welch’ gewaltigen Bleigehalt sie
besitzen. Wir fanden in 80 gelben Stoffen, Papier, Spielwaaren 12 mal
chromsaures Blei; Baumwollgewöbe enthielt bis b l / 2 Proc., Baumwollgarn
bis 16 Proc. des Gewichtes an chromsaurem Blei. Sind auch Erkrankungen
durch das Tragen solcher Stoffe bisher kaum bekannt, so sind um so reich¬
licher Angaben über die Gesundheitsschädlichkeit des Hantierens mit chrom¬
saurem Blei in der Industrie vorhanden.
„Noch bedenklicher scheinen aber die nachlässigen Bleiglasuren.
Das deutsche Reichsgesetz verbietet Geschirre, „welche mit einem Email
oder einer Glasur versehen sind, welche bei halbstündigem Kochen mit einem
in 100 Gewichtstheilen 4 Gewichtstheile Essigsäure enthaltenden Essig an
den letzteren Blei abgeben u . So steht es auf dem Papier. Wie sind aber
die Zustände thatsächlich ?
„Nach Untersuchungen aus meinem Institut entsprechen den strengen
deutschen Vorschriften sehr wohl im Allgemeinen die besseren irdenen
Waaren aus städtischen Geschirrhandlungen, doch haben mir vorzüglich
aussehende und nicht billige französische Geschirre Vorgelegen, welche^bei
der ersten vorschriftsmässigen Auskochung 21 mg Blei und bei neun hinter
einander hergestellten weiteren vorschriftsmässigen Extractionen stets 6 bis
7 mg Blei abgaben. Als hierauf zur Probe 1 / 2 - und lprocentige Essigsäure,
also 8- resp. 4 mal verdünnter Essig, zur Auskochung verwendet wurde, wurde
2 und 2y 2 mg Blei erhalten, eine abermalige Auskochung mit 4procentigem
Essig lieferte aber wieder 7 mg.
„Sind solche Bleiabgaben bei feinen Geschirren selten, so zeigte uns
die Untersuchung des ordinären irdenen Geschirrs, wie es auf Messen und
Märkten in Würzburg feilgeboten wird, ausnahmslos einen Bleigehalt, der
von 2 bis 80 mg Blei pro Liter Essig schwankte. Es hätte also der ganze
Würzburger Geschirrmarkt confiscirt werden müssen! — Aehnlich scheint
es auch an anderen Orten zu stehen; Sendtner berichtet 1892 im Archiv
für Hygiene, dass seit 1884 in München 2009 Geschirre untersucht wurden,
von denen — man staune — 65 Proc., d. h. 1307 Stück, beanstandet
wurden. Von den beanstandeten Proben wurden 265 quantitativ unter¬
sucht — wohl die schlimmsten — und im Mittel 102 mg Blei in der ersten
Auskochung gefunden, im Maximum 702 mg! Wie viel bleiabgebende Geschirre
müssen da uncontrolirt in den Verkehr gelangt sein.
„Ich glaube, dass dies unhaltbare Zustände sind! Wie Stockmeier
gezeigt hat, lässt sich recht leicht die primitive Fabrikations weise der Klein¬
betriebe verbessern, eine Modification der Gesetzesvorschrift scheint aber
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Die Bedeutung der hygienisch wichtigen Metalle. 125
auch nothwendig. Ein strenges Gesetz, das aber meist nicht gehandhabt
wird, weil es eine ganze Industrie unterdrücken würde, führt nur zu ge¬
legentlichen ungerechten Härten. Logischer wäre es, etwa zu verlangen:
„Geschirre, welche mehr als 5 oder 10 mg Blei bei der ersten Aus¬
kochung pro Liter abgeben (oder bei der dritten mehr als 2 mg), sind zu
confisciren, Geschirrvorräthe, in denen solche Exemplare in grösserer Zahl
gefunden werden, werden gänzlich vernichtet, besondere Strafen treten nur
im Wiederholungsfälle ein. “ Damit wäre auch von den Fabrikanten kunstloser
Geschirre nur etwas Sorgfalt und nichts Unmögliches verlangt und der schlimm¬
sten Fahrlässigkeit gesteuert. Nach einer Reihe von Jahren könnte man,
wenn es nöthig scheint, die zu duldende Bleimenge noch weiter herabsetzen.
„Ich glaube ganz entschieden, dass die Geschirre eine grössere Auf¬
merksamkeit verdienen, als ihnen bisher geschenkt wurde, da doch .nach¬
gewiesen ist, wie lange sie immer wieder Blei abgeben. Sehr denkbar ist
©s, dass Bleiglasuren gelegentlich die Ursache unerklärt gebliebener chro¬
nischer Bleivergiftungen waren, Niemand untersuchte die Glasur, oder die¬
selbe hatte, als nach der Vergiftung geforscht wurde, das abgebbare Blei
bereits abgegeben. Bemerken will ich noch, dass ich bisher nur irdenes
Geschirr untersuchte, kein emaillirtes Eisengeschirr.
„Wir kommen zum Kupfer. Kupfer findet bekanntlich theils rein,
theils mit Zink zu Messing legirt eine umfangreiche Verwendung zu
Kesseln, Pfannen, Backformen, Schöpflöffeln, in und mit denen Speisen
bereitet werden. Dass bei längerer Einwirkung der verschiedensten Säuren,
von Kochsalz u. s. f. Kupfer in nicht unerheblicher Menge in Lösung geht,
ist bekannt, doch wird die Menge der so entstehenden Kupfersalze meist
überschätzt, da sie lebhaft blau oder blaugrün gefärbt sind und dadurch
sehr stark ins Auge fallen. Um Ihnen einen Begriff zu geben, sei gesagt,
dass nach meinen Bestimmungen 100 g Fett kaum je über 10 mg Kupfer
aus Kupfergefässen aufnehmen, dabei aber schon intensiv bläulichgrün aus-
sehen, dass ein Liter Wein in einer Woche etwa 60 mg Kupfer aus einem
Knpfergefäss aufnimmt, Essig per Liter 150 bis 200 mg. Solcher Wein und
Essig ist grünlich bis grün gefärbt, der Wein zeigt nur einen ganz unbe¬
deutenden, der Essig einen recht unangenehmen Geschmack. Sie sehen
also, dass nicht leicht grössere Mengen Kupfer in Folge des Gebrauchs von
Kupfergeschirren vom Menschen aufgenommen werden können.
„Ferner haben wir seit längerer Zeit vielfach Gelegenheit zur Kupfer¬
aufnahme, weil bei der Herstellung der Gemüseconserven zur Erzeugung
einer frisch grünen haltbaren Farbe den Gemüsen beim Kochen entweder
direct etwas Kupfersalz zugesetzt wird, oder weil sie in Kupferkesseln ver¬
arbeitet werden, aus denen sie wegen ihres natürlichen Säuregehaltes Kupfer
aufnehmen. Bei vorsichtigem Arbeiten lässt sich mit etwa 20 bis 30 mg
pro 1kg Gemüse schon eine genügende Färbung erzielen; bei nachlässigem
Arbeiten — gelegentlich sollen die Arbeiter aus der Hosentasche nach dem
Augenmaass Kupfersulfatkrystalle in die Kessel werfen — sind relativ hohe
Kupfergehalte bis 200 mg pro 1 kg gefunden. Der Kupferzusatz bezweckt,
das Chlorophyll in das kräftig und dauerhaft gefärbte phyllocyaninsaure
Kupfer überzuführen, hierzu muss, da nur wenig Chlorophyll vorhanden ist,
wenig Kupfer genügen, mehr Kupfer bildet bläuliche Eiweissverbindungen.
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126 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
„Ist über die Beurtheilung des Bleies eine wohlthuende Einigkeit bei
den Fachleuten und den Laienkreisen vorhanden, so steht die Sache etwas
anders beim Kupfer. Von der Parteien Hass und Gunst verwirrt, schwankt
sein Charakterbild in der Geschichte. Schon das Alterthum und Mittelalter
wusste von der Schädlichkeit des Kupfers, besonders aber entstand eine
Cuprophobie, als 1722 Schulze in Deutschland in seiner berühmten Schrift:
„Mors in olla tf furchtbare Geschichten vom Kupfer erzählte, und nachdem
Rousseau 1750 in einem in glänzendstem Stil geschriebenen offenen
Briefe in den glühendsten Farben seine Landsleute und die ganze gebildete
Welt vor dem teuflischen Kupfer warnte. Seit dieser Zeit ist unend¬
lich viel über Kupfer gestritten worden, neben fanatischen Feinden hat es
Vertbeidiger gefunden, die es als fast harmlos hinstellen wollten. Du-
moul.in erlaubte sich, an dem evidentesten Bericht über Selbstmord durch
Kupfersalzeinnahme zu zweifeln, und Rademacher erklärte das Kupfer als
eine Panacee bei den verschiedensten Krankheiten.
„Seit mehr als 10 Jahren habe ich mich selbst, wie ich glaube sine ira
et studio, neben meinen anderen Arbeiten immer mit Fragen aus der Toxi¬
kologie des Kupfers beschäftigt und bin zu der Ansicht gelangt, dass Kupfer
zwar gewiss theoretisch ein Gift ist, dass Selbstmorde mit grossen Dosen
von Kupfersalzen eine ganze Reihe vorliegen, dass tödtliche Thiervergif¬
tungen unschwer durch Kupfer auszuführen sind, dass aber acute oder
chronische Vergiftungen des Menschen durch den Haushalt, d. h. durch
Geschirre, gegrünte Gemüse kaum nachgewiesen sind, und dass fast alle
Behauptungen dieser Art anders erklärt werden müssen.
„Ich habe mich durch eine Reihe von Versuchen überzeugt, dass 120 mg
Kupfer als Kupferacetat oder Kupfersulfat vom gesunden erwachsenen
Menschen, unter Gemüse gemischt, meist ohne jeden Schaden verzehrt werden.
In einem von fünf Versuchen trat einmaliges Erbrechen, aber nicht mehr
auf, in allen anderen Versuchen blieben wir ganz wohl, obwohl die Mahlzeit
so nach Kupfer geschmeckt hatte, resp. einen solchen Kupfernachgeschniack
zurückgelassen hatte, dass wir sie nur mit dem Aufwand unserer ganzen
Willenskraft zu verzehren vermocht hatten. Noch grössere Dosen, etwa
bis zu 250 mg, sind von Aerzten bei Erwachsenen, 120 mg bei Kindern viel¬
fach alB Brechmittel angewendet worden. Sie haben keine andere Wirkung
als das gewollte Erbrechen entfaltet und auch dann nicht geschadet, wenn
zufällig das Erbrechen einmal ausblieb.
„Die Gelegenheit zur Aufnahme von Dosen bis 200 mg dürfte im Haus¬
halt kaum je gegeben sein, ich habe dies sorgfältig berechnet und Ihnen
vorhin einige Zahlen gegeben, auf die sich die Berechnung gründet. Auge,
Zunge und Magen schützen vor der Zufuhr grösserer Dosen.
„Auf Grund dieser Erfahrungen und Betrachtungen bezweifle ich alle
in der Literatur enthaltenen Geschichten und Geschichtcben, welche zum
Beweis der hohen Gefährlichkeit des Kupfers in einmaliger Dosis angeführt
werden — wenn nicht wahrscheinlich gemacht wird, dass grosse Dosen auf¬
genommen sind. Etwa 200 mg müssen eingeführt sein, wenn auch nur
eine leichte Störung eines gesunden Menschen auf Kupfer bezogen werden
soll, ca. 1200 mg halte ich für eine lebensgefährliche Vergiftung für nöthig.
„Ich habe sehr fleissig die ältere und neuere Kupferliteratur durch-
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Die Bedeutung der hygienisch wichtigen Metalle.
127
8ucht y ohne ein Beispiel zu finden, das unzweifelhaft die Möglichkeit einer
acuten Kupfervergiftung durch die Kupfermengen darthäte, welche im Haus¬
halt Vorkommen. Dabei bin ich allerdings skeptisch verfahren, und habe
stets bedacht, dass ein leichtes Unwohlsein mit Erbrechen und Durchfall so
oft ohne jede bestimmte Erklärung auftritt, dass es nicht angeht, ein solches
Unwohlsein gleich auf Kupfer zu beziehen, weil die Untersuchung der ver¬
dächtigten Nahrung einige Milligramm Kupfer ergiebt. Sicher war die
grosse Kupfermassenvergiftung im Wiener Krankenhause, über die Pleischel
und Heller berichteten, eine Fleischvergiftung, wie sie die ältere Zeit
«mfach nicht kannte, weil sie nicht an die Möglichkeit derselben dachte.
Die eine genau beschriebene Kupfervergiftung von Mair aus neuerer Zeit
(1887) war offenbar eine Kohlenoxyd Vergiftung, die andere, bei der ein
alter Mann unter Symptomen einer Magendarmaffection starb, ist ausser¬
ordentlich leicht auch anders zu erklären. Und die Zeitungsnotizen — du
lieber Gott — man forsche nur einmal nach, welch’ oberflächliche Infor¬
mation fast immer der Notiz zu Grunde liegt 1 )! Ein Kupfergeschirr in der
Küche, ein Wort des Arztes, „da könnte man ja an Kupfervergiftung denken",
eine Aeusserung des Patienten, ob nicht Kupfervergiftung im Spiele sei,
genügen und die Tagespresse enthält wieder „einen Fall von Kupferver¬
giftung". Damit steht in auffallendem Gegensatz, dass die Fälle von
ökonomischer Kupfervergiftung in der wissenschaftlichen Literatur ganz
ausserordentlich spärlich geworden sind, seit wir die Bacterien als directe
und mittelst Erzeugung von Fäulnissgiften als indirecte Todes- und Krank¬
heitsursache kennen. Bacterium enteritidis und Verwandte, Proteus- und
Streptococcenarten werden jetzt gefunden und zur Erklärung verwertliet,
wo sich die alte Zeit mit dem Nachweis von Kupferspuren — die man fast
überall finden kann — zufrieden gab.
„Aber auch eine chronische Kupfervergiftung im Haushalte erscheint
mir fast undenkbar. Kein neuerer Autor hat an Fabrikarbeitern, die mit
Kupfer oder Kupferpräparaten umgehen, in grösserer Verbreitung Störungen
beobachtet, die auf Kupfer bezogen werden können. Besonders werthvoll
ist mir das Urtheil des ausgezeichnet beobachtenden und kritisch prüfenden
Dr. Merkel, des verdienstvollen Krankenhausdirectors von Nürnberg, der
mir wiederholt versicherte, dass die zahlreichen Bronzefarbenarbeiter Fürths
niemals an Kupfervergiftung leiden, obwohl sie in allen Regenbogenfarben
an Leib und Kleidern schillern von dem feinen Kupferfarbstaub, der ihnen
anhaftet und von dem sie gewiss auch in Lunge und Magen erhebliche
Mengen aufnehmen.
„Sicher reicht auch die Kupferaufnahme im Haushalte nicht zu einer
-chronischen Kupfervergiftung, obwohl ein Kilo Vegetabilien 10 bis 30 mg,
l ) Ein interessantes Beispiel für das Gesagte kann ich nicht unterlassen hier
anzuführen. In meinem vorliegenden Vortrage in Rostock hatte ich ausdrücklich
bemerkt, dass ich zwar in schlechten Glasuren billiger irdener Geschirre ungemein
weit verbreitet grössere Mengen von Blei gefunden habe, dass ich aber leider über
Emailgeschirre bisher ganz ununterrichtet sei, weil ich bisher keine solche unter¬
sucht habe. Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich in verschiedenen Blättern
Warnungen vor Emailgeschirren lesen musste, weil ich in Rostock mitgetheilt
habe, die Emailgeschirre hätten meist bleihaltige Glasuren. Seither habe ich viele
Emailgeschirre untersucht und fast überall keine Bleiabgabe an Essig constatirt.
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128 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
ein Kilo Fleisch zwar nur 1 mg, ein Kilo Ochsenleber aber bis 40 mg ent¬
halten kann. Nach den Ergebnissen aller neueren Arbeiten ist aber auch
etwa 30 bis 50 mg täglich künstlich zugefügtes Kupfer nicht im Stande, zu
schaden, selbst bei langer Einfuhr. Nicht einen Fall von chronischer Kupfer¬
vergiftung durch Conserven kennt denn auch die Literatur, und die spär¬
lichen chronischen Kupfervergiftungen am Menschen, die überhaupt be¬
schrieben sind, bedürfen der strengsten Kritik. Ich muss es mir versagen,
näher auf meine Jahre lang fortgesetzten Fütterungsversuche mit kleinen
Kupferdosen an verschiedenen Thieren einzugehen, da ich hierzu weiter aus-
holen und streitige Dinge besprechen müsste. Soviel kann ich aber sagen,
dass mir dieselben in ihrer überwiegenden Mehrzahl dafür sprechen, dass
täglich 30 bis 50 mg Kupfer dem Menschen ganz ohne Schaden sehr lange
zugeführt werden können.
„Haben wir damit die Angst vor dem Kupfer, die Cuprophobie auf ihr
richtiges Maass zurückgeführt, so efgiebt sich doch aus diesen Darlegungen,
dass immerhin dem Kupfer gegenüber verständige Vorsicht am Platze ist.
So harmlos die Verwendung blanker Kupfer- und Messinggeräthe selbst
zum Kochen von saurem Obst, Sauerkraut und dergleichen ist, Niemand
wird verständiger Weise unnöthig lange diese sauren Stoffe darin aufbewahren.
Niemand wird die Verwendung von unsauberem, grünspanbedecktem Geschirr
empfehlen, auch wenn er über die kindische Grünspanfurcht lacht.
„Dem Kupferzusatz zu den Conserven stehe ich sehr kühl gegenüber.
Ich habe stets den Standpunkt vertreten, dass dieser Zusatz für den Ge¬
schmack und die Haltbarkeit gleichgültig sei, dass auch ungekupferte
Gemüse meist ein leidlich grüngelbes Aussehen zeigen, dass gar kein Be-
dürfniss vorliege, im Winter die Bohnen- und Erbsenconserven grüner gefärbt
auf den Tisch zu bringen als die frisch gekochten Gemüse im Sommer, und
dass es endlich principiell wünschenswerth sei, Zusätze, von denen wir keine
Vortheile für den Körper erkennen können, die vielmehr dem Körper fremde
Stoffe einverleiben, aus unserer Nahrung wegzulassen. Ich komme auf
diesen Punkt noch kurz zurück.
„Gegenüber dem Kupfer spielt das Zink eine bescheidene Rolle. Zink¬
eimer finden für Milch- und Wasseraufbewahrung so selten Verwendung,
dass wir sie nicht näher zu besprechen brauchen, wichtiger ist, dasB zur Zeit
die Hauswasserleitungen, da, wo sie nicht aus Blei gemacht werden, vor¬
wiegend aus galvanisirtem, d. h. verzinktem Eisen gefertigt sind. Sehr
kleine Zinkmengen gehen aus ihnen ins Wasser über. In neuerer Zeit ist
vielfach ein hoher Zinkgehalt in trockenen Aepfeln, namentlich in den be¬
liebten amerikanischen Ringäpfeln gefunden — ohne Zweifel dadurch
bedingt, dass die sauren Aepfel auf Zinkdrahthürden getrocknet werden
und dabei Zink aufnehmen. Der Gehalt war häufig 50 bis 200 mg pro
Kilo, ja Mengen von 600 mg sind zuweilen gefunden. Diese Zinkmengen
sind in leicht löslicher Form als apfelsaures Zink vorhanden.
„Acute Zinkvergiftungen durch Nahrungsmittel sind mir nicht be¬
kannt, auch nicht durch die zinkreichen Aepfel; dass die chronische Ein¬
fuhr kleiner Zinkmengen unschädlich ist, beweist die mehrfach constatirte
Thatsache, dass die Brunnen mancher Gegenden ein unschädliches zink-
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Die Bedeutung der hygienisch wichtigen Metalle. 129
haltiges Wasser liefern. So enthalten die Brunnen von Tuttendorf 7 mg
Zink im Liter, das Wasser wird seit einem Jahrhundert ohne Schaden
genossen; ähnliche Angaben liegen aus Schweden yor. Damit ist einwand¬
frei die Zulässigkeit der Verwendung galvanisirter Eisenrohre für Wasser-
leitungswerke bewiesen, denn solche Zinkmengen gelangen dabei gar nicht
ins Wasser.
„Damit wäre auch für das Zink constatirt, dass es im Haushalt keine
Gefahren bedingt und die Befürchtungen überängstlicher Leute zurück¬
gewiesen, welche Milcheimer aus Zink und galvanisirte Leitungsröhren als
gesundheitsschädlich verdächtigen. Den hohen Zinkgehalt der Aepfel
betrachte ich als eine grobe, wenn auch wenig gefährliche Unzulässigkeit,
die durch die Gerichte bestraft wird. Ein Fütterungsversuch am Hunde,
den ich ein Jahr lang mit ziemlich grossen Dosen fortführte, sprach durch¬
aus für die Unschädlichkeit nicht ätzender Zinksalzmengen.
„Relativ wenig, wohl zu wenig beachtet ist zurZeit das Zinn. Früher
kamen viele Vergiftungen durch stark bleihaltiges Zinn vor, das zum Löthen,
Verzinnen von Kesseln u. s. f. gebraucht war. Seit in Deutschland zu den
Verzinnungen nur Zinn mit höchstens 1 Proc. Blei und zum Löthen von
Geschirren nur Loth mit höchstens 10 Proc. Blei verwendet werden darf,
hört man von solchen Bleivergiftungen nichts mehr. Nebenbei bemerkt,
habe ich oftmals Techniker und Nahrungsmittelfabrikanten versichern hören,
die Forderung, nur 10 Proc. Blei im Maximum zu Loth zuzusetzen, sei
undurchführbar, solches Loth sei brüchig und verarbeite sich sehr schlecht.
Der wichtigste Fortschritt in der Büchsenherstellung bestehe darin, dass
sehr viel gefalzt statt gelöthet werde und dass man beim Löthen thunlichst
ein Eindringen von Loth inB Innere der Büchse vermeide. Ich zeige Ihnen
hier solche Büchsen in verschiedenen Herstellungsphasen.
„Nun kommt die Frage nach der Schädlichkeit des reinen Zinns in
Betracht. Wichtig ist die Zinnfrage namentlich desswegen, weil die stets
stärker aufblühende Conservenindustrie grösstentheils mit Büchsen arbeitet,
die aus Weissblech, d. h. aus Eisen mit dünnem Zinnüberzug hergestellt sind.
Gegenüber diesen Gefässen verschwindet vollkommen die Bedeutung der
paar Zinnkannen, Krüge und Platten, welche heute bei uns in Gebrauch
sind, verweilen doch in diesen Zinngefässen kaum je die Nahrungsmittel so
lange, als nöthig ist, um nennenswerthe Zinnmengen in Lösung zu bringen,
während aus Conservebüchsen, wie die übereinstimmende Untersuchung
vieler Untersucher gelehrt hat, mit der Zeit recht ansehnliche Zinnmengen
in Lösung gehen.
„So enthielten vegetabilische Conserven 50 bis 60 mg Zinn pro Kilo,
Mengen von 150 bis 200 mg pro Kilo wurden oft gefunden. In Fleisch-
conserven, wie sie für das Militär hergestellt werden, habe ich meist um
50 mg, aber bis 170 und 325 mg nachgewiesen, unverkennbar ist die Steige¬
rung des Zinngehaltes während des Aufbewahrens.
„Ungar und Bodländer, denen das Verdienst gebührt, 1883 die
Zinnfrage speciell mit Rücksicht auf Conserven in Fluss gebracht zu haben,
glauben eine acute Vergiftung durch Spargelconserve auf die Aufnahme
grosser Zinnmengen beziehen zu müssen (obwohl sie Spargel mit 500 mg
Vierte^fthnsohrift für Gesundheitspflege, 1902. 9
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130 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Zinn ohne Schaden verzehren sahen). Von der Casuistik der neueren Zeit
scheint mir namentlich die Angabe von Günther (Z. U. N. 1899, 915)
beweisend, der nach Genuss von Ostseedelicatessbückingen in Weinsauce
erheblich an Verdauungsstörungen erkrankte, und ermittelte, dass er in 150 g
der Gonserve 156 mg Zinn in löslicher Form aufgenommen hatte. Es liegt
also scheinbar alle Veranlassung vor, stark saure Conserven nicht in ver¬
zinntem Eisenblech aufzubewahren, weil sie gelegentlich Gesundheitsstörungen
hervorrufen. Aoute Störungen durch die in den gewöhnlichen, nicht stark sauren
Gemüse- und Fleischconserven vorkommenden Mengen dürften zu den
grossen Seltenheiten gehören — mir scheinen sie überhaupt nicht ganz un¬
zweifelhaft nachgewiesen. Sicher sind auch einzelne Zinnvergiftungen der
Literatur eigentlich Ptomainvergiftungen.
„Chronische Zinnvergiftungen durch Conserven hat noch Niemand
beobachtet, obwohl viele Forschungsexpeditionen, z. B. Nansen in grösstem
Maassstab, von Conserven aus Blechbüchsen lebten. Die Versuche von
Ungar und Bodländer haben zwar dargethan, dass man durch sehr
grosse und lang verabreichte Dosen von Zinnpräparaten auch an Thieren
eine chronische Zinnvergiftung hervorbringen kann, ich selbst habe aber
drei Katzen jede über ein Jahr mit verschiedenen Zinnpräparaten gefüttert,
so dass sie Anfangs 10, bald aber 30 bis 40 mg pro Tag erhielten. Dabei
wuchsen die wenige Wochen alten Versuchsthiere zu kräftigen, 3 bis 5kg
schweren Thieren heran, welche im Leben tadellos wohl waren und bei der
Section keine makroskopischen Veränderungen erkennen liessen. Die Ver¬
suche stimmen also mit der praktischen Erfahrung am Menschen dahin
überein, dass kleine und mittlere Zinndosen unbedenklich scheinen auch bei
längerer Zufuhr.
„Die Zeit ist vorgerückt und ich würde füröhten, Sie zu ermüden, wenn
ich Sie über die übrigen Metalle meines Programms ebenso ausführlich unter¬
halten wollte. So lassen Sie mich denn nur in aller Kürze es aussprechen,
dass die Verwendung, welche das metallische Nickel und Aluminium in
unseren Wohnungen und speciell Küchen findet, nach den Untersuchungen
aller Fachleute sich als ganz harmlos herausgestellt hat. Wohl lösen sich
in Säuren namentlich von Nickel geringe Mengen, eine acute oder chronische
Schädigung hat aber bisher Niemand davon beobachtet, ebenso wenig vom
Aluminium. Wir haben um so weniger Veranlassung, diese Stoffe eingehend
zu betrachten, als mit ihnen fast nur der in Berührung kommt, der sich
freiwillig solche Gefässe anschafft, nicht der, welcher genussfertige
Nahrung kauft; jedenfalls liegen bisher keine Untersuchungen darüber
vor, dass käufliche Conserven und dergleichen von ihrer Fabrikation her
Aluminium oder Nickel enthalten, noch weniger Angaben darüber, die eine
Gesundheitsschädlichkeit geringer Mengen vermuthen lassen.
„Ich komme zum Schluss. Ich hoffe Ihnen gezeigt zu haben, dass der
Kampf gegen das tückische Blei durch unsere Gesetzgebung ein recht
erfolgreicher, aber noch kein ganz gleichmässiger ist: Textilstoffe sollten
kein Blei enthalten dürfen, und das strenge Gesetz über die Bleiabgabe der
Töpfereiwaaren steht mit dem gegenwärtigen Zustande in vielen Theilen
Deutschlands wenigstens in krassem Widerspruch. Dennoch ist heute die
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131
Die Bedeutung der hygienisch wichtigen Metalle.
Gefahr der Bleivergiftung im Haushalt nicht allzu gross. Kupfer und Zink
sind vielfach zu ängstlich, Zinn ist vielleicht bisher zu nachsichtig und
nachlässig beurtheilt worden, Aluminium und Nickel verdienen das Zutrauen,
das ihnen allgemein geschenkt wird.
„Lassen Sie uns mit einigen allgemeineren Betrachtungen schliessen.
Ich bin der Meinung, dass wir alle von dem Grundsatz ausgehen sollten:
Was geschehen kann, um ohne Härten, ohne Verteuerungen
wichtiger Lebensbedürfnisse, ohne Störung des internationalen
Handelsverkehrs u. s. f. die Schwermetalle von unserer Nahrung
fern zu halten, soll ohne Uebereifer geschehen.
„Sind wir gleichgültig in diesen Fragen, weil bisher acute Störungen
selten, chronische kaum je beobachtet worden sind, kümmern wir uns nicht
mehr um den Metallgehalt unserer Nahrungsmittel, insbesondere der Con-
serven, so öffnen wir der Nachlässigkeit Thür und Thor. Leicht werden
dann so grosse Metallmengen in der Nahrung erscheinen, dass wir mit
ihrer Gesundheitsschädlichkeit doch rechnen müssen, dass wenigstens
schwächere oder besonders empfindliche Naturen bedroht werden, dass ins¬
besondere durch die Combination aller möglicher uncontrolirter Bei¬
mischungen Gefahren entstehen.
„Von diesem allgemeinen strengen Standpunkt den Metallen gegen¬
über soll nur in Nothfällen abgegangen werden. Können z. B. die deutschen
Conservenfabrikanten nachweisen, dass ihre Producte nicht mehr concurrenz-
fähig sind auf dem Weltmarkt, wenn ihnen nicht ein kleiner Kupferzusatz
zu Erbsen, Bohnen und anderen Gemüsen gestattet wird, nun gut, so dulde
man den an sich unschädlichen Zusatz von etwa 25 mg pro 1 kg. Ich
glaube aber, die deutschen Conservenfabrikanten kämen am weitesten,
wenn sie auf die Cuprophobie weiter Kreise rechneten und von der bayeri¬
schen Staatsregierung lernten. Was hat dem Export des vorzüglichen
bayerischen Bieres in neuerer Zeit am meisten genützt? Die drakonisch
strengen und einfachen bayerischen Vorschriften, dass nur Wasser, Gersten-
malz und Hopfen bei der Bierbereitung verwendet werden darf, und dass
jedes, aber auch jedes Surrogat und Conservirungsmittel ausgeschlossen ist,
ganz gleich, ob es schädlich oder unschädlich ist. Zeigen die deutschen
Gemüseconservefabrikanten ihre Gemüse an: Garantirt frei von Kupfer¬
zusatz, so wird das dem Absatz wahrscheinlich viel mehr nützen als eine
kräftig grüne Farbe.
„Das Zink wird man nicht mit einem Schlage aus den Dörräpfeln ver¬
drängen können, man bestrafe höhere Mengen als nachlässig fabricirt,
ganz gleichgültig, ob kleine Zinkmengen schaden. Auch dem hohen Zinn¬
gehalt der Conserven ist entgegenzuwirken, stark saure Conserven gehören
überhaupt nicht in Zinnbüchsen; vielleicht gelingt es überhaupt, die Ver¬
zinnung irgend wie zu ersetzen oder durch Ueberzüge zu schützen.
„Ich empfehle also den schwach giftigen Metallen gegenüber den glei¬
chen Standpunkt, wie ich ihn von jeher gegen die chemischen Conservirungs¬
mittel eingenommen habe. Wir wollen sie nur da dulden, wo wir sie
nicht entbehren oder nicht vermeiden können, ohne wirkliche
Interessen zu schädigen; dem Blei gegenüber jedoch ist eine
besondere Vorsicht angebracht.“
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132 XXVI. Versammlung cL D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Der Vorsitzende eröffnet hierauf die DiBcussion.
Priyatdocent Dr. Th. Weyl (Charlottenburg) will noch einige Zu¬
sätze zu den Mittheilungen des Referenten in Betreff des Bleies geben, da
es sich um eine Anzahl von meist neuen Beobachtungen handle. Er habe
in Berlin bei einem Trödler einen Abendmahlskelch gefunden, der sich.bei
der chemischen Untersuchung als fast aus reinem Blei bestehend heraus¬
gestellt habe. Da nun jede Säure Blei aufnehme, sei mit ziemlicher Sicher¬
heit yorauszusetzen, dass bei der Benutzung solcher Abendmahlskelche
Bleivergiftungen entstehen können. — Ferner habe er in Frankreich eine
Methode kennen gelernt, kostbare Spitzen zu reinigen, die den gewöhn¬
lichen Waschprocess nicht vertragen, und bei denen man desshalb kohlen¬
saures Blei als Seife benutzte. Die Anwendung geschehe in der Weise,
dass man auf einen Bogen weissen Papiers kohlensaures Blei schütte, dann
die Spitzen darauf lege, sie mit kohlensaurem Blei tüchtig einstäube, sie
darauf mit Papier bedecke und die Papierfläche gegen die Spitzen reibe.
Der Erfolg sei ein guter, die Spitzen sehen weiss aus, aber bei den
Arbeiterinnen, welche mit der geschilderten Manipulation beschäftigt seien,
habe man vielfach Bleivergiftung beobachtet.
Weiter habe er in einer medicinischen Zeitschrift gelesen, dass in Lyon
durch Beschäftigung mit einem gelben Garn Vergiftungen vorgekommen
seien, und als er sich dies Garn habe kommen lassen, habe sich heraus¬
gestellt, dass dasselbe nicht, wie in jenem Artikel behauptet worden sei,
mit einem Theerfarbstoff, sondern mit chromsaurem Blei gefärbt gewesen
sei. In der That seien auch die Arbeiterinnen, die das Garn abgehaspelt
haben, alle an Bleivergiftung erkrankt.
Auch über die Bleiglasuren an Töpferwaaren habe er Untersuchungen
gemacht und gefunden, dass sie häufig schlecht gewesen seien und den Be¬
stimmungen des Reichsgesetzes nicht entsprochen haben. Vor allem habe
es ihn interessirt, aufzuklären, warum eine grosse Zahl von Töpfen, die er
auB Berliner guten Geschäften bezogen habe, kein Blei abgegeben habe,
während dagegen andere, auf dem Markt gekaufte, viel Blei abgegeben
haben. Es habe sich da ergeben, dass die von der Grossindustrie gelieferte
Waare die vom Reichsgesetz vorgeschriebene Probe aushalte, dass aber die
in der Hausindustrie hergestellten Töpfe diese Probe vielfach nicht aus-
halten. Der Grund hierfür liege wohl darin, dass die letzteren nicht ge¬
nügend gebrannt seien, da der kleine Töpfer in seinem oft schlecht con-
struirten Ofen aus Sparsamkeitsrücksichten nicht die erforderlichen Hitze
grade erzeuge.
Dem Referenten stimme er darin bei, dass das Gesetz über den Ver¬
kehr aus blei- und zinkhaltigen Gegenständen, und das im Zusammenhang
damit stehende Gesetz über die Benutzung von gesundheitsgefährlichen
Farben u. s. w., dass beide Gesetze der Reform bedürftig seien und zwar
wesentlich desshalb, weil das letztere geradezu die giftigsten Stoffe, näm¬
lich gewisse Theerfarben, nicht erwähne und andere Farben als giftig
anführe, die entweder in der Technik gar keine Rolle spielen oder welche
direct ungiftig seien.
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Die Bedeutung der hygienisch wichtigen Metalle. 133
Geh. Hedicinalrath Prof. Dr. Löffler (Greifswald) schliesst sich
den Ausführungen des Referenten vollkommen an und möchte nur gegen
einen Punkt eine Einwendung erheben: es betreffe dies den Bleizusatz zur
Glasur. Referent habe ausgeführt, dass man in Bayern die reine Her¬
stellung des Bieres ohne Zusätze durchgedrückt habe, und dass mit durch
die Vermeidung von Salicylsäure z. B. das bayerische Bier seinen Weltruf
behalten habe. In diesem Punkt, dem Bier, sei Referent also sehr streng,
wie er als echter Bayer auch sein müsse. Aber weniger strenge scheine
er gegenüber dem Bleizusatz zu der Glasur. Er habe nachgewiesen, und
auch der Vorredner habe es bestätigt, dass eine ungeheuere Menge von
Gefassen verkauft werde, welche solche Mengen von Blei abgeben, dass
durch die darin gekochten saueren Nahrungsmittel ganz entschieden Ver¬
giftungserscheinungen hervorgerufen werden können, und zwar seien dies
gerade solche Gefasse, welche von der ärmeren Bevölkerung gekauft
werden. Nun sei Referent der Meinung, dass man nicht so rigorös gegen
die Herstellung solcher Gefasse Vorgehen könne, weil man dadurch die
Hausindustrie erheblich schädigen würde. Dem könne er nicht beistimmen.
Er meine, sei einmal nachgewiesen, dass noch Gefässe verkauft werden, die
wirklich gesundheitsschädlich seien, so Bei zu fordern, dass dieselben den
gesetzlichen Vorschriften entsprechend rücksichtslos verfolgt und vom
Verkehr ausgeschlossen werden, gleichviel, ob darüber eine Anzahl von
kleinen Industrien zu Grunde gehe oder nicht. Er halte es für sehr wichtig,
dass dieser Punkt möglichst öffentlich bekannt werde, damit überall dies¬
bezügliche Untersuchungen von den Gesundheitschemikern angestellt
werden, damit überhaupt diese schlechten Töpfe aus dem Handel ver¬
schwinden und das Publicum davor geschützt werde.
Commerzienrath Ingenieur Henneberg (Berlin) ergreift das
Wort, um als Producent gewisser Kochgefässe und Apparate auf eine Frage
zu kommen, die für eine grosse Zahl von Verwaltungen von Wichtigkeit
sei. Sobald es sich nämlich um die Errichtung einer grösseren Kochküche
handele, für Strafanstalten, Krankenhäuser oder andere Etablissements, in
denen eine grössere Anzahl von Menschen verpflegt werden müsse, trete
immer wieder die Frage auf, aus welchem Material man die grossen Koch-
gefasse von 200, 500, 700 Liter Inhalt herstellen solle. Bisher sei man so
verfahren: Wo Geld vorhanden gewesen sei, habe man diese Kessel aus
Kupfer gemacht und habe auf die Verzinnung, die doch nicht lange halte,
meistens verzichtet. Wo kein Geld vorhanden gewesen sei, habe man zu
dem Eisen gegriffen, habe auch versucht, es zu emailliren, aber bald die
Erfahrung gemacht, dass die Emaille, wenn sie haltbar sein solle, mehr
oder weniger bleihaltig sein müsse, und dass man damit nichts gewonnen,
eher noch die Unschädlichkeit des Eisens abgeschwächt habe.
In der letzten Zeit nun seien die Zweifel über das Material für grössere
Kochkessel wieder stärker hervorgetreten, namentlich auch, seitdem es ge¬
lungen sei, Gefässe in grösseren Dimensionen aus reinem Nickel herzustellen.
Allerdings verursache die Herstellung wirklich guter grosser Nickelkessel
heute noch sehr bedeutende technische Schwierigkeiten, das Löthen des
Nickels sei eine ziemlich schwierige und problematische, das Nieten mit
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134 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Laschen eine sehr mühsame and kostspielige Manipulation, und Nickelkessel
in grossen Dimensionen seien desshalb immer noch recht theuere Apparate.
Trotzdem habe eine grosse Reihe von Verwaltungen in den letzten Jahren
sich dazu entschlossen, grosse Nickelkochkessel für ihre Kochküchen anzu¬
schaffen. Wo wirklich auf den Preis nicht gesehen zu werden brauche,
werde das wahrscheinlich auch in Zukunft noch geschehen. Da aber die
wirthschaftlichen Fragen doch immer auch mit den hygienischen Fragen
verquickt seien, so sei es für ihn von höchstem Interesse gewesen, aus einem
competenten Munde zu hören, dass die so viel angezweifelten Kupferkessel,
wenn man sie nur vorsichtig und sauber behandle, durchaus nicht so be¬
denklich und gefährlich seien, wie man bis jetzt häufig geglaubt habe. Aus
den heutigen Verhandlungen könne man wohl den Schluss ziehen, dass
man unbedenklich diese grossen Kochanstalten für Massenverpflegung
unter Benutzung von Kupfer und unter Beseitigung vieler technischen
Schwierigkeiten hinstellen könne.
Da sich Niemand weiter zum Wort gemeldet hat, schliesst der Vor¬
sitzende die Discussion und es erhält das Schlusswort
Referent, Professor Dr. K. B. Lehmann:
„Meine sehr geehrten Herren! Ich bin ausserordentlich erfreut, dass
meine Ausführungen keine weitere Opposition gefunden haben.
„Herrn Collegen Löffler möchte ich erwidern, dass wir ja principiell
gar nicht sehr verschiedener Meinung sind. Ich habe gesagt, man könne
einstweilen einen gewissen kleinen, hygienisch unbedenklichen Gehalt von etwa
5 oder 10 mg gestatten und wahrscheinlich die Zahl später noch herabsetzen.
Ich glaube, dass sein Vergleich mit der Salicylsäure und dem Weltruf des
bayerischen Bieres keine ganz glücklich gewählte Parallele war. Wir
wollen das bayerische Bier salicylfrei haben, um den Weltmarkt damit zu
erobern, aber die in unserer Umgebung gemachten Kochgeschirre wollen ja
keinen Weltmarkt erobern, sie wollen nur absatzfähig in der nächsten Um¬
gebung sein, und da dürfen wir vielleicht — wenigstens für eine gewisse
Uebergangszeit — diesen milderen Standpunkt vertreten, wie ich ihn an¬
gedeutet habe. Ich glaube, dass wir damit hygienisch ausreichen werden.
„Die Ausführungen des Herrn Commerzienrath Henneberg waren
ganz in meinem Sinne. Selbstverständlich folgt aus meinen Ausführungen
ohne Weiteres, dass das Kupfer bei geeigneter Behandlung im Nahrungs-
mittelgewerbe ganz unbeschränkt angewandt werden kann. Das ist klar. a
Schluss der Sitzung iy 4 Uhr.
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Strassenbefestigungdmateriaüen und Ausführungsarten.
135
Dritte Sitzung.
Freitag, den 30. September, Vormittags 9 Uhr.
Der Vorsitzende, Oberbürgermeister Schneider, eröffnet die
Sitzung und fordert die Versammlung auf, zunächst gemäss §. 7 der
Satzungen zur
Neuwahl des Ausschusses
zu schreiten. Auf Antrag und Vorschlag des Herrn Geh. Sanitätsrath
Dr. Le nt (Köln) erfolgt die Wahl, da von keiner Seite Widerspruch da¬
gegen erhoben wird, mittelst Zuruf, und werden gewählt die Herren:
Professor Dr. Al brecht (Grosslichterfelde),
Erster Bürgermeister ▼. Bor seht (München),
Oberbürgermeister Delbrück (Danzig),
Professor Dr. Carl Fraenkel (Halle),
Stadtbaurath Hopfner (Cassel),
Medicinalrath Dr. Reineke (Hamburg),
welche in Gemeinschaft mit dem ständigen Secretär,
Geh. Sanitätsrath Dr. Spiess (Frankfurt a. M.),
den Ausschuss für das Geschäftsjahr 1901/1902 bilden.
(Nach Schluss der Sitzung wählte der Ausschuss gemäss §. 7, Ab¬
satz 3 der Satzungen Herrn Medicinalrath Dr. Reineke zum Vorsitzenden
für das nächste Jahr.)
Der Vorsitzende stellt hierauf den letzten Gegenstand der Tages¬
ordnung zur Verhandlung:
Strassenbefestigungsmaterialien und
Ausfhhrungsarten sowie ihr Einfluss auf die
Gesundheit.
Es lauten die von den Referenten Stadtbaurath E. Genzmer
(Halle a. d. S.) und Privatdocent Dr. Th. Weyl (Charlottenburg) auf¬
gestellten
Leitsätze:
1. Die Strassenbefestigungen in den Städten erfordern sehr beträchtliche Geld¬
mittel; es ist daher gerechtfertigt, für eine wirtschaftlich richtige Ver¬
wendung der letzteren Sorge zu tragen.
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136 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
2. Diejenigen Strassenbaumaterialien sind vom wirtschaftlichen Standpunkt,
aus die besten, welche bei den geringsten Gesammtaufwendungen (ein¬
malige Herstellungskosten und laufende Unterhaltungskosten) eine
möglichst langdauernde Brauchbarkeit der Strassendecke gewährleisten.
3. Neben der wirtschaftlichen Wertigkeit der Strassenbaumaterialien kommen
namentlich noch Verkehrsrücksichten und Anforderungen der Hygiene in
Betracht.
4. Die Rücksichten auf den Verkehr bedingen eine derartige Beschaffenheit
der Strassenoberfläche, dass auf ihr, selbst bei den ungünstigsten Witte¬
rungsverhältnissen, sowohl der Verkehr der Fussgänger wie derjenige der
Zugtiere und Motoren möglichst leicht und gefahrlos sich. vollziehen
kann. Dies wird erreicht durch eine möglichst ebene Oberfläche von einem
gewissen Rauhigkeitsgrade, der um so grösser sein muss, je stärker die
Strasse geneigt ist.
5. Vom hygienischen Standpunkt aus betrachtet, sind diejenigen Strassen-
befestigungen die besten, welche
a) sich am wenigsten abnutzen, also den geringsten Staub erzeugen;
b) das geringste Geräusch verursachen;'
c) die Verunreinigung des Untergrundes am sichersten verhindern;
d) sich am schnellsten reinigen lassen.
6. Zahl und Art der auf der Strassenoberfläche befindlichen Keime kommen
nicht in Betracht, wenn dafür gesorgt wird,
a) dass die Strasse feucht erhalten wird;
b) dass sie in hygienisch zulässiger Weise entwässert wird;
c) dass der Strassenkehrieht feucht aufgesammelt und feucht abge¬
fahren wird.
7. Trockene Kehrmaschinen sind nur bei feuchtem Wetter oder nach vor¬
heriger Besprengung der Strassen zu gestatten. Bei trockenem Weter sind
nur nasse Kehrmaschinen anzuwenden. Empfehlenswerth sind solche
Kehrmaschinen, welche die Strasse zugleich besprengen und den Kehricht
aufladen.
8. Es sind auch in Deutschland Versuche über die Besprengung der ohaus-
sirten Strassen mit Petroleum anzustellen.
9. Es ist unzweckmässig, den Kehricht durch Einwurf in die städtischen Siele
zu beseitigen.
10. Die Beseitigung des frischgefallenen Schnees aus den städtischen Strassen,
namentlich aus den Verkehrsstrassen, erfolgt am schnellsten und billigsten
a) durch Einwurf in die Strassensiele mittelst besonderer Schneeschächte;
b) durch Einwurf in den nächsten Fluss.
11. Die Reinigung und BesprenguDg der Strassen ist Sache der Gemeinden.
Referent, Stadtbanrath E. Genzmer (Halle a. d. S.):
„Meine verehrten Herren! Die Frage geeigneter Strassenbefestigungen
ist für unsere Städte von höchster Wichtigkeit, schon allein um der grossen,
gewaltigen Summen wegen, welche die Strassenbefestigung kostet. Diese
Thatsache hat sich schon der Volksmund zu eigen gemacht, indem er von
,theurem Pflaster 1 spricht und damit identificirt die Ausgaben für Strassen-
pflaster mit den Gesammtaufwendungen, die man in einer Stadt für Beinen
Lebensunterhalt zu machen hat.
„Ich habe mir aus den neuesten statistischen Nachrichten von den
30 grössten Städten Deutschlands eine Zusammenstellung gemacht, um un¬
gefähr zu sehen, welchen Theil die Summen, die man für Pflasterungen aus-
giebt, von dem gesammten Bauetat ausmachen, und da habe ich gefunden,
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Strassenbefestigungsmaterialien und Ausführungsarten. 137
dass es sich um ein Dritttheil, in einzelnen Städten sogar um die Hälfte
handelt. Dabei ist nun noch zu berücksichtigen, dass eine grosse Zahl von
Strassenbauten gar nicht im Etat erscheinen, weil sie zwar von Unternehmern
hergestellt und für eine Reihe von Jahren zu unterhalten sind, schliesslich
aber doch von der Stadt übernommen und unterhalten werden müssen. Dann
endlich kommen auch noch oft Strassenneupflasterungen zur Ausführung,
die, — obgleich eigentlich eine Pflasteranleihe als solche nicht gemacht
werden soll, — auf Anleihen verrechnet werden, indem man die Canali-
sationsarbeiten als die Veranlassung zur Neupflasterung ansieht. Indess will
ich hierauf nicht weiter eingehen; es ist dies mehr oder weniger Geschäfts-
geheimniss. Unter Berücksichtigung aller dieser Umstände wird man finden,
dass die Zahl, die ich vorhin nannte (ein Dritttheil bis ein Halb), vermuthlich
noch viel zu niedrig gegriffen sein wird.
„Ist die Pflasterfrage schon in Folge der Thatsache, dass die Pflasterungs¬
kosten einen sehr grossen Theil der städtischen Aufwendungen ausmachen,
als eine ausserordentlich wichtige anzusehen, so ist sie auch sehr schwierig,
jedenfalls mindestens ebenso schwierig, wie die ,Grote Waterfrage 4 des Unkel
Brösig. Nicht allein bei der Herstellung des Pflasters selbst, sondern schon
bei der Aufstellung des Bebauungsplans kommt die Art der Befestigung der
Strassen in Betracht, und zwar sowohl in technischer, wie auch in wirth-
schaftlicher und hygienischer Beziehung. Ich muss auf diesen Umstand zu¬
nächst kurz eingehen. Was zunächst die bei der Aufstellung eines Bebauungs¬
planes zu wählende Richtung der Strassen anlangt, so sollte man die letztere
möglichst nicht zusammenfallen lassen mit der herrschenden Windrichtung
und zwar aus dem Grunde, weil dann leicht Staubaufwirbelungen Vorkommen
können. Ebenso sollten die Strassen eines Bebauungsplanes nicht zu lang ge¬
macht werden, aus demselben Grunde. Nebenbei werden ja auch Schönheits¬
rücksichten dafür sprechen, die Strassen nicht durchweg in geraden Linien
herzustellen, sondern ihnen angemessene Unterbrechungen zu geben. Weiter¬
hin würden die Untergrundverhältnisse schon bei Aufstellung der Bebau¬
ungspläne zu berücksichtigen sein, und zwar einmal nach der Richtung hin,
dass die Häuser, die an der Strasse erbaut werden, nicht der Gefahr aus¬
gesetzt sind, mit ihren Kellern in das Grundwasser zu kommen, dann aber
insofern, als man bei schlechtem Baugrund die Höhenlage der Strasse derart
zu wählen haben wird, dass das Pflaster nicht auf diesem schlechten Bau¬
grund, sondern auf einer aus besserem Material herzustellenden Aufschüttung
ausgeführt werden kann. Ferner wird die Steigung der Strassen von Ein¬
fluss sein, insofern man zur Schonung der Zugthiere und Fahrzeuge schon
bei Aufstellung des Bebauungsplanes danach zu trachten hat, die Strassen-
steigung möglichst zu verringern. Endlich ist die Breite der Strassenfahr-
bahn von Einfluss auf die Frage, die wir hier zu behandeln haben. Würde
man grosse, breite Pflasterflächen anlegen, so würde man dadurch nicht nur
die Kosten bedeutend in die Höhe treiben, sondern man würde auch die¬
jenigen Flächen, die Staub aufwirbeln, vergrössern und dadurch einen
hygienischen Nachtheil herbeiführen. Meiner Meinung nach ist man in der
Breitenbemessnng der Fahrdämme der Strassen vielfach zu weit gegangen.
Vielleicht ist es das Beispiel der grossen Städte gewesen, welches in dieser
Beziehung eingewirkt hat, insofern als auch kleinere Städte in Folge einer
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138 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
gewissen Grossstadtsucht sich Strassenfahrdämme von ganz bedeutender
Breite leisten zu müssen glaubten. Wenn man nun beobachtet, wie der
Verkehr auf qinem sehr breiten Fahrdamme sich mehr oder weniger regellos
vollzieht, so muss man zu der Ueberzeugung kommen, dass zur Bewältigung
des Verkehrs viel weniger die grosse Breite des Fahrdammes beiträgt als
vielmehr Verweisung des Verkehrs auf bestimmte Streifen der Fahrbahn.
Das beste Beispiel in dieser Beziehung bietet wohl die Stadt London, in
deren schmalen Strassen wegen der vortrefflichen Organisation des Fuhr¬
wesens ein ausserordentlich starker Verkehr in der glattesten Weise sich
vollzieht.
„Man nimmt die erforderliche Breite eines Fahrbahn Streifens für ein
Fuhrwerk zu etwa 2*5 m an. Dieses Maass genügt selbst für die grössten
Lastwagen. Wenn man daher eine Strassenfahrbahn für drei gleichzeitig
neben einander herfahrende Fuhrwerke einrichtet, also sie 7 1 / 2 m breit macht,
so thut man meiner Meinung nach für die meisten Strassen der mittelgrossen
und kleinen Städte schon, was nöthig ist. Natürlich wird die Sache anders,
wenn Strassenbahnen vorhanden sind, oder wenn es sich um Strassen mit
sehr starkem Verkehr, namentlich um die radial aus dem Innern der Städte
nach aussen hin verlaufenden Strassenzüge handelt. Ich möchte, um nicht
missverstanden zu werden, hier aber noch ausdrücklich betonen, dass diese
ebe n besprochene Breitenfestsetzung der Fahrbahnen nicht etwa verwechselt
werden soll mit der Breitenfestsetzung der Strassen an sich. Die Strasse —
d. h. die Entfernung der Häuser von einander — kann und soll eine aus¬
kömmliche Breite haben, damit die nöthige Licht- und Luftzufuhr für die
Häuser stattfinden kann. Es handelt sich hier vielmehr lediglich darum,
dass man denjenigen Theilen der Strasse, welche dem Fuhrverkehr dienen,
also gepflastert werden müssen, keine zu grosse Breitenabmessung giebt.
Dagegen empfiehlt es sich, in den Wohnstrassen Vorgärten, in den Ge¬
schäftsstrassen breite Bürgersteige anzulegen.
„Die Vorgärten haben eine ganze Reihe von Vortheilen für die Wohn¬
strassen. Zunächst bewirken sie eine Verminderung des Staubes und des Ge¬
räusches für die Anlieger; sodann gewähren sie ein freundliches Ansehen
und endlich erlauben sie auch, da die Häuser von der Strasse weit entfernt
sind, eine Baumanpflanzung in diesen Wohnstrassen anzulegen, deren Ge¬
deihen dadurch gesichert ist, dass die Bäume von den anliegenden Häusern
genügend weit entfernt sind. In dieser Beziehung wird ja sehr vielfach
gefehlt. Man pflanzt oft Bäume in einer Strasse auf schmalen Bürger¬
steigen in geringer Entfernung von den Häusern und bedenkt nicht, dass
die Bäume doch eigentlich die Aufgabe haben, gross zu werden, dass sie
aber gerade dann, wenn ihnen das gelingt, den Anliegern zur Last werden
müssen, weil sie die Fenster verdunkeln. So sind denn die Vorgarten¬
strassen, weil sie die auskömmliche Entfernung der Bäume von den Häusern
sichern, nach meinem Dafürhalten besonders für die Bepflanzung geeignet
Bei den Wohnstrassen kommt man mit einer verhältnissmässig schmalen Fahr¬
bahn aus. Es dürften in der Regel in Wohnstrassen sogar die Breite von zwei
Wagen-Spuren, also von 5 bis 5y 2 m, vollkommen ausreichend sein. Solche
Strassen werden ja sogar jetzt in Berlin angelegt, in der Grossstadt Wo
es sich also um Wohnstrassen handelt, da würde man auf diese Weise eine
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Strassenbefestigungsmaterialien und Ausführungsarten. 139
grosse Summe sparen, abgesehen davon, dass man die verschiedentlichen
Missstände, die durch die grossen Pflasterflächen entstehen, in wirksamer
Weise vermeidet.
„Auch in Geschäftsstrassen, wie schon vorhin erwähnt, thut man meines
Erachtens gut, die Fahrbahn nicht zu breit zu machen, die Breite der Bürger¬
steige aber reichlich zu bemessen. Dadurch ermöglicht sich zunächst die
Pflanzung von Alleebäumen an der Kante der Bürgersteige, die auch in der
Geschäftsstrasse von Vortheil ist, wie überhaupt in jeder städtischen Strasse,
und zwar sowohl aus hygienischen wie aus ästhetischen Gründen.
„Es hat aber die Verbreiterung der Bürgersteige auch noch einen an¬
deren sehr wichtigen Zweck, nämlich den, die Versorgungsleitungen der
Städte auf gute Weise unterzubringen. Man hört oft die Frage: Warum
bauen Sie keine unterirdischen Canäle, in welchen alle Leitungen unter¬
gebracht werden können, also die sogenannten Subways , wie der Engländer
sie nennt? Ich kann mich hier auf diese ebenso wichtige wie schwierige
Frage nicht näher einlassen. Ich erinnere nur daran, dass Altmeister
Qobrecht ja diese Frage vor etwa 10 Jahren in Hamburg in erschöpfen¬
der Weise behandelt hat und zu dem Ergebniss gekommen ist, dass solche
Subways nicht zweckmässig sind. Ich möchte nur mit ein paar Worten die
Hauptgründe anführen, die gegen diese unterirdischen Canäle sprechen.
Wenn es sich nur darum handeln würde, die in der Längsrichtung der
Strassen liegenden Röhren unterzubringen, so würde die Sache vielleicht
noch gehen; aber es handelt sich darum, nun nach allen angrenzenden
Häusern ebenfalls unterirdische Canäle als Zweigleitungen auszuführen.
Das vertheuert die Anlage ganz ungemein. Es ist, wenn man weiter be¬
denkt, dass an solchen Rohrleitungen, wie an Gas- und Wasserleitungen,
fortwährend Ausbesserungen nothwendig, dass auch häufig Neuanlagen aus¬
zuführen sind, erforderlich, dass diese Röhren in den unterirdischen Canälen
auf weitere Strecken transportirt werden müssen, da es sich verbietet, die
StraBsenoberfläche durch Abdeckplatten grosser Einsteigeschächte in kurzen
Entfernungen zu unterbrechen. Dass unter diesen Umständen Beschädi¬
gungen der in den Subways liegenden Röhren leicht Vorkommen können,
liegt auf der Hand. Es kommt endlich hinzu, daBs nicht immer in den¬
jenigen Strassen, welche die meisten Rohrleitungen aufzuweisen haben,
auch gerade Hauptcanäle liegen müssen. Das Canalnetz wird vertheilt
nach der Gestaltung des Geländes, nicht aber nach der Bedeutung der
Strassen der Stadt. So kann es kommen, dass ein Hauptcanal in einer
Nebenstra8se liegt, welche nur wenige Versorgungsleitungen aufzuweisen hat.
Man müsste also der Unterbringung der Versorgungsleitungen wegen sehr
häufig dünne Canalleitungen durch begehbare Canäle ersetzen. Hierdurch
würden die Kosten aber in ungemessener Weise wachsen. So zweckmässig
es also auf den ersten Blick erscheinen mag, dass man die Rohrleitungen
in Subways unterbringt und damit die „Buddelei u , über die so viel geklagt
wird, vermeidet, so stösst man hierbei doch, je näher man sich mit der Sache
befasst, auf immer grössere Schwierigkeiten.
„Desshalb glaube ich, und mit mir viele Fachgenossen, dass es wesent¬
lich wünschensweither ist, die Versorgungsleitungen in den Bürgersteigen
unterzubringen. Dadurch vermeidet man eine ganze Reihe der beklagten
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140 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentL Gesundheitspflege zu Rostock.
Missstände. Diese Missstände bestehen vor Allem darin, dass die Strasse
aufgerissen wird, dass der Verkehr gestört wird. Das fällt weg — wenig¬
stens für die Fahrbahn —, sobald auf beiden Seiten unter den Bürgersteigen
die betreffenden Rohrleitungen untergebracht werden. Auf diese Weise
werden die Hausanschlussleitungen auf das denkbar geringste Maass ver¬
kürzt, die Aufgrabungen auf das Minimum beschränkt. Ausserdem hat
man die Möglichkeit, die Fabrbahnbefestigungen so herzustellen, dass sie
nach menschlichem Ermessen eine Aufgrabung überhaupt nicht zu erfahren
brauchen. Die Aufgrabungen werden vielmehr auf die Bürgersteige verlegt,
deren Befestigung überdies eine viel einfachere und viel weniger kostspielige
ist, wie die Fahrbahnbefestigung.
„Es wird sich weiterhin empfehlen, bei den Haupt Verkehrsstrassen da¬
durch auf eine Verringerung der Pflasterfläche zu dringen, dass man für
die verschiedenen Verkehrsarten besondere Streifen anlegt, beispielsweise
für die Reiter und für die Radfahrer. Ein Reitweg ist verhältnissmässig
billig hergestellt und ebenso auch ein Radfahrerweg, denn der bedarf höch¬
stens derjenigen Befestigungsart, die der Bürgersteig braucht. Vielleicht
genügt in den meisten Fällen sogar Kies; denn die Radfahrer halten ihren
Weg selbst in Ordnung, sie fahren ihn selber fest. Ordnet man solche für
die Radfahrer bestimmte, etwa 2 m breite Streifen zwischen den beiderseitigen
Baumreihen und den Bordschwellen der Bürgersteige an, so würde man die
Strasse gleich um 4 m verbreitern, ohne dass hierdurch für die Herstellung
oder für die Unterhaltung besondere Kosten erwachsen. Oft wird es auch
möglich sein, auf grossen Verkehrsstrassen, bei denen man naturgemäss in
besonders vorsichtiger Weise den zukünftig auftretenden Bedürfnissen der
Vergrösserung des Verkehrs Rechnung zu tragen hat, zunächst bepflanzte
Streifen anzulegen. Diese Streifen, die für die Gegenwart nur geringe
Kosten erfordern, können in Zukunft, wenn sich der Verkehr über Erwarten
steigern sollte, zur Verbreiterung der Fahrbahn herangezogen werden.
Uebermässig grosse Pflasterflächen sind nach meinem Dafürhalten nicht
allein aus ästhetischen, sondern auch aus finanziellen, wirthschaftlichen Grün¬
den verwerflich. Ich möchte, um ein Beispiel aus der hiesigen Stadt anzu¬
führen, meinen, wenn man auf dem kleinen dreieckigen Platze, an dem Treff¬
punkt der Paulstrasse und der Brandesstrasse, statt ihn mit schlechtem Pflaster
zu belegen, eine kleine Pflanzung angebracht hätte, so würde man wirthschaft-
lich und ästhetisch richtiger verfahren sein. Das Kopfsteinpflaster, das
ich dort gesehen habe, ist vollständig vom Gras durchwachsen, der beste
Beweis dafür, dass die Fläche dem Verkehr nicht dient, für ihn nicht er¬
forderlich ist.
„Meine Herren! Im Vorstehenden habe ich dasjenige zusammengefasst,
was, wie ich glaube, bei der Aufstellung des Bebauungsplanes, bei der all¬
gemeinen Anlage der Strassen berücksichtigt werden muss, um eine wirth-
schaftliche Anlage der Strassenbefestigung herbeizuführen. Ich komme nun
jetzt zu der Strassenbefestigung selber. Eines möchte ich aber vorher noch
nachtragen. Es ist sehr wichtig, wenn man sich darüber unterrichten will,
welche Flächen der Strassen den verschiedenen Verkehrsarten wirklich
dienen, im Winter, wenn frischer Schnee gefallen ist, zu beobachten, welche
Wege die Fussgänger gehen, welche Wege die Fahrzeuge nehmen. Man
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Strassenbefestigungsmaterialien und Ausführungearten. 141
wird dann sehr bald finden, dass bestimmte Flächen vorhanden sind, bei
denen der Schnee unberührt bleibt. Das sind diejenigen Stellen, die ausser¬
halb des Verkehrs Hegen, und die man ganz ruhig dem Verkehr auch ent¬
ziehen kann, die man also bepflanzen oder in andererWeise verwenden kann,
ohne dass man dadurch irgendwie dem Verkehr eine Beschränkung auferlegt.
„Also nunmehr zur Strassenbefestigung selber! Ganz allgemein
möchte ich sagen: das Material der Strassenbefestigung muss ein solches sein,
dass es bei den geringsten Gesammtaufwendungen, d. h. wenn man Her-
stellungs- und Unterhaltungskosten zusammennimmt, die Möglichkeit ge¬
währt, die Strassenoberfläche auf die längste. Dauer für den Verkehr
brauchbar zu erhalten.
„Man glaubte früher ganz allgemein, dass dieser Bedingung am besten
genügt würde, wenn man möglichst hartes Material nahm. Man war der An¬
sicht, man könne die Strasse so zu sagen för ewige Zeiten oder wenigstens für
sehr lange Zeiträume befestigen. Das ist ein grosser Irrthum, denn das
Strassenmaterial wird so vielen Angriffen ausgesetzt und ist so der Ver¬
gänglichkeit preisgegeben, wie kaum irgend ein anderer Baustoff. Aus dieser
irrthümlichen Auffassung sind z. B. die Basaltpflasterungen in den rheini¬
schen Städten entstanden. Das hat man mit den Basaltpflasterungen freilich
erreicht: die Basaltsteine, die 50 Jahre und länger in der Pflasterung lagen,
haben ihre Höhe nur um wenige Millimeter vermindert, aber sie haben da¬
für vollständig runde Köpfe bekommen, die sogenannten „Katzenköpfe“, wie
sie im Rheinlande heissen. Also durch den Verkehr sind die Kanten ab-
geschHffen worden, die Oberflächen der Steine sind vollständig runde Halb¬
kugeln geworden; sie sind desshalb für den Verkehr natürlich vollständig
ungeeignet. Wenn man dagegen ein weicheres Material wählt, wie es bei¬
spielsweise die guten Grauwacken darbieten, dann kann man die Beob¬
achtung machen, dass dieser Stein zwar verschleisst, aber er verschleisst so,
dass er keine runden Köpfe bildet, sondern dass er eine mehr oder weniger
ebene Oberfläche beibehält. Dann hat man also nur nöthig, von vornherein
die Höhe des Steines in auskömmlicher Weise zu bemessen. Man muss die
Höhe der Steine statt zu 16 oder 15 cm auf 20 cm bemessen. Das macht
keine Schwierigkeit und kostet kaum mehr. Man überlässt nun diese über-
schieSsenden Centimeter dem Verschleiss. Man wird finden, dass man zwar
nach einem gewissen Zeitraum von Jahren — vielleicht 15 bis 20 Jahren —
die Strassendecke erneuern muss; bis dahin hat sie aber in der That eine
regelmässige, gute Oberfläche besessen, d. h. sie hat dem Verkehr in wirk¬
lich auskömmHcher Weise gedient. Bei dem Basaltpflaster ist das nicht der
Fall; denn bei diesem tritt schon nach kurzem Zeitraum, nach wenigen
Jahren, das Rundwerden der Köpfe ein: die Fahrbahnfläche ähnelt eher
einem steinernen Knüppeldamm und ist für den Verkehr ungeeignet.
„Hat man nun nach dem Vorigen im wirtschaftlichen Interesse weichere,
sich allmählich abschleissende Gesteinsarten für die Pflasterungen zu wählen,
so entsteht die Frage, ob nicht gerade diese Abschleissungen vom hygieni¬
schen Standpunkt aus zu verwerfen sind. Nach meinem Dafürhalten kann
dies nicht der Fall sein, da die Zerstäubung des Materials nur so langsam
im Laufe der Jahre erfolgt, dass irgend welche wahrnehmbare Einwirkung
in hygienischer Beziehung völlig ausgeschlossen ist.
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142 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
„Schliesslich kommt für die Frage der Strassenbefestigung der Verkehr
in Betracht. Hierbei ist zu fordern, dass das Material eine ebene Oberfläche
gewährleistet. Dabei muss aber auch ein gewisser Reibungscoefficient zwischen
den Hufen der Zugthiere und der Pflasterbahn vorhanden sein. Wir
werden später im Einzelnen sehen, welche Pflasterungen diesen Bedingungen
entsprechen und welche nicht. Erwähnen möchte ich jetzt schon, dass auch
hierin das harte Gestein wieder im Nachtheil ist gegenüber dem weichen
Stein. Der harte Stein, der einen runden Kopf bekommt, wird auch glatt
und dexjenige Stein, der sich gleichmässig abschleisst, behält immer eine
gewisse Rauhigkeit. Also auch in dieser Beziehung ist nach meiner Mei¬
nung der weiche, allmählich verschleissende Stein dem harten überlegen.
„Wie ich schon oben hervorgehoben habe, empfiehlt es sich bei den
Hauptverkehrsstrassen, für die einzelnen Verkehrsarten besondere Bahnen
einzurichten und zwar sowohl im Verkehrsinteresse selber wie auch aus
finanziellen Gründen. Was die Reitwege anlangt, so will ich hier nur kurz
erwähnen, dass man sehr gute derartige Wege herstellen kann, indem man
Gerberlohe und Sägespäne vermischt. Dieses Gemisch zeigt weder die lästige
Staubbildung im Sommer, noch die unangenehme Schmutzbildung im Winter;
es ist aber leider sehr theuer. Die Hauptsache ist aber stets die Sorge für
eine möglichst gute Entwässerung des Untergrundes der Reitwege.
„ Wir kommen nunmehr zu den Radfahrer wegen. In den alten Strassen
der inneren Stadt kann man die Radfahrer schon dadurch beglücken, dass
man ihnen einen schmalen, etwa 60 cm breiten Streifen neben der Gosse
überweist. Dieser Pflasterstreifen ist unter Verwendung von Steinen mit
möglichst ebener Kopffläche herzustellen. Zu solchen Steinen eignen sich
nach meinem Dafürhalten ganz gut die Schlackensteine, auf die ich später
noch einmal ausführlicher zurückkomme. Im Grossen und Ganzen herrscht
immer noch eine gewaltige Missstimmung gegen die Radfahrer. Wenigstens
wenn man von der Stadtverordnetenversammlung irgend etwas für die Rad¬
fahrer haben will, dann bekommt man es ganz gewiss nicht. Ein solcher
Antrag pflegt vielmehr das Signal zu sein für das Hervortreten aller mög¬
lichen unliebsamen Redensarten gegen das ganze Radfahrwesen. Auch der
durchaus zutreffende Hinweis, dass durch die Anordnung besonderer Rad¬
fahrerwege den Fussgängern offenbar noch mehr gedient ist, als den Rad¬
fahrern selbst, verfehlt bei dem einmal herrschenden Fanatismus meistens
seine Wirkung.
„Bei der Strassenbefestigung sind neben den oben besprochenen Reit¬
wegen und Radfahrerwegen die Fusswege zu besprechen. Die Fussweg-
befestigung muss von dem Gesichtspunkt aus betrachtet werden, dass der
Bürgersteig auch bei schlechtem Wetter zu benutzen ist. Strassen befesti¬
gungsarten zu finden, die bei gutem Wetter schön sind, das ist kein Kunst¬
stück. Da brauchte man nur eine Kiesbahn, auf der es sich eigentlich am
besten geht. Bei schlechtem Wetter, bei Regen und Schnee, wird man aber
mit der einfachen Kiesbefestigung in der Regel nicht auskommen können,
sondern zu dauerhaftem Material greifen müssen. Dies glaubte man viel¬
fach in den Thonplatten (namentlich denjenigen mit geriffelter Oberfläche)
gefunden zu haben. Es hat sich aber herausgestellt, dass diese gesinterten
Materialien unter der Einwirkung der Fusssohlen im Laufe der Zeit mehr
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Strassenbefestigungsmaterialien und Ausführungsarten. 143
oder minder glatt werden. Die Tbonplatten und ähnliche Fusswegbeläge
erfüllen also die zu stellenden Bedingungen nicht. Ebensowenig kann meiner
Meinung nach die Granitplatte, die auch vielfach beliebt ist, als eine ge¬
nügende Strassenbefestigungsart anerkannt werden. Sie ist ausserordent¬
lich theuer, verfallt aber dennoch dem Schicksal, dass sie im Laufe der
Zeit glatt wird. Dies thun auch bis zu einem gewissen Grade die Ce men t-
beläge, einerlei, ob man sie aus einzelnen fertigen Platten herstellt oder
auf der Strasse selbst anfertigt. Andererseits haben Cementplatten wiederum
den Vorzug, dass sie sehr billig sind; denn für einen Granitplattenbelag
kann man drei Cementplattenbeläge herstellen.
„Für ein vorzügliches Material zur FussWegbefestigung halte ich den
Asphalt, weil er immer rauh bleibt, weil er eine fugenlose Decke bildet, so
dass Unreinlichkeiten in den Untergrund nicht eindringen können, und weil
er stets wieder verwendbar ist, also nicht verworfen werden muss, wie die
Cement- und Thonplatte. Voraussetzung hierbei ist aber, dass es sich um
richtigen Asphalt handelt und nicht um ein Surrogat. Dies zu erkennen, ist
sehr schwer. Ich habe mit vielen Chemikern darüber verhandelt, ob es
nicht möglich sei, ein einfaches Verfahren zur sicheren Erkennung des
reinen Asphalts zu finden, bis jetzt habe ich ein praktisches Ergebniss leider
nicht erzielen können. Es ist ausserordentlich schwierig, ein sicheres Urtheil
über die Beschaffenheit des Asphalts bei seiner Verlegung zu gewinnen.
Daher kommt es, dass man mit dem Asphalt sehr oft betrogen wird, indem
man statt seiner Surrogate erhält.
„Es giebt übrigens im Wesentlichen zwei verschiedene Sorten von Asphalt
— ich möchte das nur ganz kurz hier für Nicht-Techniker erwähnen —,
das ist einerseits der Gussasphalt, andererseits der Stampfasphalt. Der
Gussasphalt kommt in sogenannten „Broden“ in den Handel, die verschieden
geformt sind Und jedesmal den Stempel der betreffenden Fabrik tragen.
Die Brode sind aus gemahlenem, natürlichem, bituminösem Kalkstein unter
Zusatz von Goudron hergestellt. Der Goudron kommt aus dem sogenannten
„Pechsee“ der Insel Trinidad.
„Die Brode werden in den bekannten Asphaltkochöfen zusammen mit
dem Goudronzusatz zu einer weichen Masse gekocht. Nachdem man dieser
Masse etwa die gleiche Menge Perlkies zugesetzt hat, ist der Gussasphalt
zum Gebrauch fertig. Er wird auf die feste Betonunterlage aufgebracht
und mit hölzernen Spachteln verstrichen. Der Stampfasphalt dagegen
wird so hergestellt, dass man gewisse bituminöse Kalksteinarten, wie sie in
der Natur an einzelnen Stellen vorgefunden werden, namentlich in Val de
Travers, in Ragusa und einigen wenigen anderen Orten, einfach zerkleinert,
zerpulvert und dann auf der Strasse mit heissen Stampfern wieder com-
primirt Der Stampfasphalt ist also etwas ganz anderes, als der Guss¬
asphalt. Der Stampfasphalt hat vorzügliche Eigenschaften. Er eignet sich
für den Belag von Fusswegen nach meinem Dafürhalten vorzüglich. Der
ausgedehnten Verwendung des Stampfasphalts zu Fusswegbefestigungen
steht aber der hohe Preis hinderlich im Wege. Aus dem letzten Grunde
wird der Gussasphalt, welcher ebenfalls eine vortreffliche Fusswegbefestigung
ermöglicht, dem Stampfasphalt meist vorgezogen. Guter Gussasphalt ist nach
meinem Dafürhalten ein ganz vortreffliches Mittel zur Fusswegbefestigung
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144 XXVL Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
„Eine andere ebenfalls sehr gute Befestigung der Fusswege kann man
durch sogenanntes Mosaiksteinpflaster bewirken, wie das ja auch in
sehr vielen Städten, namentlich aber in Berlin in ausgedehntem Maasse
geschieht. Zu dem Mosaikpflaster eignen sich am besten weiche Gesteins¬
arten, wie Kalkstein, die sich allmählich abschleissen und nicht glatt werden.
Sie bilden einen ganz vorzüglichen Belag, der eine Reihe von Vortheilen
hat, von denen neben der Billigkeit — für 3 Mk. bis 3*50 Mk. ist er her¬
zustellen — und guten Brauchbarkeit namentlich die Leichtigkeit des Auf¬
nehmens und Wiederverlegens hervorzuheben ist. Denn, wie oben schon
des Näheren ausgeführt worden ist, wird man immer mehr dazu übergehen
müssen, die zahlreichen Versorgungsleitungen, zu denen vielleicht in nicht
zu ferner Zukunft auch noch die Fernheizung treten wird, in den Fuss-
wegen unterzubringen. Durch das Mosaikpflaster ist dann die Möglichkeit
gegeben, die unvermeidlichen Aufgrabungen schnell und billig zu bewirken.
„Das Mosaik hat ausserdem die Eigenschaft, durchlässig zu sem. Diese
Thatsache ist von Vortheil bei Frostwetter insofern, als der Belag mit dem
Frost auf- und niedergeht, mithin keine Brüche und Sprünge bekommen
kann. Nach allem diesem möchte ich dem einfachen Mosaikpflaster sehr das
Wort reden.
„Oft wird man den Bürgersteig zweckmässig nicht mit ein und demselben
Belag in der ganzen Breite versehen, sondern verschiedene Befestigungs¬
arten in einzelnen Streifen zur Anwendung bringen. Es empfiehlt sich, in
der Nähe der Häuser, wo die Versorgungsleitungen hauptsächlich liegen,
Mosaikpflaster anzuwenden. Das hat ausserdem noch den Vortheil, dass das
Undichtwerden der Gasleitungen sich leicht erkennen lässt. Neben dem
Mosaikstreifen kann man dann einen Streifen aus Asphalt als Gehweg
anlegen. —
„Nach diesen Ausführungen über die Befestigung der Bürgersteige und
der vorangegangenen Besprechung der Reit- und Radfahrerwege erübrigt
sich noch die Betrachtung der Fahrbahnbefestigungen. Diese ist von
besonderer Schwierigkeit, da die Fahrbahn den grössten Angriffen aus¬
gesetzt, somit naturgemäss nur schwer und unter Aufwendung bedeutender
Mittel zu befestigen ist.
„Ich erwähnte vorhin schon, dass die Chausseen wohl als für städtische
Verhältnisse nicht in Betracht kommend angesehen werden können, weil
sie zwar billig in der Herstellung, aber theuer in der Unterhaltung sind,
ausserdem aber die unangenehme Eigenschaft haben, dass sie bei jedem
nassen Wetter schmutzig sind und bei jedem trockenen Wetter Staub ver¬
breiten, also das Gegentheil von alle dem leisten, was man von einer
ordnungsmässigen städtischen Strassenbefestigung verlangen muss, besonders
auch in hygienischer Beziehung. Man hat ja versucht, die Chausseen zu ver¬
bessern dadurch, dass man die oberste aus kleinen Steinchen bestehende Schicht
durch eine Goudronmasse ausgegossen hat, so z. B. in Liverpool. Diese
sogenannten Liverpooler Pech - Macadamstrassen haben sich trotz wärmster
Empfehlung von manchen Seiten her in Deutschland meines Wissens keinen
Eingang verschafft. Nach den von mir selbst in Köln angestellten jahre¬
langen sorgfältigen Proben finde ich das vollauf begreiflich, denn hierbei
war weder eine merkbare Verlängerung der Lebensdauer der Versuchsstrecke,
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Strassenbefestigungsmaterialien und Ausführungsarten. 145
noch auch ein besseres Aussehen oder eine grössere Sauberkeit derselben
festzustellen.
„Ich will daher von den Macadamstrassen (Chaussirungen) hier nicht
weiter reden und wende mich nunmehr der so überaus* wichtigen Frage des
Steinpflasters zu. Dieses bildet zur Zeit die gebräuchlichste Fahrdamm¬
befestigung und dürfte es, wenigstens für die meisten Mittel- und'Klein¬
städte, auch in absehbarer Zeit bleiben. Zunächst wird es immer das Zweck-
massigste sein, wenn die Städte sich desjenigen Pflastersteinmaterials bedienen,
das in ihrer Nähe vorhanden ist, sofern es billigen Ansprüchen genügt. Die
einfachste Art des Strassenpflasters ist die Versetzung der einzelnen Steine
in eine Kies- und Sandschicht. In den stärker befahrenen Strassen ist man
dazu übergegangen, den Untergrund zu befestigen, etwa durch Beton oder
durch eine Chaussirung. Diese Bauart hat aber den Nachtheil, dass nicht
nur die Strassendecke ausserordentlich starr wird und das Geräusch in er¬
heblichem Maasse vermehrt, sondern dass auch der Stein in Folge der un¬
elastischen Unterlage wesentlich mehr der Zerstörung ausgesetzt ist. Die
feste Unterbettung ist und bleibt aber ein Mittel, die Senkung im Strassen -
pflaster auf ein gewisses Maass herunterzumindern. Indessen kann man
dies bis zu einem gewissen Grade auch erreichen, indem man die Fugen
durch ein geeignetes Bindemittel ausgiesst. Dieser Fugenausguss muss
übrigens auch bei der festen Unterlage ebenfalls erfolgen, weil sonst
das Wasser durch die Pflasterfugen durchsickern und bei dem geringen
Abstande des Steines von der festen Unterlage beim Frost ein Hochfrieren
der Steindecke veranlassen würde. Der Pflasterfugenausguss bei einem
Steinpflaster ohne feste Unterbettung verhindert jedenfalls das Hervor¬
quellen des Untergrundes durch die Pflasterfugen in Folge der rammartigen
Wirkung der Verkehrsstösse auf die Pflastersteine und vermindert somit die
Strassenschlammbildung; ausserdem bewahrt er die Kanten der Pflaster¬
steine vor frühzeitiger Abnutzung und die Köpfe der Steine sehr vor dem
Rundwerden. Nach meinen Erfahrungen wenigstens kann ich den Ausguss
der Pflastersteinfugen für jedes bessere Pflaster (auch ohne feste Unter¬
bettung) nur auf das Wärmste empfehlen. Als beste Fugenausgussmasse
wird meist allseitig eine Mischung aus Asphalt und gewissen Theerarten
angesehen.
„Erwähnen möchte ich noch, dass bei schlechtem, wasserhaltigem Unter¬
gründe die feste Unterbettung des Pflasters nicht genügt, sondern dass
unterhalb derselben noch eine vollständige Drainage angelegt werden muss.
Das Bind indessen Ausnahmefälle. Im Allgemeinen wird, namentlich für
mittlere und kleinere Städte, ein gutes Steinpflaster auf Kies- und Sand¬
unterlage ohne feste Unterbettung, aber mit Fugenausguss als wirtschaft¬
lich richtig und hygienisch einwandsfrei zu empfehlen sein.
„Was das Pflasterstein material anbelangt, so ist es in dem engen
Rahmen eines Vortrages unmöglich, bei der überaus grossen Anzahl der
Gewinnungsstellen und der Gesteinsarten irgend welche bestimmte Angaben
zu machen. Diese Frage wird, wie ich oben schon angedeutet habe, nur
örtlich zu lösen sein. Grundsätzlich möchte ich aber hervorheben, dass nach
meinem Dafürhalten im Allgemeinen weichere, gleichmässig sich ab-
schleissende und nicht glatt werdende Gesteinsarten, wie etwa gute Grau-
Vierteljabrapchrift für Gesundheitspflege, 1002. JQ
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146 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
wacke, den Hartgesteinen, wie etwa dem Basalt, vorzuziehen sind, weil
letztere zur Bildung runder Köpfe und zum Glattwerden neigen.
„Für die Herstellung des Strassenpflasters ist ferner sehr wichtig das
Format der Steine. Man hat früher geglaubt, zur Erzielung einer guten
Strassenbefestigung die Abmessung der Pflastersteinköpfe möglichst gross
machen zu sollen. Das hat sich aber doch insofern als unzweckmässig er¬
wiesen, als beim Eintritt der Kantenabrundung die Erhöhung der Köpfe
naturgemäss grösser wurde als bei schmalen Steinen. In Folge dessen
befahren sich die Strassen viel geräuschvoller und unbequemer. Jedenfalls
giebt das in einer Reihe von rheinischen Städten auf Stübben’s Anregung
hin gebräuchliche „Normalformat“ (Kopffläche 10:16 cm, Höhe 16 cm) einen
guten Anhalt für die zweckmässige Wahl der Pflastersteinabmessungen, die,
abgesehen von dem jeweiligen Material, beeinflusst wird durch die Art des
Verkehrs und die vorliegenden Steigungsverhältnisse. Nach meinen Er¬
fahrungen sind für gewöhnliche Verhältnisse die Maasse des rheinischen
Normalformats (auch Pariser Normalformat genannt) für Hartgesteine zu¬
treffend gewählt; für weichere Gesteinsarten und namentlich bei flachgelegenen
Strassen wird man zweckmässig die Maasse durchweg um wenige Centimeter
zu erhöhen haben.
„Neben den natürlichen Pflastersteinen kommen vielfach auch künst¬
liche Steine zur Verwendung. Die Erfahrung lehrt aber, dass diese Erfin¬
dungen fast ausnahmslos nach einer Reihe von Jahren der Vergessenheit
anheimfallen, wenn sie auch mit noch so grossem Geräusch in die Welt
gesetzt wurden. Es ist eben meist ein misslich Ding, die Natur verbessern
zu wollen.
„Ueber einen künstlichen Stein, der sich in weiteren Kreisen grosser
Beliebtheit erfreut, glaube ich jedoch hier nicht mit Stillschweigen Weggehen
zu dürfen; ich meine den Schlackenstein, wie ihn beispielsweise auch die
Eislebener Gewerkschaft aus ihren Kupferschlackenrückständen herstellt.
Diese Schlackensteine haben den ausserordentlichen Vorzug, dass sie ein
durchaus gleichmässiges Format haben. In Folge dessen kann das Pflaster
tadellos hergestellt werden; die Pflasterbahn hat nahezu keine Fugen, sieht
sehr schön aus und ist nahezu geräuschlos. Das Pflaster hält sich auch
sehr gut, namentlich zeigt es kaum Nachsenkungen. Die Schlackensteine
haben aber den Nachtheil, dass sie unter dem Fussverkehr bald glatt
werden. Zwar tritt diese Erscheinung auch unter der Einwirkung des
Fuhrverkehrs ein und dies hauptsächlich bei starken Steigungen, aber lange
nicht so schnell und in so belästigender Weise, so dass die Steine für ebene
Fahrstrassen immerhin empfohlen werden können. Dass die Steine fast durch¬
weg nach längerer Zeit Windrisse bekommen, ist nach meinen Beobachtungen
nicht von Bedeutung. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass die Mans-
felder Gewerkschaft neuerdings ein Verfahren anwendet, das auf ein lang¬
sameres Abkühlen der Steine nach dem Gusse hinzielt. Die genannte Gesell¬
schaft glaubt durch dieses neue Verfahren dem Uebelstande des Glattwerdens
wirksam entgegen arbeiten zu können. Bei der Neuheit des Verfahrens
wird man erst noch länger andauernde Proben machen müssen, ehe man
zu einem abschliessenden Urtheil hierüber gelangen kann.
„Immerhin ist das Schlackensteinpflaster für gewisse Zwecke zu
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Strassenbefestigungsmaterialien und Ausführungsarten.
empfehlen, so namentlich für die Herstellung der Gossen und die Aus¬
führung schmaler Pflasterstreifen neben denselben für Radfahrerzwecke. —
„Auf die Dauer indessen genügte das Steinpflaster nicht für die Gross¬
städte. Das ungeahnte Anwachsen des Verkehrs und die dadurch oft bis
zur Unerträglichkeit gesteigerte Geräuschvermehrung zeitigte das Bedürfnis
nach sogenanntem „geräuschlosemPflaster“. Von diesen geräuschlosen
Pflastern giebt es auch wieder eine grosse Reihe von Arten. Ich glaube
mich hier im Wesentlichen auf die beiden bekanntesten Arten beschränken
zu sollen, nämlich auf das Stampfasphaltpflaster und das Holzpflaster,
die immer noch nach wie vor an der Spitze der geräuschlosen Pflasterungen
stehen.
„Der Stampfasphalt, dessen Herstellungsweise ich vorhin kurz be¬
schrieben habe, bietet zur Fahrbahnbefestigung ausserordentlich grosse Vor¬
züge: er ist undurchlässig, er ist elastisch, er kann ausserordentlich schnell
aufgebracht werden, er lässt sich vorzüglich reinigen und ist verhältniss-
mässig auch nicht sehr theuer. Das sind alles Vortheile, die sehr ins Gewicht
fallen. Indess ist leider die Anwendbarkeit des Stampfasphaltpflasters auf
ganz bestimmte Verhältnisse beschränkt, d. h. auf nahezu horizontale
Strassenstrecken. Einzelne Fachleute halten die Anwendbarkeit des Stampf¬
asphalts ohne Verkehrsstörungen noch bis zu Steigungen von 1:70, andere
dagegen nur bis zu Steigungen von 1:100 für zulässig. Diese Steigungs¬
verhältnisse (namentlich das zuletzt genannte von 1:100) sind so gering,
dass das Auge des Laien sie für horizontal halten könnte.
„Bei einer ganzen Reihe von Städten werden so flache Strassen aber
nur ausnahmsweise Vorkommen. Es kommt hinzu, dass die Zugthiere auf
dem Stampfasphalt erst laufen lernen müssen. Man kann wohl in jeder
Stadt bei Anlage der ersten Asphaltstrasse die Beobachtung machen, dass
eine förmliche Empörung wegen der zahlreichen Pferdestürze entsteht, und
dass erst nach und nach wieder Beruhigung eintritt, wenn eine grössere
Anzahl vou Strassen mit Stampfasphalt belegt sind und diese Befestigungs¬
art gleichmässig über grössere Bezirke des städtischen Strassennetzes sich
ausbreitet. Ich behaupte daher auf Grund dieser Erfahrungen und Beob¬
achtungen, dass nur diejenigen Städte überhaupt zum Stampfasphalt greifen
sollten, welche im Wesentlichen ihr ganzes Strassennetz in seiner gesammten
Ausdehnung mit wenigen Ausnahmen mit Stampfasphalt belegen können.
Es hat nach meinem Dafürhalten gar keinen Zweck, in einer Stadt, welche
auf einem hügeligen Gelände liegt, die eine oder andere Strasse mit Stampf¬
asphalt zu versehen. Da wird man aus dem Verdrusse nicht herauskommen.
Ich gestatte mir hierbei auf eine köstliche Episode hinzu weisen, die in dem
vortrefflichen plattdeutschen Buche des bekannten Rostocker Dichters John
Brinkmann: „Caspar Ohm und ick tt geschildert wird. Dort wird der Er¬
zähler von seinem Freunde Hans Holtfreter zu einer Schlittenfahrt auf der
Fischerstrasse eingeladen. Hans Holtfreter sagt: „Sone feine Bahn hest du nie
aflewt. As dat schummern würd gistern Abend, un ihre de Nachtwächters
kernen, hewt wie twee Stunn lang haben an de Pump pumpt, un aewer
Nacht is de heel Straat so blanking worden as ’n Speegel“, und fügt dann,
um seine Einladung noch verlockender erscheinen zu lassen, hinzu: „Nee,
wat dor al för Lüd’ up de Snut un den Achtersteven follen sünd, dat glöwst
10 *
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148 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
du nich“. Dasselbe würde ganz gewiss auch eintreten, wenn man die
Fischerstrasse mit Stampfasphalt belegen würde.
„Anders liegen die Verhältnisse in völlig ebenen Städten, wie beispiels¬
weise in Hannover, Berlin, Köln, Leipzig u. s. V. Dort sind so erhebliche
Flächen mit Stampfasphalt bedeckt, dass man sich sogar mit dem Huf beschlag
der Zugthiere vollständig auf den Asphalt eingerichtet hat, indem man
die gänzlich flachen Hufbeschl&ge ohne Stollen zur Verhinderung des
Gleitens der Zugthiere mit Einlagen aus 'Werg oder ähnlichen Stoffen ver¬
sehen hat.
„Es entsteht aber nun die Frage, wie boII man in hügeligen Städten
zum geräuschlosen Pflaster kommen, wenn der Stampfasphalt nicht anwend¬
bar ist? Die Antwort lautet: Man muss zum Holzpflaster übergehen.
Freilich steht das Holzpflaster dem Asphaltpflaster in mehr als einer Be¬
ziehung erheblich nach. Zunächst ist es wesentlich theurer als Stampf¬
asphalt. Denn wenn man selbst annimmt, dass gutes Holzpflaster zu dem¬
selben Preise herzustellen ist wie guter Stampfasphalt, so ist die Dauer des
Holzpflasters mit etwa 8 bis 10 Jahren ganz bedeutend geringer als die¬
jenige des Stampfasphalts mit etwa 15 bis 20 Jahren. Auch die laufende
Unterhaltung des Holzpflasters stellt sich höher als diejenige des Stampf¬
asphalts. Fernerhin lässt sich das Holzpflaster nicht so gründlich reinigen
wie das Asphaltpflaster, und endlich treten auf grösseren sonnigen Strassen-
flächen trotz aller Vorsichtsmaassregeln (wie Einlegung von Dehnungsfugen
und dergl.) leicht starke Verwerfungen der Holzdecke ein. .
„Dahingegen gestattet das Holzpflaster ohne besondere Gewöhnung der
Zugthiere die Anwendung gewisser Steigungen. Unbedenklich wird man
bei Längsgefällen der Strassen von 1:35 und wohl auch noch bei etwas
stärkeren Neigungen Holzpflaster anwenden können.
„Besonders möchte ich hierbei noch hervorheben, dass die Herstellungs¬
weise von Holzpflaster sich in den letzten Jahren, namentlich seit den Studien
des Herrn Heinrich Freese in Paris, wesentlich vervollkommnet hat.
„Man lernte es als einen Irrthum erkennen, dass man harte Holzklötze
zur Anwendung brachte und ging, entsprechend den eben besprochenen
Erfahrungen beim Steinpflaster, zu weicherem Material über, das man zur
Erzielung einer grösseren Abschleissung mit Kies bestreute. Auf diese Weise
kann man eine leidlich ebene Oberfläche auf längere Zeit hinaus erhalten.
„Ganz neuerdings freilich treten Angebote an die Stadtverwaltungen
heran, welche vorgeben, die bisherigen Erfolge der Holzpflasterung durch
Anwendung einer gewissen, sehr harten australischen Holzsorte wesentlich
übertreffen zu können. Das Holz verschleisse so zu sagen gar nicht, quelle
aber auch nicht, so dass die Fugen ganz fortgelassen werden könnten, wo¬
durch wiederum die Abstossung der Kanten und daher die Bildung runder
Köpfe verhindert wird.
„So sehr nun auch nach der bekannten Lebensregel: „Prüfet alles und
das Beste behaltet“ die Anstellung von Versuchen mit dieser neuesten,
übrigens sehr theuren Pflasterart empfohlen werden kann, ebenso lebhaft
muss davor gewarnt werden, aus den bisherigen nur wenige Jahre alten
Beobachtungen für unsere Verhältnisse vorzeitige Schlüsse zu ziehen. Die
Erfahrung hat gelehrt, dass die meisten Holzpflasterungen in den erstfen
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Strassenbefestigungsmaterialien und Ausführungsarten.
149
Jahren tadellos liegen, später aber einem immer schneller vor sich gehenden
Verfall ausgesetzt sind.
„Da ich hier in Rostock eine Strasse — die Schwaansche Strasse — mit
Gementmacadam befestigt gefunden habe, möchte ich wenigstens mit ein
paar kurzen Worten noch auf diese vor wenigen Jahren in weiteren Kreisen
bekannt gewordene Fahrbahnbefestigung eingehen. Nach meiner Beobach¬
tung hier und an anderen Orten muss ein erheblicher Nachtheil dieser
Pflasterungsart darin gefunden werden, dass der Cement ein sehr starres
Material ist, also keineswegs eine geräuschlose Pflasterbahn liefert. Be¬
sonders schwierig müssen sich aber nothwendige Pflasteraufbrüche gestalten,
ebenso Ausbesserungen, da der Cement doch mindestens zehn Tage zum
Erhärten braucht, und die Strasse also eben so lange dem Verkehr entzogen
werden muss.
„Wenn nun auch in der Herstellung der Oberfläche durch ein verändertes
Stampfverfahren neuerdings eine wesentliche Verbesserung eingetreten sein
mag, so bleiben die oben angeführten Missstände dennoch bestehen. Erwägt
man ferner noch, dass das Cementmacadampflaster keineswegs sehr billig
ist, so versteht man vollkommen die ablehnende Haltung, welche die grosse
Mehrzahl von Stadtverwaltungen dieser neuen Fahrbahnbefestigungsart
gegenüber beobachtet.
„Am Schlüsse der Betrachtungen über die Fahrbahnbefestigungen
möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine neuerdings sehr in Aufnahme
gekommene Befestigungsart lenken, die für dasselbe Geld wie der Cement-
macadam hergestellt werden kann, die nach meiner Meinung aber besser
den wirtschaftlichen, hygienischen und Verkehrsinteressen entspricht, ich
meine das zuerst durch Herrn Landesbauinspector Gravenhorst in der
Provinz Hannover zur Ausführung gekommene sogenannte „Kleinpflaster u .
„Kleinpflaster entsteht,indem man auf einer gewöhnlichen, abzuwalzenden
Packlage ein Mosaikpflaster aus grösseren Steinen auf einer dünnen Sand-
achicht ausführt, d. h. indem man die sogenannte Decklage der üblichen
Ghanssirung durch ein grobes Mosaikpflaster (sogenannter Doppelmosaik)
ersetzt. Man hat mit dieser Pflasterart namentlich in den westlichen
Provinzen bedeutende Erfolge erzielt und zwar nicht nur bei Landstrassen,
sondern auch bei städtischen Strassen. Es sind grosse Verkehrsstrassen
mit Kleinpflaster versehen worden, und zwar, wie gesagt, mit dem besten
Erfolge. Ich möchte nicht sagen, dass das Kleinpflaster auf den allerersten
Verkehrsstrassen einer grösseren Stadt angewendet werden solle. Diese
grossen Hauptgeschäfts- und Verkehrsstrassen sind es übrigens gar nicht,
die dem Strassenbauer Sorge machen. An ihnen wohnen in der Regel die
kräftigsten Steuerzahler und die Grundstückspreise sind derart hoch, dass
sich reichlichere Aufwendungen für diese Hauptgeschäfts- und Verkehrs¬
strassen von selbst rechtfertigen. Die brennende Pflasterfrage besteht nach
meinem Dafürhalten mehr für die Nebenstrassen, ganz besonders für die
stillen Wohnstrassen. In erster Linie handelt es sich darum, für diese eine
geeignete Strassenbefestigungsart zu Anden, welche wohlfeil ist, trotzdem
aber die genügende Dauer hat und den hygienischen sowie sonstigen An¬
forderungen entspricht. Ich habe die Ueberzeugung, dass gerade das Klein¬
pflaster berufen ist, im Zusammenhänge mit der oben so sehr empfohlenen
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150 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Verschmälerung der Fahrdämme auf das zulässige Mindestmaass, dazu bei¬
zutragen, die Strassenbaukosten für die Wohnstrassen und damit die Bau-
stellenwerthe und die Miethen herabzudrücken.
„Schliesslich sei noch erwähnt, dass das Kleinpflaster verhältnissmässig
wenig geräuschvoll ist, sich sehr gut reinigen und ausbessern lässt, sowie
gut und sauber aussieht.
„Es bedarf wohl nicht der besonderen Betonung dafür, dass durch
eine gute Strassenbefestigung allein noch kein den hygienischen und
Verkehrsinteressen genügender Zustand der städtischen Strassen herbei¬
geführt wird. Hierzu gehört unbedingt noch eine zweckmässige Strassen-
reinigung. Beides, Strassenbau und Strassenunterhaltung, sowie die
Strassenreinigung steht in innigem Zusammenhang mit einander. Wenn
man das schönste, beste Pflaster hat und reinigt es nicht, so bildet sich
Schmutz, und es entstehen schlüpfrige Stellen, die Pferde sind gezwungen,
von ihren Hufen kräftig Gebrauch zu machen und zerstören dadurch auch
das vorzüglichste Material sehr bald. Indess dies näher auszuführen, ist
Sache meines Herrn Mitreferenten; ich komme daher zum Schlüsse. Da
möchte ich Ihnen noch sagen, dass neben den hier behandelten hygienischen
und wirthschaftlichen Gründen, welche dafür sprechen, der Pflasterfrage in
den Städten die volle Aufmerksamkeit zuzuwenden, auch noch ein weiteres
wichtiges Moment vorhanden ist, und zwar liegt dies auf ästhetischem
Gebiete. Wohl Jedem, der aus einem Bahnhofe eine neue Stadt betritt,
fällt zu allererst der Zustand ins Auge, in dem sich das Strassenpflaster
befindet. Aus diesem Zustande macht er unwillkürlich Schlüsse auf die
Verhältnisse der Stadt im Allgemeinen, aus ihm bildet er sich zum guten
Theil den so überaus wichtigen „ersten Eindruck“. Es giebt natürlich auch
hier, wie in allen Dingen, Ausnahmen und vor Allem nehme ich die schöne
Stadt, in der wir hier tagen, von der allgemeinen Regel aus. Im Allgemeinen
kann man aber gewiss sagen, dass das Pflaster so eine Art von Aushänge¬
schild für die ganze Stadt ist, und der alte Schopenhauer hat mit seinem
bekannten Worte in Beinern Werke Parerga und Paralipomena durchaus
recht, wenn er sagt: Eine Stadt, welche schlechtes Strassenpflaster hat,
dafür aber eine ganze Menge schöner Gebäude, Monumente, Springbrunnen
und dergl. aufweist, die käme ihm vor wie eine Frau, welche sich mit
Diamanten und sonstigen Schmucksachen behinge, dabei aber ein schmutziges,
zerrissenes Kleid anhätte. Wir alle hier, die wir berufen sind, für unsere
Städte zu sorgen, müssen also auch ganz entschieden für die Beschaffung
der nöthigen Garderobe eintreten. Der Herr Oberbürgermeister unserer
gastlichen Stadt hat ja die nöthigen Anschaffungen nach dieser Richtung
hin sogar schon für morgen zugesagt. So schnell braucht es ja am Ende
nicht zu gehen, aber ich glaube, man muss in der Tbat mit aller Energie
dafür sorgen, dass diese von dem Pessimisten Schopenhauer geschilderte
Frau, die der deutschen Eigenart und dem deutschen Wesen so ganz und
gar nicht entspricht, anständig gekleidet wird, und dass man daher so lange
an die Stadtverordneten wegen Geldbewilligung herantreten muss, bis man
Gehör findet, genau so wie es jede gute deutsche Hausfrau macht, die bei
jedem Saisonwechsel ihrem ahnungslosen Ehegemahl die ebenso überraschende
wie betrübende Entdeckung mittheilt: „Mann, ich habe nichts anzuziehen.“
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Strassenbefeßtigungsmaterialien und Ausfirhrungearten. 151
Correferent, Priyatdocent Dr. Th. Weyl (Charlottenburg): „Meine
Damen und Herren! Meine Aufgabe ist es im Wesentlichen, die hygieni¬
schen Gesichtspunkte zu beleuchten, welche bei Herstellung von Strassen-
befestigungen in Frage kommen. Vollständig aber wird sich ein Eingehen
auf die technischen Fragen nicht vermeiden lassen, wie dies natürlich ist, wenn
ein Capitel aus der öffentlichen Gesundheitspflege zur Discussion steht, bei
dem der Ausgestaltung der Technik ein so wesentlicher Antheil zufällt.
„Die Leitsätze 5 bis 10 sind es, welche ich zu vertheidigen habe:
„Ich gestatte mir, zunächst auf den Leitsatz 5 einzugehen: Die¬
jenigen Strassenbefestigungen sind die besten, welche sich am
wenigsten abnutzen. Durch die Abnutzung des Pflasters entsteht der
Strassenstaub, dessen Schädlichkeit ja jetzt im Grossen und Ganzen allgemein
anerkannt ist. Die feinen Staubtheilchen verbreiten sich in der Luft,
dringen durch die Oeffnungen des Körpers in diesen ein und bringen unter
Umständen schädliche Keime mit sich. Man hat im Strassenstaub und im
Strassenschmutz eine grosse Reihe solcher schädlichen Keime gefunden, aus
der ich nur die Erreger der Tuberculose, des Starrkrampfs, der Eiterungen
und Wundinfectionskrankheiten, die Erreger der Lungenentzündung hervor¬
heben will.
„Aber der Strassenstaub wirkt nicht nur infectiös, er wirkt vielmehr
auch auf mechanischem Wege schädigend. Es ist ja durch mikroskopische
Untersuchung der verschiedenen Staubarten ermittelt worden, dass diese
mit mehr oder weniger spitzen Fortsätzen versehen sind. Diese Fortsätze
bohren sich in die Schleimhaut von Nase und Mund ein, und nach den zur
Zeit herrschenden Theorieen, welche gut begründet scheinen, ist es nicht
mehr zweifelhaft, dass sich in diesen feinsten Rissen und Wunden nun jene
Krankheitserreger ansiedeln können, von denen oben die Rede war. Hier¬
nach ist also die These wohl begründet, dass mit Rücksicht auf die hygieni¬
schen Anforderungen für eine möglichst geringe Abnutzung des Pflasters
gesorgt werden sollte.
„Was nun das Geräusch in den Strassen anbetrifft (Leitsatz 5b),
so wird derjenige, der Ruhe sucht, mit Vorliebe solche Strassen aufsuchen,
die ein geräuschloses Pflaster besitzen. Geräuschlos sind aber, wenn
man von dem wegen seiner Staubentwickelung unbrauchbaren Macadam
absieht, nur zwei Pflasterarten: das Holz- und das Asphaltpflaster.
Ueber beide Pflasterarten gestatten Sie mir einige Bemerkungen. In Paris
hat man nach englischem Vorbilde namentlich die grossen Boulevards und
einige andere lebhafte Verkehrsstrassen früher ausschliesslich mit Holz¬
pflaster belegt, und die daselbst mit der Legung des Holzpflasters gemachten
Erfahrungen sind ja auch für die deutschen Städte maassgebend gewesen.
Es scheint nun aber — es wird mir das auch von maassgebenden französi¬
schen Ingenieuren bestätigt —, als wenn das Holzpflaster in Paris in der
Abnahme begriffen sei, als wenn man jetzt die grossen Verkehrsstrassen
nicht mehr wie bisher mit Holz belegt, sondern sich dem Asphalt zuwendet,
und zwar, wie mir in einer für Deutschland sehr schmeichelhaften Weise
gesagt wurde, nach dem Vorbilde grosser deutscher Städte; besonders wurden
mir Hannover und Berlin genannt.
„Der Grund, aus welchem der Gebrauch des Holzpflasters in Paris im
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152 XXYI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Abnehmen begriffen ist, soll hauptsächlich darin liegen, dass die hierfür
brauchbaren Holzbestände nahezu aufgebraucht sind. Paris benutzt nämlich
hierfür Hölzer, die aus Südfrankreich kommen. Offenbar hat man dort eine
Art Ton Raubbau getrieben, der sich jetzt schwer rächt.
„Der Hygieniker hat das Bestreben, möglichst überall, namentlich aber
in allen Wohnstrassen, ein geräuschloses Pflaster eingeführt zu sehen,
und hier würden nun die Herren Techniker das entscheidende Votum
darüber abzugeben haben, ob sie das Asphalt- oder ob sie das Holzpflaster
vorziehen. Leider lässt sich in Strassen mit grossen Steigungen weder
Asphalt noch Holz anwenden, so dass wir in solchen Fällen auf das Stein¬
pflaster zurückkommen müssen.
„Die Reinigung der Strassen wird am einfachsten sich vollziehen,
wenn die Oberfläche möglichst glatt ist. Dieser Bedingung genügen nur
zwei Pflasterarten, nämlich erstens das Asphaltpflaster und zweitens das
Steinpflaster, dessen Fugen man mit Asphalt oder mit Cement ausgegossen
hat; alle anderen Pflasterarten, namentlich Macadam und Holzpflaster, lassen
sich besonders bei feuchtem Wetter nur sehr schwer reinigen. Es könnte
auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, wenn ich behaupte, das Holz¬
pflaster lasse sich schwer reinigen. Aber wenn man die zur Reinigung be¬
stimmten Maschinen etwas näher ins Auge fasst, so überzeugt man sich sehr
schnell davon, dass der Druck der Walze und der Bürsten ein starker
sein muss, um seinen Zweck zu erfüllen. Es wird jedesmal, wenn
eine Walze über den Holzwürfel streicht, etwas von der Oberfläche fort¬
genommen. Nach jeder gründlichen Reinigung sieht daher das Holzpflaster
rauh aus. Es ist das vom hygienischen Standpunkt aus jedenfalls kein
Vortheil.
„Nun soll das Pflaster, vom hygienischen Standpunkt aus betrachtet,
ein solches sein, dass der Untergrund nicht verunreinigt wird
(These 5 c). Diese Anforderung wird von den Technikern jetzt allgemein
anerkannt, und ich kann daher darüber hinweggehen. Ich möchte nur noch
eine Beobachtung anführen, die ich ganz vor Kurzem gemacht habe; sie
bezieht sich auf überschwemmt gewesene Reitwege. Meiner Ueberzeugung
nach gehören Reitwege in die innere Stadt nicht hinein, höchstens in die
grossen Pracht - und Promenadenstrassen. Der Reiter ist ein privi-
legirtes Wesen, welches den Verkehr in den Strassen eher stört als be¬
günstigt Wenn er reiten will, mag er das ausserhalb der Stadt thun.
Es scheint mir desshalb geboten, die Reitwege innerhalb der Stadt, mit Aus¬
nahme der in den grossen Pracht- und Promenadenstrassen befindlichen,
aufzuheben. Ich habe neulich beobachtet, dass nach einem anhaltenden,
8 bis 10 Stunden währenden Regen gewisse Reitwege Berlins überschwemmt
waren und für mehrere Tage überschwemmt blieben. Diese Reitwege be¬
sitzen jedenfalls keine Entwässerungseinrichtungen. In der Nähe dieser
Reitwege roch es greulich. Jeder Fussgänger wurde mit Schmutz über¬
schüttet, wenn etwa ein Reiter den Reitweg benutzte. Aus diesem Grunde
möchte ich befürworten, dass alle Reitwege innerhalb der Städte mit
guten Entwässerungseinrichtungen zu versehen sind.
„Die These 6 handelt von den auf der Strassenoberfläche befindlichen
Keimen. Um sie zu beseitigen, hat man wohl davon gesprochen, die Strassen-
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Strassenbefestigungsmaterialien und Ausführungearten. 153
Oberfläche zn desinficiren, wie dieses in manchen Städten, regelmässig in
London, z. B. in den grossen Hanptstrassen Oxford Street und Piccadilly,
geschieht. Aber derjenige, der sich etwas näher mit dem Gegenstand be¬
schäftigt, kommt sehr schnell zu der Ueberzeugung, dass mit dieser so¬
genannten Desinfection der Strassenoberfläche dem Publicum Sand in die
Augen gestreut wird. Die Desinfection der Strassenoberfläche ist ja möglich.
Kaum ist aber die Desinfection erfolgt, so tritt durch den Verkehr stets
?on Neuem Infection ein, und die Desinfection musste nach sehr kurzer Zeit
wiederholt werden. Dies lässt sich natürlich kaum durchfuhren, weil der Ver¬
kehr bei jeder Desinfection gestört würde. Aber auch auf die Kosten wäre
Rücksicht zu nehmen. Die billigsten Desinfectionsmittel wären Kalk und
verdünnte Säuren. Nun, der Kalk wird die Strassenoberfläche in keiner
Weise verschönern; eine solche mit Kalk desinficirte Strasse wird keinen
erfreulichen Anblick darbieten. Säuren werden wir zur Desinfection der
Strassenoberfläche nicht anwenden können, weil diese die Hufe der Thiere,
die Sohlen und Kleider der Passanten angreifen. Die Anwendung der
Carbolsäure, selbst der rohen Carbolsäure verbietet sich durch den hohen
Preis dieser Präparate wohl von selbst. Die beste Desinfections-
methode für Strassen besteht meiner Meinung nach in einer aus¬
giebigen Benutzung von Wasser, also in häufigen Strassenspülungen.
„In vielen Städten werden die Droschkenhalteplätze regelmässig
desinficirt. Ich halte dies für absolut entbehrlich. Eine wirkliche Des¬
infection der Strassen, also unter Anwendung wirklicher Desinfectionsmittel,
wird nöthig werden, wenn etwa ein Mensch oder ein Thier auf der Strasse
zusammengebrochen ist, wenn der Leichnam eine gewisse Zeit lang liegen
geblieben ist, und wenn hierbei die Strasse durch Eiter, Blut, Fäcalien
verunreinigt wurde. Was will man sonst eigentlich desinficiren? Die Pferde
sind doch nicht krank. Offenbar hat man hier Desinfection und Reinlich¬
keit verwechselt. In der Nähe von Droschkenhalteplätzen riecht es aus er¬
klärlichen Gründen. Den unangenehmen Geruch beseitigt man durch regel¬
mässiges Spülen mit Wasser und die Ausgaben für das Carboistreupulver
sind entbehrlich. Dieses Präparat besteht in reinerem Zustande aus
Carbolkalk und wird nach der Intensität der rothen Farbe verkauft.
Die Rothfärbung kommt bekanntlich dadurch zu Stande, dass Sauerstoff,
d. h. Luft auf den Carbolkalk einwirkt. Aber es giebt ein einfacheres
Mittel, das Streupulver schnell roth zu färben, und zwar mit Hülfe irgend
eines rothen Farbstoffes. Mit Vorliebe werden hierzu arsenhaltige Fuchsine
benutzt! Also höchstens in Zeiten von Epidemieen sollte man an
eine wirkliche Desinfection von Droschkenhalteplätzen denken.
„These 5 c fordert eine undurchlässige Strassenbefestigung, damit der
Untergrund nicht verunreinigt werden könne. Diese Anforderung wird
kaum bestritten. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass ein un¬
durchlässiges Strassenpflaster nur für gut entwässerte Strassen brauchbar
ist. Nun findet man bisweilen, namentlich in kleinen Gemeinden, Strassen-
oberflächen, welche zwar undurchlässig hergestellt wurden, aber ungenügende
Entwässerung besitzen. Wenn es dann stark regnet, so bleibt das Regen-
wa88er lange stehen. Es verhindert den Verkehr oder erschwert ihn wenig¬
stens, es geht sogar in Fäulniss über und verbreitet einen unangenehmen
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154 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Geruch. Wenn also nicht für Entwässerung gesorgt wird, ist
eine undurchlässigeStrassenoberfläche ein verhängnissvoller
Fehler.
„In These 6 ist gesagt, dass die Zahl und Art der auf der
Strassenoberfläche befindlichen Keime nicht in Betracht kommt.
Wenn wir die Absicht haben, die Bacterien, weil sie Krankheit erregen
können, von der Strassenoberfläche zu beseitigen, so können wir nicht
individualisiren, indem wir das eine Bacterium am Leben lassen, das andere
aber abtödten.
„Unser Ziel erreichen wir dadurch am leichtesten, dass wir — wie dieses
bereits oben gesagt ist — die Strasse kräftig mit Wasser abspülen und das
Spülwasser unschädlich, d. h. durch Canalisation abführen. Namentlich
aber ist der Staub auf den Strassen niederzuhalten und für die staubfreie
Aufsammlung und Abfuhr des Strassenschmutzes Sorge zu tragen.
„Ich komme nunmehr zu Leitsatz Nr. 7, welcher von den Methoden
der Strassenreinigung handelt. Glücklicher Weise sind für die grösseren
Städte die Zeiten so ziemlich vorüber, wo man die Strassenreinigung mit
dem Besen in der Hand besorgte. Fast überall ist die Handarbeit durch
Maschinenarbeit ersetzt worden, seitdem die Kehrmaschinen in den Handel
kamen. Diese Maschinen ersparen Arbeitskräfte und reinigen die Strassen
schnell und gründlich. Leider aber wirbeln sie Staub auf etwa wie eine
Schwadron, wenn sie einen trockenen Landweg benutzt. Das Vergnügen,
einen solchen Staub einzuathmen, konnte man sogar in der Hauptstadt des
Deutschen Reiches bis vor etwa fünf Jahren z. B. Abends in der Potsdamer
Strasse gemessen. Erst einer sehr lebhaften Agitation gelang es, diesem Unfug
zu steuern, den man vom hygienischen Standpunkte aus als einen groben
bezeichnen musste. Heute sind diese sogenannten trockenen Kehrmaschinen
in den meisten Städten nur dann noch im Gebrauch oder sollten wenigstens
nur dann im Gebrauch sein, wenn die Strassenoberfläche kurz vorher an¬
gefeuchtet ist. Dann sind sie durchaus an ihrem Platze, dann kehren sie
den feuchten Strassenschmutz zusammen, ohne Staub zu verursachen.
„Nun hat man aber einen weiteren Fortschritt gemacht. Man hat
nämlich — wenn ich nicht irre, zunächst in Amerika — Maschinen con-
struirt, welche das Sprengen und das Kehren gleichzeitig
besorgen. In Deutschland ist es die Firma Henschel in Berlin gewesen,
welche zum ersten Mal eine unseren Anforderungen genügende Maschine in
den Handel brachte. Ich habe vor ein paar Jahren mit dieser Maschine
experimentirt, und da hat sich herausgestellt, dass dieselbe auf Asphalt¬
pflaster ganz ausgezeichnete Resultate zeitigte. Durch diese auf der Char¬
lottenburger Chaussee und in der Berlinerstrasse vorgenommenen Versuche
wurde festgestellt, dass der Strassenschmutz in musterhafter Weise von der
Maschine zusammengekehrt wurde, und zwar in Gestalt eines einzigen
Häufchens, welches parallel der Bordschwelle lag. Ich habe gesehen, daBS
die Walze ihre Pflicht that, auch da, wo Vertiefungen vorhanden waren,
namentlich solche Vertiefungen, die durch die Anlage des damaligen Pferde¬
bahngeleises, jetzigen elektrischen Geleises, hervorgerufen waren. Ich habe
mich oft davon überzeugen können, dass diese Maschine Kraft genug besass,
kleine Steine — etwa von Faustgrösse — aus der Fahrbahn fortzuschaffen-
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155
StrassenbefestiguDgsmaterialien and Ausführungsarten.
Der Verkehr wird durch die Maschine kaum beeinträchtigt. Ich kann hier¬
nach die Maschine von Henschel bestens empfehlen.
„Aber auch hierbeij ist die Technik glücklicher Weise nicht stehen
geblieben. Es war noch ein sehr wichtiges Problem zu lösen und dasselbe
ißt zuerst in Amerika gelöst worden, das Problem nämlich, eine Maschine
zu bauen, welche gleichzeitig drei Maschinen ersetzt: erstens
sprengt, zweitens kehrt und drittens den Kehricht aufsammelt.
Auf die Construction der amerikanischen Maschinen möchte ich nicht näher
eingehen. Sie sind zum Theil recht verwickelt und lassen sich kaum ohne
grössere Wandtafeln hier demonstriren. Dagegen habe ich die Freude,
hier mittheilen zu dürfen, dass eine solche Kehrmaschine, die wohl vielen
Herren bereits bekannt ist, nun auch in Deutschland erfolgreich her¬
gestellt und von einer Gesellschaft in Düsseldorf in den Handel gebracht wird.
Die Maschine heisst Salus (Abbildungen s. umstehend), und ich glaube,
sie verdient ihren Namen mit Recht. Ich hatte Gelegenheit, mit dieser
Maschine auf dem Kurfürsten dämm zu Berlin und den angrenzenden Strassen
zu experimentiren. Die verehrten Anwesenden kennen wohl alle den Kur¬
fürstendamm und wissen, dass sich seine beiden Seiten wie Tag und Nacht
von einander unterscheiden. Auf der einen Seite liegt ein ausgezeichnetes
Pflaster und auf der anderen Seite das Gegentheil davon. Ich suchte mir
die Seite mit dem Gegentheil aus. Auf dieser Seite also wurden die Ver¬
suche angestellt. Wir fuhren ungefähr einen halben Kilometer.geradeaus.
Es war zufällig dieser Theil des Kurfürstendammes vor kurzer Zeit, eine
halbe Stunde vorher, gesprengt worden. Wir hatten also nicht nöthig, die
Sprengvorrichtung in Gang zu setzen. Die Maschine arbeitete zu voller
Zufriedenheit. Sie wurde von zwei Pferden gezogen, ein Kutscher sass auf
dem Bock, eine andere Bedienung war nicht nöthig. Die Maschine kehrte
den Unrath zusammen, lud ihn durch ein Becherwerk, welches in sehr
genialer Weise mit dem Räderwerk der Maschine verbunden ist, auf und
beförderte den Schmutz in einen angehängten Wagen. Nachdem diese Ver¬
suche auf dem Kurfürsten dämm bo gut geglückt waren, bogen wir in die
Seitenstrassen ein, und zwar auf Wilmersdorfer Gebiet. Diese Strassen
haben zum Theil ein schlechtes Pflaster, und können ein solches vertragen,
weil in ihnen verhältnissmässig wenig Verkehr herrscht. Die Strassen-
oberflache ist an einzelnen Stellen tief eingesunken. In diese Vertiefungen
legten wir Steine, um zu sehen, ob die Maschine aus diesen Vertiefungen
die Steine herauszuheben und in den Anhängewagen zu schaffen vermochte.
Derartige Versuche waren erfolgreich. Kleine sowohl wie grössere Steine
wurden aufgeladen. Das beweist nichts anderes, als dass die Bürsten Ac-
commodationsvermögen genug besassen, um auch auf einer unebenen Strassen-
oberfläche ihre Pflicht zu thun. Selbstverständlich wurden neben diesen
Gewaltproben auch weniger gewaltthätige Experimente gemacht.
„Auf Grund meiner Versuche, die ich an einem anderen Orte ausführ¬
licher geschildert habe 1 ), kann ich dieser Maschine nur eine gute Zukunft
prognosticiren. Sie hat gewiss noch kleine Mängel: Sie ist ein bisschen zu
lang, es ist daher nicht ganz einfach, um eine stark belebte Ecke mit ihr
l ) Th. Weyl, Fortschritte der Strassenhygiene, I. Heft. Jena, Gustav Fischer, 1901.
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156 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
herumzufahren, und dem grossen Gewirr von Wagen, Fussgängern und von
Strassenbahnwagen auszuweichen; aber im Grossen und Ganzen scheint die
Maschine Vortreffliches zu leisten, wie dieses auch durch die goldene Medaille
anerkannt wurde, welche die Maschine auf der letzten Ausstellung für Feuer¬
schutz und Feuerrettungswesen davontrug.
„Vorstehende Erörterungen werden, wie ich hoffe, gezeigt
haben, dass die Zeit der trockenen Kehrmaschinen vorüber ist.
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• •, u 1 z Air.-et von ;■* v r«:• s• -noh»• rflä*'; 1 1 <. al-laiirt. So vurdmi t* ••:: U Uim*-
v ,• • .*!-i«Art. sie ^er«i» n pis Iv->!V». . als k«/A« . »/ rr J( K> f il,' kt-
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_■ : ••tu:. I!; r .liirnh ist w«-nie-tens das Kin«* « rr« ht, «lass di«* Gemii>;.*al)t*iil«?
i. • i• i:: ! ■ i - v.ii l>isin r V.-rstouiUn.ir«*!! d« r (ainale erzeui»*- n.
..I nder den l.v*itsatz 10 kann ich, wn* n*li olaude, m kr kurz lnnwim-
!«•';!! dj** fk str« !»uueei) J den S ol)]; e«* d a d u ro *. zn k> 'dtij'. n, das,
‘O Ul ; i. I. ' ! «]«U 1! r.uptr.tädteli «*utv.'eder in d.n Fj u - s . , . ■; i ■■
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Straesenbefestigungsmaterialien und Ausführungsarten. 157
„Im Anschluss an die Besprengung der Strassen mit Wasser möchte ich
noch mit wenigen Worten die These 8 erörtern. Der Amerikaner White
hat, wie ich dem Technischen Gemeindeblatt III, 383 entnehme, eine aus
lehmigem Kies hergestellte Strassenbedeckung mit Eohpetroleum besprengt
und hierbei eine vollkommen staubfreie Strasse erhalten. Die Versuche
wurden in Rio (Californien) ausgeführt. Der lehmige Kies, der als Oelsand
bezeichnet wird, ist ein verwitterter Oelsandstein. Vielleicht wird er durch
diesen Gehalt an Oel, also an Rohpetroleum, zur Aufnahme von Petroleum
besonders geeignet.
„Soweit das Technische Gemeindeblatt. Es lässt sich wohl schwer
beurtheilen, ob diese Versuche für unsere Verhältnisse brauchbar sind.
Dieses scheint mir jedoch immerhin möglich, und ich möchte desshalb die
maassgebenden Herren bitten, auch ihrerseits einen Versuch zu machen. Das
Rohpetroleum ist ja relativ billig. Es wäre denkbar, dass man auch gewisse
Petroleumrückstände — ich meine den Masut —, der auch bei uns als
Brennstoff für Industriefeuerungen benutzt wird, für den angegebenen
Zweck verwenden könnte.
„Ich komme nun zu dem Leitsatz 9: Man solle den Kehricht nicht
in die städtischen Canäle, in die Siele werfen. In Deutschland wird
diese These kaum auf Widerspruch stossen. Ganz anders in Paris. Die Pariser,
die für tout ä Vigout schwärmen, haben sich nämlich vorgestellt, sobald
nur die Strassen von -Canälen durchzogen sind, und sobald für diese Canäle
eine geeignete Vorfluth geschaffen ist, könne man allen Unrath, also nament¬
lich den Strassenschmutz, direct in die Canäle werfen. Man beginnt aber
seit einiger Zeit auch in Paris einzusehen, wie unrationell dieses Verfahren
ist. Man muss ja den Schmutz aus den Canälen wieder herausschaffen, damit
sie sich nicht, verstopfen. Und die Kosten dieser Canalreinigung sind jeden¬
falls nicht geringer als diejenigen, welche entstehen, wenn man den Strassen¬
schmutz direct von der Strassenoberfläche abführt. So wurden denn Gullies
von besonderer Art, sie werden als Körbe, als bouches ä corbeille be¬
zeichnet, eingeführt und in der Nähe der Markthallen in die Canäle ein¬
gebaut. Hierdurch ist wenigstens das Eine erreicht, dass die Gemüseabfälle
nicht mehr wie bisher Verstopfungen der Canäle erzeugen.
„Ueber den Leitsatz 10 kann ich, wie ich glaube, sehr kurz hinweg¬
gehen. Denn die Bestrebungen, den Schnee dadurch zu beseitigen, dass
man ihn in den Hauptstädten entweder in den Fluss oder in die
Canäle wirft — diese Bestrebungen haben mit einem vollen Siege der
Agitatoren geendet. Ich besinne mich noch, dass mir vor einigen Jahren, als
in Berlin von diesen Dingen zuerst die Rede war, von allen Seiten Einwendungen
gemacht wurden. Da sagte man, die Berliner Entwässerung unterscheide sich
von der anderer Städte dadurch, dass sie nur wenige zusammengefasste
Canäle besitze. Die Spree solle nicht im Stande sein, die Schneemassen fort¬
zuführen. Auch die Ministerialbaucommission mischte sich ein, als die
städtischen Behörden den Schnee von den Brücken direct in den Fluss
warfen. Man fürchtete offenbar, dass mit dem Schnee allzu viel Schmutz in
die Spree gelange, der durch Baggerung beseitigt werden muss. Jetzt haben
sich die Meinungen geklärt. Es wird in Zukunft nicht mehr verboten sein,
frisch gefallenen Schnee von der Brücke aus in den Fluss zu werfen oder
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158 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
den Canälen zu übergeben. Nach dem Vorbilde von London, Paris und
Brüssel sind Schneeschächte in Köln, in München, in Stuttgart, in Zwickau i. S.,
in Charlottenburg und gewiss noch in vielen anderen Städten angelegt
worden. Ich zweifle nicht, dass diese billige und zweckentsprechende Art
der Schneebeseitigung sich überall Eingang verschaffen wird. Mir wenigstens
ist kein besseres, schnelleres und billigeres Mittel bekannt, die Strassen und
Plätze vom Schnee zu befreien als durch Einwurf in die Canäle oder Flüsse 1 ).
„Soviel wollte ich mir gestatten, hier im Anschluss an die gedruckten
Leitsätze vorzutragen. Wenn nicht alles täuscht, sind die Bestrebungen auf
dem Gebiete der Strassenhygiene in Deutschland von Erfolg gekrönt. Trotz¬
dem bleiben noch manche Verbesserungen zu erstreben. Denn auch hier
gilt das Goethe’sche Wort: Uns bleibt ein Erdenrest zu tragen, pein¬
lich, und wär er von Asbest, er ist nicht reinlich.“
Hierauf eröffnet der Vorsitzende die Discussion.
Stadtbaurath V. Scholtz (Breslau) theilt in Anlehnung an die von
dem Referenten angeführte Thatsache, dass die Staubbildung bei den ver¬
schiedenen Befestigungsmaterialien verschieden sei, mit, dass er bestrebt
gewesen sei, diese Verschiedenheiten durch Versuche festzustellen, und zwar
durch directe Messungen. In letzter Zeit seien z. B. Klagen über die Staub¬
bildung auf Asphaltstrassen besonders laut geworden, es werde namentlich
über starke Staubbelästigung in Gesichtshöhe geklagt. Die bisher ange¬
wandten Mittel zur Staubbeseitigung auf dem Asphalt seien noch etwas
unvollkommen: man besprenge den Asphalt zu diesem Zweck mit Wasser,
das aber, da der Asphalt es nicht aufnehme, sehr rasch verdunste, so dass
der Erfolg nur von kurzer Dauer sei. Ausserdem verursache das auf den
Asphalt gegossene Wasser ein Schlüpfrigwerden desselben, so dass man ge¬
zwungen sei, nach dem Reinigen Sand zu streuen, wodurch dann wieder die
Staubbildung wesentlich vermehrt werde.
Ob und wieweit diese Beschwerden über Staubbildung begründet seien,
das habe er durch directe Messungen feststellen wollen. Er habe zu dem
Zweck das hygienische Institut der Breslauer Universität ersucht, Staub¬
messungen unter gleichen Verhältnissen in verschieden befestigten Strassen
vorzunehmen. Dabei habe sich herausgestellt, dass derartige Messungen
des Staubes in der Luft nach den bisherigen Methoden sehr schwer aus¬
zuführen seien, so dass die in Breslau angestellten Versuche zu einem
positiven Resultate zunächst nicht geführt haben. "
Die verschiedenen Methoden, die zur Staubbestimmung in der Luft bis¬
her angewandt wurden, seien in neuester Zeit von Herrn Dr. Arens am
hygienischen Institut in Würzburg beschrieben worden, der auch umfang¬
reiche Messungen über den Staub in der Luft vorgenommen habe. Die
älteste Methode der Bestimmung beruhe ja auf der Einführung eines Licht¬
strahls in einen dunkeln Raum, durch welchen die einzelnen Staubpartikel
l ) Nach den in Wien gemachten Erfahrungen kostet die Beseitigung von
1 cbm Schnee durch Schmelzen 1 Krone 10 Heller, durch Abfuhr 95 Heller,
durch Einwurf in die Canäle 35 Heller. Yergl. Schneider in Assanirung von
Wien. Das Buch erscheint demnächst bei W. Engelmann in Leipzig.
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Strassenbefestigungsmaterialien und Ausfüh rungsarten. 159
beleuchtet werden; diese einzelnen Staubpartikel solle man dann zählen.
Das sei natürlich eine sehr unvollkommene Methode. Etwas vollkommener
sei die Methode, die staubige Luft in einem Kolben zu sammeln, welcher
auch etwas Wasser enthalte; verdünne man die in dem Kolben enthaltene
Luft, so verdunste das Wasser und schlage sich auf den Staubpartikelchen
nieder, was diese vergrössere, wodurch dann die Auszählung erleichtert
werde. Aber auch hierbei könne man nur sehr geringe Luftmengen messen,
und die Ergebnisse seien unvollkommen.
Später habe man die Luft durch kleine communicirende U-fÖrmig ge¬
bogene Röhrchen geleitet, die mit destillirtem Wasser gefüllt seien; nachdem
eine bestimmte Luftmenge durchgeleitet sei, werde das Wasser verdampft und
die Rückstände gewogen. Doch auch diese Methode sei ziemlich umständlich,
und auch mit ihr könne man nur verhältnissmässig geringe Mengen Luft
untersuchen. Dann habe man das Wasser durch Filterwatte ersetzt, aus
welcher man dann durch die Gewichtszunahme die Staubmengen bestimmt
habe. Are ns mache seine neuesten Beobachtungen mit einem Cylinder, der
mit einer Fettmasse bestrichen sei. Werde nun die Geschwindigkeit der
Luft durch einen Windmesser in unmittelbarer Nähe dieses Cylinders
gemessen, so lasse sich die Luftmenge bestimmen, die an diesem Cylinder
vorbeigestrichen sei, und durch Filtration der Fettmasse könne man dann
die Staubtheile ausscheiden und wiegen.
In ähnlicher Weise seien die Beobachtungen in Breslau durch das
hygienische Institut ausgeführt worden. Aber auch diese Versuche haben
zu einem positiven Ergebniss nicht geführt. Es sei zu hoffen, dass durch
fortgesetzte Bemühungen es gelingen werde, die Staubmessungsmethoden zu
vervollkommnen, so dass man dann auf Grund vergleichbarer Messungen
zu einem positiven Resultate gelange.
Die Erfahrungen über die verschiedenen Materialien zur Fussweg-
befestigung, die der Referent mitgetheilt habe, wolle er auf Grund posi¬
tiver Beobachtungen ergänzen, die er während etwa 15 Jahren Gelegenheit
gehabt habe, anzustellen. Wenn der Herr Referent die Befestigung derFusswege
mit Asphalt gelobt habe, so treffe dies bei einem mittleren Verkehr zu, bei
einem sehr starken Verkehr dagegen sei die Abnutzung des Asphalts eine
zu grosse. Er habe Gelegenheit gehabt, bei einem 2*50 m breiten Bürger¬
steig einer sehr stark begangenen Brücke der Reihe üach die verschiedenen
Materialien auszuprobiren: Gussasphalt sei nach drei bis vier Jahren so abge¬
laufen gewesen, dass er habe beseitigt oder erneuert werden müssen; mit einer
comprimirten Asphaltschicht von 3 cm Stärke belegte Platten seien nach
zwei Jahren vollständig abgelaufen gewesen, so dass die Betonunterlage zu
Tage getreten sei, die dem Verkehr viel besser widerstanden habe, wie die
obere Asphaltlage. Dies habe dazu geführt, später lediglich Cementplatten
auf den Brücken zu verlegen, und zwar möglichst vorher hergestellte, gut
erhärtete Betonplatten, in die entweder Granit-, Grünstein- oder auch Basalt¬
stücke eingestanzt, und die dann glatt geschliffen worden seien. Mit diesen
Platten habe man seit etwa sechs Jahren sehr gute Erfahrungen gemacht; wirth-
schaftlich sei diese Befestigungsart daher auf jeden Fall sehr vortheilhaft,
da die erstmaligen Herstellungskosten verhältnissmässig geringe seien und
die Dauer eine lange sei.
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160 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Bezüglich der verschiedenen Befestigungsmaterialien für Strassen
wolle er auf die neueren Erfahrungen hin weisen, die man mit vergossenem
Steinpflaster gemacht habe, vergossen nicht unter Verwendung von Asphalt,
sondern unter Verwendung von Cementmörtel. Der einzige Uebelstand,
der hierbei auftrete, sei der, dass bei der Herstellung des Pflasters eine um
acht Tage längere Absperrung der Strasse nothwendig werde. Diese
Pflasterungsmethode habe sich in Breslau bei Verwendung von gleichmässig
sich abnutzendem, nicht zu hartem Granit ausgezeichnet bewährt. Die Fugen
seien durch Cement vollständig geschlossen, und es entstehe eine fugenlose,
ebene Pflasterfläche, welche in gewisser Hinsicht mit dem Asphalte con-
curriren könne und jedenfalls geringere Kosten wie dieses verursache. Ein
solches Pflaster verursache weniger Geräusch, wie das gewöhnliche, weil ein
Ueberspringen der Räder über die einzelnen offenen Fugen nicht stattfinde.
Nach dieser Richtung empfehle er weitere Betrachtungen anzustellen.
Stadtbaurath a. D. Brix (Wiesbaden) ist der Ansicht, dass es sich
weniger darum handle, ob man hartes oder weiches Pflastermaterial nehme,
als darum, dass man ein Material wähle, das sich gleichmässig abnutze,
und ferner dass es sich möglichst wenig und möglichst langsam abnutze.
Diese Bedingungen werden erfüllt durch Hartsteine, z. B. gute Granitsteine.
Es gebe deutsche und auch norwegische Granitsteine, die sich langsam und
gleichmässig abnutzen und dabei nicht glatt werden.
Dann wolle er auf die grossen hygienischen Vortheile des Abwaschens
der Strassenflächen durch gründliches Abspülen aufmerksam machen, weil
bisher darüber nicht gesprochen sei. In Wiesbaden, wohl auch an manchen
anderen Orten habe man einen grossen Vortheil darin gefunden, im Früh¬
jahr und auch im Herbst eine gründliche Abwaschung der Strassen durch
Wasser derart ein treten zu lassen, dass die Strassenoberfläche vollständig
abgespült und auf diese Weise gut gereinigt werde.
Ein dritter Punkt, über den die Techniker noch nicht so ganz einig
seien, sei die Frage, ob es zweckmässig sei, bei Kehrmaschinen gleichzeitig
auch die Begiessung eintreten zu lassen, in der Weise, dass mit der Kehr¬
maschine ein Wasserbehälter verbunden werde, aus dem kurz vor der Kehr¬
walze die Begiessung ausgeführt werde. Es habe sich nach verschiedenen
Erfahrungen gezeigt ,• dass es je nach dem Grade der Feuchtigkeit der Luft
und je nach der Witterung nicht gleichgültig sei, ob man den Sprengwagen,
der den Staub und Kehricht befeuchten solle, in grösserer oder geringerer
Entfernung vor der Kehrichtmaschine einhergehen lasse. Es zeige sich bei
manchen Witterungsverhältnissen, dass, wenn kurz vor der Kehrmaschine
gesprengt werde, dann der Kehricht nicht Zeit habe, das Wasser in sich
aufzusaugen und gleichmässig feucht zu werden, und es finde sich, dass dann
durch das Kehren der Staub zu Schlamm verrührt werde, der an den Steinen
klebe. Mit Rücksicht auf diese Erfahrungen scheine es, dass man doch das
Besprengen im Allgemeinen durch besondere Sprengwagen vor dem Kehren
ausführen solle, und dass man vielleicht Wasserbehälter auf den Kehr¬
maschinen nur für zeitweilige und nebensächliche Befeuchtigungszwecke der
Strassenoberfläche verwenden sollte.
Zum Schluss wolle er noch darauf hinweisen, dass es für die städtischen
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Strassenbefestigungematerialien und Ausführungsarten. 161
Techniker wohl ernsthaft nicht in Betracht kommen könne, mit Petroleum
behufs Staub Verhinderung in städtischen Strassen Versuche anzustellen, denn
den Geruch, der dadurch entstehen würde, könne Niemand aushalten. In
allerjüngster Zeit seien in Amerika Versuche auf einer Eisenbahnstrecke
angestellt wprden, um die Staubaufwirbelung bei schnell fahrenden Zügen
zu vermeiden; dort solle sich die Befeuchtung der Oberfläche mit Petroleum
bewährt haben. Diese Verwendung auf freier Strecke, wenn sie sich be¬
währe, scheine immerhin mehr am Platze zu sein, als in den Städten.
Baarath Peter8 (Magdeburg) wendet sich gegen die in Nr. 11 der
Leitsätze aufgestellte Forderung, dass die Reinigung und Besprengung
der Strassen Sache der Gemeinden sei. In Magdeburg erfolge die Strassen-
reioigung zum Theil mit Hülfe der Bürger, ein altes Herkommen, mit dessen
Beseitigung eine ganz wesentliche Belastung des Stadtsäckels eintreten
würde. Man befinde sich in Magdeburg auch ganz wohl dabei, der saubere
Zustand der hier in Betracht kommenden Strassen, namentlich nach starken
Schneefällen, sei nur der Verpflichtung der Bürger zu verdanken, dass bis zu
einer polizeilich bestimmten Zeit die Strassen — es handle sich dabei aber
nicht um die Hauptverkehrsstrassen — in einen sauberen Zustand wieder
hergestellt sein müssen.
Bezüglich des Stampfasphalts wolle er mittheilen, dass man in
Magdeburg in letzter Zeit dazu übergegangen sei, die Nebenstrassen von
knapper Breite mit Stampfasphalt zu belegen. Da in diesen Strassen es
aber öfters nöthig sei, wegen der Gas-, Wasser- und Entwässerungsröhren
das Pflaster aufzubrechen, habe man die einheitliche Betonirung, die sonst
für Stampfasphaltstrassen erforderlich sei, in einzelne Theile zerlegt und
statt eines zusammenhängenden Betondammes von der üblichen Stärke von
18 bis 20 cm Höhe die ganze Unterdecke aus Würfeln, richtiger Prismen von
ungefähr 25 bis 30 cm Länge und 18 cm Höhe hergestellt Diese Quadern
seien in Verband auf Sandbettung verlegt, ihre Fugen seien nur mit Kies aus¬
gefüllt und zur Abgleichung sei eine dünne Schicht von Cementmörtel in
der Mischung von 1 Thl. Cement und 2 Thln. Sand daraufgebracht Da
man bei Stampfasphalt bekanntlich gezwungen sei, die damit zu belegenden,
folglich auch die zu reparirenden Stellen eben des Betonbettes wegen
eine bestimmte Zeit in vollkommenem Ruhestande zu belassen — 10 bis
14 Tage —, so bedeute es natürlich in stark frequentirten Strassen einen
ausserordentlichen Fortschritt, diese Wartezeit auf ein Minimum einzu¬
schränken. Die vorher vorbereiteten Betonprismen könne man mit geringstem
Zeitaufwand einfach verpflastern und dann unmittelbar darauf die Stampf¬
asphalt-Platten aufbringen. Diese von dem Fabrikanten Löhr in Frank¬
furt a. M. hergestellten Platten seien von quadratischer Gestalt, 25 cm gross
und unter starkem hydraulischem Druck aus Beton und Cement zu einer
überaus festen Masse zusammengepresst, wodurch sich eine Platte von 6 cm
Stärke ergebe, von denen 4 cm auf die Asphalt- und 2 cm auf die Cement-
schicht entfallen. Mit Rücksicht auf die Schnelligkeit der Herstellung und
namentlich der Erledigung von Reparaturen scheine ihm die in Magdeburg
angewandte Methode der Herstellung des Betonbettes immerhin der Erwägung
werth. Noch fehle es allerdings an längeren Erfahrungen. Die Hauptsache
Vierteljahnschrift für Gesundheitspflege, 1902. 21
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162 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
bleibe eben die in wenigen Stunden zu bewirkende einwandfreie Herstellung
einer unteren haltbaren Betondecke für Ausbesserungen, wobei eine Entziehung
aus dem Verkehr sich kaum in störender Weise geltend machen werde.
Stadtbaurath Kraus© (Berlin) will, da von den beiden Referenten
wiederholt Berliner Verhältnisse erwähnt worden seien, hierzu einige Mit¬
theilungen und Berichtigungen geben. Der Herr Referent habe sich dahin
geäussert, dass es zweckmässig sei, in den Nebenstrassen schmale Fahr¬
bahnen anzulegen, sie bis auf 5 bis Ö^m zu reduciren, und habe erklärt,
dass auch in einigen neueren Strassenanlagen Berlins derartige schmale
Strassendämme existiren. Dies sei ein Irrthum, denn in Berlin gehe man
bei Neuanlagen von öffentlichen Strassen nicht unter 9 Meter für den
Strassendamm herunter. Er gebe zu, dass man bei der Breitenabmessung
von Strassendämmen häufig viel zu weit gehe, denn man sei bei breiten
Strassendämmen, um den Fussgängerverkehr bei starkem Wagenverkehr
von einer Seite zur anderen hinüberzuleiten, gezwungen, Zwischeuperrons,
sog. Schutzinseln, anzulegen, und das sei ein Uebelstand. In Berlin komme
man selbst bei lebhaftem Verkehr und bei doppelgleisigen Strassenbahn-
anlagen mit lim breiter Fahrbahn aus, und nur in ganz besonders be¬
lebten Strassen, wie in der Leipziger und Potsdamer Strasse, sei man bis
auf 15 m breite Fahrbahnen gegangen.
Sodann habe sich der Herr Referent gegen die Subways, d. h. gegen
die unterirdische Anlage von Gewölben, in welchen die städtischen Ver¬
sorgungsnetze untergebracht werden sollen, erklärt und sich dabei auf Herrn
Geh. Baurath Hobrecht berufen. Es sei richtig, dass dieser sich im All¬
gemeinen gegen derartige Anlagen ausgesprochen habe, es sei auch richtig,
dass für mittlere Städte solche Anlagen kaum in Betracht kommen können,
es sei auch zuzugeben, dass nicht alle Leitungen in solche Subways unter¬
gebracht werden können, denn Gasleitungen würden, falls sie undicht
seien, zu einer Explosionsgefahr leicht Veranlassung geben und daher ohne
Weiteres auszuschliessen sein, — immerhin aber dürften für Berlin solche
Subways nicht unbedingt von der Hand zu weisen sein, und er wäre sehr froh»
wenn Berlin an einzelnen Stellen, z. B. unter den Linden oder in der Leip¬
ziger Strasse, derartige Anlagen hätte, weil dort durch jedes Aufreissen der
Strasse, bezw. der Bürgersteige der Verkehr doch in einer recht unangenehmen
Weise gehemmt werde.
Was nun die Baumaterialien für Pflasterungen anbetreffe, so
habe der Herr Referent darauf hingewiesen, dass die härtesten Steine, die
Basalte, sich als Pflastersteine wenig eignen, und man besser weiches Material
wählen solle; ja Referent sei sogar so weit gegangen, dass man dem Vor¬
trage vielleicht entnehmen könne, dass das weichste Material das beste sei,
und man desshalb weichen Sandstein oder Kalk anwenden könne. Solche
Strassen würden aber sehr rasch tief ausgefahren sein, und das sei nicht
angängig. Richtig sei ja, dass allzu sprödes, hartes Material nicht ver¬
wendet werden solle, und dass ein möglichst festes und gleichmässig abnutz¬
bares Material am zweckmässigsten erscheine. Für das beste ihm bekannte
Pflastermaterial halte er belgischen Porphyr, der allerdings für viele Städte
wohl zu theuer sei.
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Strassenbefestigungsmaterialien und Aasführungsarten. 163
Was das Cementpflaster betreffe, so seien damit schon vor etwa
20 Jahren von Herrn Stadtbaurath Frühling in Königsberg Versuche
gemacht worden, aber schon nach kurzer Zeit habe dies wieder entfernt
werden müssen. Später habe ein Herr Schulze in Leipzig versucht, dieses
Cementpflaster dadurch zu verbessern, dass er auf eine Betonunterlage eine
obere Schicht aus reinem Cementmörtel und Steinen hergestellt habe, und
dieses Pflaster solle sich in Leipzig bewährt haben. Dagegen haben
Versuche, die in Stettin und neuerdings auch in Berlin vorgenommen worden
seien, ergeben, dass für lebhaften Strassenverkehr dieses Pflaster nicht ver¬
wendbar sei; an zwei von drei Stellen, an denen man es in Berlin angewandt
habe, habe man es schon nach circa einem Jahre wieder entfernen müssen.
Reparaturen seien ausserordentlich schwierig, da Beton mindestens eine
Woche zum Abbinden brauche, und es in Berlin oft nicht möglich sei, auf
derart lange Zeit die Strassen für Reparaturen zu sperren.
Was das Stampf asphaltpflaster anbelange, so sei es als ein Uebel-
stand bezeichnet worden, dass bei feuchtem Wetter der Glätte wegen eine
Be8treuung des Pflasters mit Sand stattfinden müsse, und dadurch die Staub¬
entwickelung befördert werde. Um diesen Uebelstand möglichst einzu¬
schränken, habe man in Berlin seit einem Jahre von der Sandbestreuung
abgesehen und eine Bestreuung mit Kies vorgenommen und zwar mit dop¬
pelt gesiebtem Elbkies. Derselbe weise Körner von etwa Nussgrösse auf,
so dass man anfangs geglaubt habe, es werde dadurch eine Unbequemlich¬
keit für den Fussgängerverkehr entstehen. Dieser Kies werde aber von
den Wagen sehr bald zerkleinert, ohne dass dadurch der Asphalt leide, und
es bilde sich auf dem Asphalt eine sehr rauhe Oberfläche. Man brauche
dabei nur etwa ein Drittel des früheren Materials, es werde in Folge dessen
die Abfuhr billiger und die Staubentwickelung verringert.
Wenn der Herr Correferent gesagt habe, dass Holzpflaster auf Stei¬
gungen nicht verwendbar sei, so sei dies nicht zutreffend. Man gehe in
Berlin bei Stampfasphalt bis zu einer Steigung von 1:80, und wenn in einer
Strasse, in welcher geräuschloses Pflaster verwendet werden solle, stärkere
Steigungen vorhanden seien, so werde Holzpflaster verwendet, bis zu
einer Steigung von 1:35. Dass das Holzpflaster unter den Linden in einem
sehr schlechten Zustande gewesen und jetzt durch Asphaltpflaster ersetzt wor¬
den sei, sei richtig, aber dabei sei zu bedenken, dass dasselbe vor etwa 25 Jah¬
ren und nach Methoden hergestellt worden sei, die sich als unvollkommen
erwiesen haben. Seit 1894 habe man nach Pariser Art ein neues Holz¬
pflaster mit Cementfugenverguss eingeführt, das sich bis jetzt recht gut
bewährt habe. Die Hauptsache bei diesem Pflaster sei, dass eine sehr sorg¬
fältige Auswahl des Materials stattfinde, und dass nicht etwa Hartholz neben
Weichholz gelegt werde, weil dadurch sich sehr leicht Vertiefungen im
Pflaster bilden; es müsse vielmehr das Holz auf Jahresringe untersucht und
nur Holz von völlig gleichmässiger Beschaffenheit verwendet werden; dann
habe das Pflaster ziemlich grosse Haltbarkeit. In Paris sei das Holzpflaster in
wesentlich weniger gutem Zustande, als es das neue Holzpflaster in Berlin
sei, was seinen Grund darin habe, dass man dort die genannten Grundsätze
nicht mehr genau befolge. Seit einiger Zeit werde dort nämlich die Holz¬
pflasterung nicht mehr von Unternehmern ausgeführt, sondern von städti-
11 *
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164 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
sehen Baubeamten, denen für die umfangreichen' Pflasterungen nicht die
genügenden Räume zur Verfügung stehen, um die sorgfältige Sortirung, die
durchaus nöthig sei, vorzunehmen. Auch die Grösse der Fuge müsse je
nach der Härte des Holzes bemessen werden, die Längsfuge müsse bei
weichem Holze grösser sein als bei hartem. Das Hartholz, welches meist
von Australien oder den Sundainseln herstamme, sei selbstverständlich sehr
theuer, es stelle sich das Quadratmeter auf circa 28 Mark, so dass man
wohl in den meisten Städten von der Verwendung solch theuern Pflasters
Abstand nehmen werde, während das weiche Pflaster mit schwedischem
Kiefernholze, das gewöhnlich verwendet werde, einschliesslich der Beton¬
unterbettung nur 16 Vs Mark pro Quadratmeter koste.
Bei der Anlage von Reitwegen begehe man sehr oft dadurch Fehler,
dass einmal keine gute Unterbettung gewählt werde, und sodann, dass für
die Entwässerung und Drainage der Reitwege meistens nicht genügend ge¬
sorgt werde. Auch komme es häufig vor, dass die Entwässerung der
Strassen oder der Mittelpromenaden über die Reitwege geführt werde, so
dass das ganze Wasser hinüberlaufen müsse, sich dort ansammle und den
Reitweg in einen Sumpf verwandle. In Berlin habe man neuerdings unter
den Linden einen Versuch mit einem neuen Material für Reitwege gemacht,
mit Steinmergel aus Eichenberg in der Nähe von Göttingen. Dieses Material
bestehe aus einem weichen Bruchstein, der sehr bald an der Luft in kleine
Stücke zerfalle und den Vortheil habe, dass die mit diesem Material ver¬
sehenen Reitwege keinen Staub bilden und gut entwässern.
Was endlich die Bemerkungen des Herrn Correferenten bezüglich der
Staubkehrmaschine Salus betreffe, so habe er, da er zur Zeit der Ver¬
suche mit derselben gerade in Urlaub gewesen sei, die Maschine nicht in
Betrieb gesehen. Der Director der Strassenreinigung von Berlin habe jedoch
diesen Versuchen beigewohnt und habe sich nicht günstig über die Maschine
ausgesprochen, weil der ganze Apparat der Kehrmaschine mit angehängtem
Tenderwagen so schwerfällig sei, dass er ein böses Verkehrshinderniss bilde,
zumal das Wenden in Strassen mit der üblichen Breite von lim sich kaum
ermöglichen lasse, sodann auch, weil die Maschine an den Strassenrändern
und Rinnsteinen nicht arbeite, also immer noch eine Arbeit er colon ne dahinter
bleiben müsse, die diesen Kehricht zusammenfege. Desshalb habe der
Director sein Votum dahin abgegeben, dass diese Maschine wirthschaftlich
sehr unrationell arbeite, dass die Strassenreinigung sehr viel mehr Kosten
verursachen würde und er sie für Berliner Verhältnisse nicht empfehlen
könne.
Auf die Ausführungen des Herrn Correferenten bezüglich der Berliner
Strassenreinigung wolle er nicht näher eingehen. Er habe in den
letzten Jahren die Strassenreinigung in Paris, London und Rom kennen
gelernt und sich dabei überzeugt, dass die Berliner Strassenreinigung jeden¬
falls besser als die anderer Grossstädte sei, und dass Berlin in Bezug auf
die Reinlichkeit seiner Strassen doch noch an der Spitze stehe.
Geheimer Baurath Stfibben (Köln) glaubt, dass der Referent nicht
die Absicht gehabt habe, unter allen Umständen von Pflasterungen mit Hart¬
stein abzurathen und zu empfehlen, künftig die Strassen nur mit weichen
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Strassenbefestigungematerialien und Ausfübrungsarten. 165
Steinen zn pflastern. Referent habe wohl nur und mit Recht darauf auf¬
merksam gemacht, dass es unrichtig wäre, die Strassen durchweg mit harten
Steinen zu pflastern, wie es z. B. früher am Rhein üblich gewesen sei.
Das sei allerdings ein grosser Fortschritt, dass man vor etwa 20 Jahren zu
weicheren Steinen übergegangen sei, denn auf einer mit Basalt gepflasterten
Strasse, die ziemlich abgenutzt sei, wie in manchen Orten am Rhein, zu
fahren, sei eine Tortur und ein Geräusch, von dem man hier gar keine
Vorstellung habe. Doch werde am Rhein seit längeren Jahren auch wieder
Basaltpflaster angewendet, aber nicht in solchen Strassen, die als Wohn-
strassen zu bezeichnen seien, und nicht in den inneren städtischen Verkehrs¬
strassen, sondern an den äusseren Thorstrassen, wo sehr schwerer Verkehr
herrsche, oder an den Rheinkais, wo es auf das Geräusch weniger ankomme.
Man habe nur dafür zu sorgen, dass das Format dieser Steine kein sehr
grosses sei, dass man schmale Steine nehme, die bei der Abnutzung nicht
so mächtige Katzenköpfe bilden, und dass man die Steine auswechsle, bevor
die eigentliche Katzenkopfbildung eintrete, was glücklicher Weise erst nach
20 oder 25 Jahren der Fall sei, wo dann die weichen Steine oft schon zer¬
schlissen sein.
Was das sog. Kleinpflaster betreffe, so sei dies im Allgemeinen
kein Pflaster für städtische Zwecke, sondern für Landstrassen an solchen
Stellen, wo ein so schwerer und lebhafter Verkehr auf den Landstrassen
sich vollziehe, dass die gewöhnliche Steinschlagdecke nicht mehr dauerhaft
Bei. Das Kleinpflaster in die Städte hineinzubringen, gehe, wie der Herr
Referent gesagt habe, nur in sog. Wohnstrassen, wo wenig Verkehr sei.
Aber damit gebe man eigentlich in hygienischer Beziehung gewisse Vor¬
theile auf, denn Kleinpflaster habe auch die Eigenschaft, dass es recht laut
sei, und da verdiene im Allgemeinen ein weiches und nicht theures Stein¬
pflaster den Vorzug.
Dem Herrn Correferenten könne er unbedingt zustimmen, wenn er
sage, die Schneebeseitigung durch die Canäle habe sich ausgezeichnet
bewährt, so lange der Schnee frisch sei. Es sei aber unbedingt nöthig, den
Schnee, gleich nachdem er gefallen sei, spätestens im Laufe des folgenden
Tages, zu beseitigen, wie es übrigens in den meisten Städten auch ge¬
schehe; es sei unzulässig, wie es namentlich in mittleren Städten auch wohl
vorkomme, Schnee und Eis liegen zu lassen, bis Thauwetter eintrete, viel¬
leicht ein paar Wochen lang, und dann zu glauben, man könne die noch in
den Strassen lagernden Massen durch die Canäle beseitigen; das würde der¬
selbe Fehler sein, den man in Paris mache, indem man den Strassenschmutz
in die Siele hineinwerfe, denn diese Masse sei eigentlich nichts Anderes als
Strassenschmutz, untermischt mit etwas Eis und Schnee.
Was die Strassenreinigung betreffe, die man, wie Herr Baurath Peters
mitgetheilt habe, in Magdeburg nicht für ledigliche Sache der Gemeinde
halte, so sei man am Rhein im Allgemeinen doch dahin gekommen, zu
sagen, es sei besser, wenn die Gemeinde sich mit dieser Sache befasse, und
zwar recht gründlich, weil man von den Hausbesitzern eine gründliche und
systematische Strassenreinigung nicht erwarten könne.
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166 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Professor Dr. C. Fraenkel (Halle) hat mit Freuden aus den beiden
Referaten wie auch aus der Discussion ersehen, dass man allgemein der
Ansicht sei, dass ein modernes und hygienisches Strassenpflaster neben
anderen Eigenschaften namentlich die der Geräuschlosigkeit besitzen
solle, sicherlich mit Recht, denn es könne nicht bezweifelt werden, dass die
zunehmende Nervosität unserer Tage zu einem sehr wesentlichen Maasse
von unserem Gehörorgan ihren Ausgang nehme, und dass der geplagte
Grossstädter, wenn er sich zur Erholung an die See oder ins Gebirge be¬
gebe, vielleicht mehr noch als die grössere Reinheit und Athembarkeit der
Luft die himmlische Ruhe dankbar geniesse, die ihn umgebe. Für den
Städter sei daher die Geräuschlosigkeit des Strassenpflasters vielleicht die
allerwichtigste Eigenschaft und er würde es sehr bedauern, wenn der Herr
Referent mit seiner Ansicht im Recht sein sollte, dass man in Städten,
deren wichtigste Verkehrsstrassen sich nicht für die Anwendung von Asphalt¬
pflaster eignen, überhaupt von der Benutzung desselben Abstand nehmen
müsse. Dann würde für diese Städte nur noch das Holzpflaster bleiben,
das, wie hier mitgetheilt worden sei, eine grosse Anzahl von Städten schon
wegen der ausserordentlich hohen Kosten anzuwenden nicht in der Lage
sei. Aber die erwähnte Anschauung scheine ihm doch nicht begründet.
Es gebe viele Städte, in denen einzelne Strassenzüge, ganze Viertel Asphalt¬
pflaster besitzen, während in anderen noch Steinpflaster sei, ohne dass sich
daraus Unzuträglichkeiten ergeben hätten. Wenn man das Pferd mit dem
nöthigen Hufschlage versehe, halte es sich auf Steinpflaster wie auf Asphalt¬
pflaster, und er glaube daher, dass man nicht gezwungen sei, von einer
so wesentlichen hygienischen Verbesserung überall da Abstand zu nehmen,
wo sie nicht zu gleichmässiger und allgemeiner Anwendung gelangen
könne.
Indessen, wenn nur die Stadtverwaltungen durch Einführung geräusch¬
losen Pflasters für die Gesundheit und das Wohlbehagen ihrer Bürger zu
sorgen bestrebt seien, so sei dies doch nur eine Penelopearbeit, so lange sie
sich nicht zur Wehr setzen gegen eine immer weiter um sich greifende
Beunruhigung unseres Strassenlebens durch Geräusche anderer Art, wie sie
durch manche Lebensmittelverkäufer, durch gewisse Arten des Kleinbetriebes,
des Handels im Umher ziehen u. s. w. hervorgerufen werden. Man suche die
Hufe der Pferde und die Räder der Wagen zu geräuschloser Bewegung auf
dem Strassenpflaster zu bringen, und sehe unthätig zu, wie die elektrische
Strassenbahn in fanatischer, um nicht zu sagen satanischer Weise ihr
Klingelwerk rühre, wie der Obsthändler und namentlich der Milchhändler
seine Anwesenheit durch ein stürmisches Glockenspiel den Anwohnern der
betreffenden Strasse zu verrathen suche. Es sei in der That kein Grund
vorhanden, solchen Gewerbetreibenden ein derartiges Privileg einzuräumen,
das nach und nach auch noch von allen möglichen Geschäftstreibenden zur
Anwendung kommen könnte. Man brauche nicht gerade Hygieniker zu
sein, auch jeder sonstige Kopfarbeiter werde durch den steigenden Lärm
unseres Strassenlebens und die eben erwähnten Geräusche in sehr erheb¬
lichem Grade belästigt. Bekanntlich sei schon in den Pandecten verboten,
dass ein Kupferschmied in eine Strasse ziehe, in welcher ein „Professor“
wohne. Heut zu Tage seien allerdings die armen Professoren gewöhnt, dass
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Strassenbefestigungsmaterialien und Ausführungsarten. 167
man auf sie nicht mehr die Rücksicht nehme, wie in jenen früheren und
schöneren Zeiten, aber es habe sich andererseits die Zahl der Hirnarbeiter
auch in anderen Berufen erheblich vermehrt, und es sei desshalb gewiss
nicht unbillig, die Forderung zu erheben, dass die Stadtverwaltungen, die
Strassenpolizei einer weiteren Ausdehnung dieses groben Unfugs, wie
man es wohl nennen dürfe, mit einem energischen „quos ego“ entgegen-
treten sollte.
Da sich Niemand weiter zum Wort gemeldet hat, wird die Discussion
geschlossen und es erhält das Schlusswort
Referent, Stadtbaurath E. Genzmer:
, „Meine Herren! Zu meinem Bedauern vermag auch ich meinem ver¬
ehrten Herrn Collegen Peters in seiner Ansicht nicht zu folgen, dass
die Reinigung der Strassen den einzelnen Anwohnern überlassen werden
könne. Vielmehr bin ich ganz entschieden der Meinung, dass eine den
hygienischen Anforderungen entsprechende Strassenreinigung nur einzig
und allein von der Gemeindeverwaltung ausgeübt werden kann.
„Was den auf dem Breitenweg in Magdeburg angestellten Versuch mit
Asphaltcementplatten anlangt, so wünsche ich der Stadt Magdeburg vollen
Erfolg, möchte aber hervorheben, dass man mit den Platten aus reinem
Stampfasphalt bislang keine besonderen ermuthigenden Erfahrungen gemacht
hat. Ob die Lohr’sehen Platten gegenüber den schon seit etwa 20 Jahren
bekannten durchweg aus Stampfasphalt hergestellten Platten thatsächlich
wesentliche Vorzüge haben, dürfte jedenfalls abzuwarten sein.
„Ebenso erscheint mir zunächst eine abwartende Stellung geboten
gegenüber dem Verfahren, die Betonunterlage des Stampfasphalts in einzelne
Prismen zu zerlegen. Unzweifelhaft kann man es als einen Vorzug dieses
Verfahrens ansehen, dass man das Aufhacken des Betons bei Rohrlegungen
und sonstigen Strassenaufbrüchen vermeidet. Das an sich ja einfache und
keineswegs kostspielige Verfahren des Aufbrechens der Betonschicht wirkt
auf den Laien wegen der dabei angewandten Gewalt erfahrungsgemäss sehr
unangenehm. Der friedliche Bürger hat das Gefühl, als ob mit einer solchen
gewaltsamen Zerstörung städtischen Eigenthums unbedingt eine Steuer¬
erhöhung verbunden sein müsse. Ob aber die einzelnen neben einander
gestellten Prismen thatsächlich eine unter allen Umständen sichere Unter¬
lage für den Beton abgeben werden, wird meines Erachtens erst abzu¬
warten sein.
„Dem Herrn Stadtbaurath Krause möchte ich erwidern, dass ich in
Berlin solche Wohnstrassen selbst gesehen habe, die einen etwa 5 m breiten
Fahrdamm haben. Es mögen allerdings Privatstrassen gewesen sein. Dem
Verkehr muss es aber doch gleich sein, ob er sich auf einer städtischen
Strasse vollzieht oder auf einer Privatstrasse.
„Zum Schluss muss ich noch Herrn Geheimrath Stübben insofern
widersprechen, als ich nach meinen Beobachtungen und Erfahrungen das
Kleinpflaster keinesfalls als ein geräuschvolles Pflaster bezeichnen kann,
sondern im Gegentheil als ziemlich geräuschloses.“
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168 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Correferent, Privatdocent Dr. Th. Weyl:
„Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir nur noch wenige Be¬
merkungen, welche an die Einwände, die Herr Stadtbaurath Krause ge¬
macht hat, anknüpfen. Ich möchte mich auf das Für und Wider betreffend
der „ Salus u -Maschine desshalb nicht einlassen, weil ein so competenter Be-
urtheile^, wie Herr Stadtbaurath Krause, eben nicht Gelegenheit gehabt
hat, die Maschine selbst zu prüfen, sondern sich auf ein fremdes Gutachten
stützen musste.
„Was die Subways anbetrifft, so bin ich durchaus der Meinung des
Herrn Stadtbauraths Krause. Ich habe mich mit diesem Gegenstände recht
eingehend beschäftigt. Ich habe stundenlange Wanderungen durch die Sub¬
ways von London angetreten, und noch viel längere Wanderungen durch
die Subways von Paris, immer in Begleitung maassgebender Ingenieure.
Da muss ich denn sagen, dass ich mich den Nachtheilen dieser Einrichtung
gegenüber in keiner Weise verschliesse, aber die Vortheile scheinen mir
doch so bedeutende zu sein, dass es sich immerhin lohnen dürfte, wenn
sich maassgebende Techniker über diesen Gegenstand äussern wollten.
Namentlich bei Anlegung neuer Canäle in den Hauptstrassen sollten die
Subways zugleich mit den Canälen projectirt und ausgeführt werden.
„Nun ist hier mit Recht darauf aufmerksam gemacht worden, dass in
Paris ein sehr wichtiges Leitungsnetz in die Subways nicht Aufnahme ge¬
funden hat, das sind die Gasröhren. Aber es bleibt immerhin eine sehr
bedeutende Ersparniss, es wird manche Störung des Verkehrs vermieden,
wenn man bei Reparaturen an den Wasserrohren, an Telegraphen» Tele¬
phonen, an Leitungen für comprimirte Luft, in Zukunft vielleicht auch an
den Heizröhren nicht jedesmal die Strassen aufzureissen hat. Ich muss
mich desshalb auf Grund meiner Beobachtungen dafür aussprechen, dass
in den grossen Strassenzügen für Subways gesorgt werde, und
zwar mit Rücksicht auf die zukünftige Entwickelung des städischen Lei¬
tungsnetzes. u
Vorsitzender Oberbürgermeister Schneider:
„Meine Herren! Wir stehen damit am Ende unserer heutigen Ver¬
handlungen, und wenn ich einen Rückblick auf dieselben werfe, so, glaube
ich, werden Sie mir beistimmen: wir müssen sagen, dass auch unsere dies¬
malige Tagung zu unserer Aller Befriedigung verlaufen ist, dass hier The¬
mata behandelt worden sind, die ihrer Natur nach in den Rahmen unserer
Aufgaben in hohem Maasse passten, die ein weitgehendes Interesse auch
für diejenigen Ziele zu beanspruchen haben, die wir zu verwirklichen
berufen sind, und dass die Erörterung dieser Themata in überaus sach-
gemässer Weise erfolgt ist, in einerWeise, die nach verschiedenen Richtungen
hin Klärung und Belehrung für uns gebracht hat.
„Ich darf mit Genugthuung feststellen, dass die Annahme, die wir von
Anfang an hatten, nach dem ersten Eindruck am hiesigen Orte, dass auch
die hiesige Versammlung eine recht gut besuchte sein würde, dass diese
Voraussicht sich erfüllt hat. Ich kann mittheilen, dass bis zum Schluss der
heutigen Verhandlungen 298 Personen gemeldet waren, die hier an den
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169
Schluss der Versammlung.
Verhandlungen theilgenommen haben, und dass davon ungefähr 250 aus
allen Theilen Deutschlands und über die Grenzen unseres deutschen Vater¬
landes hinaus zusammengekommen sind.
„Meine verehrten Damen und Herren! Aber vor allen Dingen möchte
ich noch an dieser Stelle — und ich weiss mich auch darin Ihres allseitigen
Beifalls sicher — den Behörden, dem Hohen Rath dieser Stadt und dem
Ortsausschuss dieser Stadt von ganzem Herzen danken für die überaus
freundliche Aufnahme, die wir in den Mauern von Rostock gefunden haben.
Wir Alle sind gern hierher gekommen. Es war uns von hohem Interesse,
diese altberühmte und wichtige deutsche Stadt einmal von Angesicht zu
Angesicht kennen zu lernen, und ich glaube, wir verlassen diese Stadt all¬
seitig mit den allerbesten Ergebnissen. Wir haben vieles Interessante und
Schöne hier unter sachkundiger Führung gesehen; wir haben uns überzeugt
von dem Blühen und dem Wohlstände der Stadt, und vor allen Dingen:
wir haben die Ueberzeugung gewonnen, dass wir gern aufgenommen waren,
und dass uns mit Freundlichkeit und Liebe von allen Seiten begegnet
worden ist. Ich möchte dafür, wie gesagt, nochmals von ganzem Herzen
danken.
„Meine verehrten Damen und Herren! Der Ort der nächsten Tagung
ist noch nicht bestimmt; es wird das in der üblichen Weise der Ausschuss
thun, und ich hoffe, dass die Wahl auch des nächsten Versammlungsortes
Ihre allseitige Befriedigung erregen wird. Es hat sich eine ganze Reihe
Städte um die Ehre beworben, uns in ihren Mauern begrüssen zu dürfen,
und ich glaube, eine jede wird so sein, wir mögen wählen, welche wir wollen,
dass wir gern in ihren Mauern sein können.
„Ich hoffe, dass wir uns im nächsten Jahre wieder zusammenfinden
werden, und ich hoffe, dass der Deutsche Verein für öffentliche Gesund¬
heitspflege, wie er bisher geblüht hat und gediehen ist, auch weiter blühen
und gedeihen werde.“
Professor Dr. Fraenkel (Halle a. S.):
„Meine verehrten Herren! Ich bin überzeugt, dass Sie Alle mit mir
nicht nur das Pflichtgefühl, sondern auch das herzliche und warme Empfinden
theilen, bevor wir aus einander gehen und uns in alle Winde zerstreuen,
unserem verehrten Herrn Vorsitzenden unseren Dank auszusprechen für
die ausgezeichnete Leitung unserer Versammlung, deren Gelingen nicht
zum Geringsten sein Verdienst ist. Wir haben, meine verehrten Herren,
schon zu Beginn unserer Verhandlungen die meisterhafte Art bewundert,
in der er auf die verschiedenen Begrüssungsreden erwiderte. Wir sind
Zeugen gewesen, wie er — suaviter in modo, fortiter in re — mit glück¬
licher und milder Hand die zuweilen etwas in die Breite gehenden Fluthen
der Beredtsamkeit wieder in ihre Schranken verwiesen hat. Wir haben bei
unseren festlichen Veranstaltungen mit wahrem Vergnügen seinen beredten
Worten gelauscht, und ich bin daher gewiss, dass Sie Alle nun auch mit
mir darin übereinstimmen werden: er war ein Musterpräsident, — um nicht
zu sagen: ein Ueberpräsident.
„Wir können unserem Verein nur wünschen: Möge er immer solche
Vorsitzenden haben!“
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170 XXVI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Rostock.
Vorsitzender Oberbürgermeister Schneider:
„Meine hochverehrten Herren! Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen für
die überaus herzlichen Worte, die Herr Professor Fraenkel in Ihrem
Namen an mich gerichtet hat und denen Sie durch Ihren Beifall zugestimmt
haben, meinen herzlichen aufrichtigen Dank ausspreche. Ich kann ver¬
sichern, dass das, was Herr Professor Fraenkel gesagt hat, weit über das
hinausgeht, dessen ich mir selbst in meinem Gewissen bewusst bin. Aber
ich kann gewiss sagen: den guten Willen habe ich gehabt, und wenn dieser
gute Wille von Ihnen für die That genommen ist, so kann ich das nur mit
lebhaftem Dank und lebhafter Befriedigung meinerseits begrüssen. Ich
danke Ihnen nochmals von ganzem Herzen! Und hiermit schliesse ich die
Versammlung.“
(Schlus 12 Ulir.)
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Kritiken and Besprechungen.
171
Kritiken und Besprechungen.
O. Rapmund: Das Öffentliche Gesundheitswesen. Allgemeiner
Theil. (Hand- und Lehrbuch der Staats Wissenschaften. 111. Abth.,
Staats- und Verwaltungslehre. 6. Band.) Leipzig, C. L. Hirschfeld,
1901. gr. 8. 336 S.
Das vorliegende Werk bildet den 6. Band der 111. Abtheilung (Staats¬
und Verwaltungslehre) des von Kuno Frankenstein begründeten und
von Max von Heckei fortgesetzten Hand- und Lehrbuchs der Staats Wissen¬
schaften und behandelt die Entwickelung des öffentlichen Gesundheitswesens,
seine Aufgaben im Allgemeinen und die Art seiner Durchführung sowie die
Organisation desselben in den hauptsächlichsten Culturstaaten. Eine solche
zuBammenfassende Darstellung ist um so willkommener, als selbst die
grösseren Sammelwerke und Handbücher eine eingehendere Darstellung
gerade des allgemeinen Theiles des öffentlichen Gesundheitswesens in der
Regel vermissen lassen.
Im ersten Theil giebt der Verf. einen kurzen Abriss der geschicht¬
lichen Entwickelung des öffentlichen Gesundheitswesens vom Alterthum bis
zur Neuzeit, um sodann den Begriff des öffentlichen Gesundheitswesens,
seine Aufgaben und deren Durchführung sowie die Organisation der Ver¬
waltung im Allgemeinen und in den einzelnen in- und aussereuropäischen
Staaten zu besprechen. Der zweite Theil bringt die wichtigsten gesetz¬
lichen Bestimmungen über die Organisation des öffentlichen Gesundheits¬
wesens in verschiedenen Culturstaaten (Preussen, Sachsen, Hamburg,
Oesterreich, Ungarn, Schweiz, Italien, Portugal, Niederlande, England,
Rumänien) im Wortlaut, eine Zusammenstellung, die nicht bloss mannigfache
Vergleichungen und Betrachtungen anregt, sondern auch an sich ausser¬
ordentlich lehrreich ist.
Eine Durchsicht der einzelnen Abschnitte, die nichts Wissenswerthes
vermissen lassen, lehrt, dass der auf diesem Gebiet besonders erfahrene und
bewährte Verfasser die ihm gestellte Aufgabe in vorzüglicher Weise ge¬
löst hat.
Das Buch ist nicht nur für Fachkreise, Medicinalbeamte, Hygieniker,
Aerzte und Verwaltungsbeamte, sondern auch für alle Diejenigen bestimmt,
die sich mit volkswirthschaftlichen Fragen, unter denen die öffentliche Ge¬
sundheitspflege eine äusserst wichtige Rolle spielt, beschäftigen. Jeder, der
von dem Inhalt des vorliegenden Bandes Kenntniss genommen hat, wird mit
Interesse dem Erscheinen des von demselben Verfasser bearbeiteten spe-
cieilen Theiles des öffentlichen Gesundheitswesens entgegensehen.
Roth (Potsdam).
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172
Kritiken und Besprechungen.
Schlockow — Roth-Leppmann: Der Kreisarzt. (Neue Folge von:
Der Preussisohe Physicus.) Anleitung zur Kreisarztprüfung,
zur Geschäftsführung der Medicinalbeamten und zur Sachverständigen-
thätigkeit der Aerzte. Unter Berücksichtigung der Reichs- und Landes-
gesetzgebung. Fünfte vermehrte und verbesserte Auflage. Bearbeitet
von Dr. E. Roth, Reg.- u. Geh. Med.-Rath in Potsdam, Dr. A. Lepp-
mann, Kreisarzt und Medicinalrath, ärztlichem Leiter der Strafanstalt
Moabit. Zwei Bände. Bd. 1: Medicinal- und Sanitätswesen.
Berlin, Richard Schoetz, 1901. gr. 8. Preis der beiden Bande
22 Mk., gebunden 25 Mk.
Der zweite Band des Werkes ist vor dem ersten erschienen und schon
in dieser Zeitschrift besprochen worden l ). Der erste Band konnte jetzt
erst erscheinen, nachdem die Dienstanweisung für die Kreisärzte veröffent¬
licht war.
In der bisherigen Gliederung des Werkes hinsichtlich der Gesetzgebung
und der Behandlung der gerichtlichen Medicin sowie der gerichtlichen
Psychiatrie ist nichts geändert. Die Bestimmungen des bürgerlichen Gesetz¬
buches sind in den zweiten Band aufgenommen und nach den bisher er¬
gangenen Entscheidungen und Auslegungen gedeutet und erläutert. Dadurch
hat der zweite Band in der neuen Auflage eine geringe Vermehrung der
Seitenzahl erfahren.
Der Umfang des ersten Bandes ist durch die Berücksichtigung aller
neuen Gesetze, insbesondere des Gesetzes über die Dienststellung des Kreis¬
arztes und die Bildung von GesundheitscommiBsionen vom 16. September
1899 und der unter dem 23. März 1900 erlassenen Dienstanweisung für die
Kreisärzte, sowie des Reichsgesetzes über die Bekämpfung gemeingefähr¬
licher Krankheiten vom 30. Juni 1900 und der dazu ergangenen Erlasse
erheblich gewachsen und statt der 507 Seiten der vierten Auflage auf
691 Seiten Text angeschwollen.
Das chronologische Verzeichniss musste in den zuletzt erschienenen
ersten Band verlegt werden.
Ausser den umfangreichen neuen Gesetzen und deren Erläuterungen
findet man alle bis zum Abschlüsse des Druckes veröffentlichten Ministerial¬
erlasse bis Ende Juni 1901. Alle Vorschriften sind immer, soweit erforder¬
lich und möglich, mit den entsprechenden Paragraphen der Dienstanweisung
für die Kreisärzte in Verbindung gebracht.
Behufs Bekämpfung der Tuberculose ist S. 477 ff. auf die Beschlüsse
des Tuberculosecongresses in Berlin 1898 hingewiesen.
Für die Ausübung der Wohnungshygiene werden die an die Oberpräsi¬
denten und Regierungspräsidenten gerichteten Erlasse vom 19. März 1901,
S. 544 ff., mitgetheilt u. s. w.
Man kann den Verfassern die Anerkennung nicht .versagen, dass sie in
der neuen Auflage den „Preussischen Physicus u mit grossem Geschick und
grosser Sorgfalt in den „Kreisarzt" zeitgemäss urogestaltet haben.
Die Ausstattung des Buches ist, wie stets im Verlage von R. Schoetz,
tadellos. Das Buch sei Beamten und Aerzten warm empfohlen.
- M. P.
s. diese Vierteljabrsschrift Bd. XXXII, S. 637.
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173
Kritiken und Besprechungen.
Dr. Ernst Joest: Grundzüge der baoteriologisohen Diagno¬
stik der thierisohen Infeotionskrankheiten. Berlin, Richard
Schoetz, 1901. gr. 8«. 75 S. Preis 2 Mk.
Bei der grossen Bedeutung, welche der bacteriologischen Diagnostik
auch in dem Bereiche der Thiermedicin beizulegen ist, erschien es dem Verf.
angezeigt, die Grundzüge dieser Bacteriologie der thiermedicinischen Dia¬
gnostik für den Praktiker kurz zusammeftzustellen, nachdem ein von ihm in
dem Vereine der Thierärzte des Regierungsbezirkes Wiesbaden gehaltener
Vortrag über allgemeine bacteriologische Diagnostik die Anregung dazu ge¬
geben hatte. Verf. setzte es sich dabei zum Ziele, nicht nur die speciellen
Vorschriften der Methodik des Bacteriennachweises zu geben, sondern auch
auf die allgemeinen Gesichtspunkte hinzu weisen, welche bei den bacteriolo¬
gischen Untersuchungen zu beachten sind.
Zunächst erörtert er die bacterioskopische Untersuchung, in erster Linie
die Untersuchung ungefärbter lebender Bacterien und diejenige gefärbter Bac-
terien, die diagnostische Beurtheilung mikroskopischer Bacterienfunde über¬
haupt, sowie die verschiedenen in Betracht zu ziehenden Färbungsverfahren.
Es folgt die Erläuterung des Culturverfahrens, des Thierversuches, der dia¬
gnostischen Impfung mit Bacterienextracten und der Serodiagnostik.
Das Büchlein empfiehlt sich durch die übersichtliche Anordnung des
Stoffes, sowie durch die Klarheit und Kürze des Ausdruckes. D.
Medicinalrath Dr. Hensgen: Leitfaden für Desinfectoren. An¬
leitung zur Vernichtung und Beseitigung der Ansteckungsstoffe. Im
amtlichen Aufträge herausgegeben. Berlin, Richard Schoetz, 1901,
kl. 8°. 71 S. Preis 1’50 Mk.
Angesichts der Bedeutung, welche der Desinfection bei der Seuchen¬
bekämpfung zukommt, wird die Forderung nach einer ausreichenden Anzahl
von gut ausgebildeten und beaufsichtigten Desinfectoren immer dringender.
Demgemäss wächst auch das Bedürfniss nach einem, den Fortschritten der
Wissenschaft entsprechenden Leitfaden für Desinfectoren und scheint im
Besonderen in dem Bezirke Arnsberg dazu geführt zu haben, dass dem Verf.
der amtliche Auftrag zur Fertigstellung eines solchen Leitfadens ertheilt
worden ist. Diesem Aufträge ist Verf. in geschickterWeise gerecht geworden.
Seit dem im Jahre 1895 ebenfalls in dem Verlage von Richard Schoetz
erschienen Leitfaden Alexander 1 s ist kein so brauchbares Vorbereitungs¬
büchlein zur Anleitung für Desinfectoren herausgegeben worden, wie
das vorliegende. Vor Al ex an der’s Leitfaden hat es, abgesehen von
der Berücksichtigung der in den letzten Jahren gemachten Fortschritte
in der Desinfection, insbesondere der Formalindesinfection, den Vorzug
grösserer Knappheit und einer für den Leserkreis, für den es bestimmt ist,
geläufigeren Ausdrucksweise voraus. Der letzte Abschnitt des Büchleins
bandelt vom Desinfector und Gesundheitsaufseher. Er stützt sich auf
die von dem Regierungspräsidenten in Arnsberg unter dem 6. Mai 1901
erlassene „Ordnung für Desinfectoren und Gesundheitsaufseher“, wonach
diesen Beamten die Verpflichtung obliegt, den Kreisarzt in der Seuchen¬
bekämpfung zu unterstützen, Wohnungen zu untersuchen, Abortanlagen zu
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174
Kritiken und Besprechungen.
besichtigen, die Reinhaltung der einheimischen öffentlichen Wasserläufe zu
controliren, sowie die Wasserversorgungsanlagen zu beaufsichtigen, indem
sie von Zeit zu Zeit die Bacterienkeime zählen und ihrer Vorgesetzten Be¬
hörde über das Anwachsen der Keime sofort Bericht erstatten.
Dem Texte des Büchleins sind neun Anlagen beigegeben, welche, ab¬
gesehen von der „Desinfectionsan Weisung bei Pest“, sich als Sonderver¬
fügungen des Regierungspräsidenten in Arnsberg darstellen. D.
Dr. Fritz Kirstein: Leitfaden für Desinfeotoren in Frage und
Antwort. Berlin, Julius Springer, 1901. 12. 36 S. mit 14 Bei-
lagen.
Der langjährige Assistent Gaffky’s hat in dem vorliegenden Büchlein
auf wenigen Seiten alles das behandelt, was der Desinfector wissen muss
und was er in seinem Berufe auszuführen hat. Das wesentlich Neue an
dem Büchlein ist, dass die praktische Formalin-Wohnungs-Desinfection nach
Flügge aufgenommen und bis ins Detail genau angegeben ist. Das
Ganze ist in so leicht verständlicher Form und doch so umfassend her¬
gestellt, dass wir das Werkchen angelegentlichst zum Gebrauche bei Des-
infectionscursen sowie zum ständigen Gebrauch der Desinfeotoren empfehlen
können. Ausserdem ist dem Büchlein eine Anzahl Exemplare von Tabellen,
welche an die Desinfeotoren zu vertheilen sind, beigegeben. Wir wünschen
dem Büchlein eine grosse Verbreitung.
M. Neisser (Frankfurt a. M.).
Hofrath Dr. Blass: Die Impfung und ihre Technik. Zweite
Auflage. Leipzig, Naumann, 1901. 83 S.
Der Verfasser, der zur Bearbeitung eines derartigen Werkes durch
seine Stellung als Vorstand eines Impfinstitutes und eines grossen Impf¬
bezirkes ganz besonders berufen ist, hat seine Aufgabe vorzüglich gelöst
Er hat nach einem kurzen historischen Ueberblick über die Blattern und
die Impfung sich ausführlich über den Nutzen der Impfung, über die Dauer
der Immunität, über das Verfahren bei der Impfung, über den Verlauf der¬
selben, über Abweichungen dabei, über Complicationen der Impfung, über
die Bereitung der Lymphe und über die Impfgegner ausgesprochen. Zum
Schluss sind das Impfgesetz, sowie die Beschlüsse des Bundesrathes vom
28. Juni 1899 angefügt.
Das Büchlein kann jedem praktischen Arzte und Medicin Studirenden
aufs Wärmste empfohlen werden. Die Ausstattung ist tadellos. Fl.-Pl.
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Neu erschienene Schriften.
175
Neu erschienene Schriften über öffentliche
Gesundheitspflege.
(91. Yerzeichniss.)
1. Allgemeines.
Arbeiten aus dem kaiserlichen Geßundheitsamte. Bd. XVIII, Heft 2. Berlin,
Springer, 1901. Lex.-8. S. 169 — 869 mit 5 Tafeln. 12 M.
Arnould, Dr., Prof.: Nouveaux elements d’hygiene. 4« edition. Paris, Bailiiere,
1902. gr. 8. 1400 p. avec 300 fignreß. 20 fr cs.
Felix, J., Dr.: Istoria igienei in Romania in secolul al XIX-lea si starea ei la
inceputul seco lului al XX - lea. Partea I. Bucuresci, Instit. de arte graßce
Carol Gobi. 1901. Lex. 4. 372 p.
GesimcLheitsbüohlein. Gemeinfassliche Anleitung zur Gesundheitspflege. Be¬
arbeitet im kaiserl. Gesundheitsamt. Neunter, durchgesehener Abdruck.
Berlin, Springer, 1901. 8. XII — 260 S. mit Abbildungen im Text und zwei
farbigen Tafeln. 1 M.
Gottstein, A., Dr.: Geschichte der Hygiene im neunzehnten Jahrhundert. Ab¬
theilung IX von: Das Deutsche Jahrhundert in Einzelschriften, herausgegeben
von G. Stockhausen. Berlin, Schneider, 1901. 331 S.
v. Hansemann, D. 4 Dr., Prof.: Die Krankheiten aus den Gewohnheiten und
Missbrauchen des täglichen Lebens. Sechs populäre Vorträge. Berlin,
Reimer, 1901. gr. 8. III —62 S. 0*60 M.
v. Hippel, Dr., Reg.-Assesßor: Gesetz, betr. die Dienststellung des Kreisarztes
und die Bildung von Gesundheitscommissionen, vom 16. September 1899,
nebst Ausführungsbestimmungen und Anhang. Leipzig, Hirschfeld, 1901.
12. VII — 230 S. 2*80 M.
Hyvert, R., Dr.: Conferences populaires d’hygiene pratique. Paris, Delagrave,
1901. 12. 1*75 frcs.
Taylor, Albert: The sanitary inspector’s handbook. 3« 1 edition. London, Lewis,
1901. 8. 426 p. 6 sh.
Weyl, Th., Dr.: Handbuch der Hygiene. Erster Supplementband. Jena, Fischer,
1901. gr. 8. 74, 86 und 86 S. mit 6 Abbildungen und 17 Curventafeln im
Text. 6 M.
2. Statistik und Jahresberichte.
Bericht des Medicinalraths über die medicinische Statistik des Hamburgischen
Staates für das Jahr 1900. Hamburg, 1901. 4. 106 S. mit 5 Abbildungen
im Text und 9 Tafeln.
Flinzer, Max, Dr., Obermedicinalrath: Mittheilungen des statistischen Amtes der
Stadt Chemnitz. Achtes Heft: Die Bewegung der Bevölkerung von Chemnitz
in den Jahren 1881 bis 1884, mit besonderer Berücksichtigung der Todes¬
ursachen. Chemnitz, Focke, 1901. Fol. 106 S.
Gebhard, Director: Die Handhabung des Heilverfahrens bei Versicherten (§. 18
des Invalidenversicherungsgesetzes) durch die Landesversicherungsanstalt
der Hansestädte im Jahre 1900 und Ergebnisse des Heilverfahrens bei lungen¬
kranken Versicherten bis Ende 1900. Hamburg, Druck von Lütike <fc Wolff,
1901. 4. 51 S.
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17(5 Neu erschienene Schriften.
Gesundheitsverhältnisse Hamburgs, Die — im neunzehnten Jahrhundert.
Den ärztlichen Theilnehmern der 73. Versammlung Deutscher Naturforscher
und Aerzte gewidmet von dem Medicinalcollegium. Hamburg, Voss, 1901.
gr. 4. 327 S. mit 76 Abbildungen im Text und 3 Tafeln.
Medicinalberieht von Württemberg für das Jahr 1899. Im Aufträge des kgl.
Ministeriums des Innern herausgegeben von dem kgl. Medicinalcollegium.
Stuttgart, Druck von Pohlhammer, 1901. Lex.-8. 148 S. mit 2 Uebersichts-
karten.
Oesterreiohisohe Statistik, herausgegeben von der k. k. statistischen Central-
commission, 59. Band, 1. Heft: Statistik des Sanitätswesens für das Jahr 1898.
Wien, Gerold, 1901. Imp. 4. XXXIII —248 S. 10 M.
Verslag omtrent de verrichtingen van den gemeentelijken gezondheidsdienst te
Amsterdam over 1900. Amsterdam, 1901. gr. 8. 96 S.
Volks- und Wohnungszählung vom 1. December 1900 in München. I. Theil:
Die Volkszählung; II. Theil: Die Wohnungszählung. München, Lindauer,
1901. gr. 4. 56 und 56* S. 2 M.
Weinberg, W., Dr.: Medicinisch-statistischer Jahresbericht über die Stadt Stutt¬
gart im Jahre 1900. 28. Jahrgang. Herausgegeben vom ärztlichen Verein.
Stuttgart, Metzler’sche Buchdruckerei, 1901. 8. 72 S. 1 M.
Westergaard, Harald: Die Lehre von der Mortalität und Morbidität. Anthro¬
pologisch-statistische Untersuchungen. Zweite Auflage. Jena, Fischer, 1901.
gr. 8. VII — 702 S. 20 M.
Zähor, Heinrich, Dr., Stadtphysicus: XII. bis XV. Jahresbericht des Physicates
über die Gesundheiteverhältnisse der kgl. Hauptstadt Prag für die Jahre
1893 bis 1896. Prag, Verlag der Gemeinderenten, 1900. Lex. - 8. 575 S.
3. Wasserversorgung, Entwässerung und Abfuhr.
Brix, J.: Ueber Schnellfilter. Unter Berücksichtigung der Patentschnellfilter der
allgemeinen Städtereinigungsgesellschaft Wiesbaden. Leipzig, Leineweber,
1901. gr. 8. 8 S. mit 6 Figuren. 0*70 M.
Degener, Paul, Dr.: Principien der Städtereinigung. Vortrag. Leipzig, Leine¬
weber, 1901. gr. 8. 39 S. 1 M.
Denton, E. Bailey: The water supply and sewerage of country mansions and
estates. London, Spon, 1901. 8. 84 p. 2 sh. 6 p.
Gesohäftsanweisung und Gebührenordnung der kgl. Versuchs- und Prüfungs¬
anstalt für Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung. Berlin, Hirschwald,
1901. gr. 8. 14 S. 0*15 M.
Horrocks, R. H.: An introduction to the bacteriological examination of water.
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Marpm&nn, Georg: Beiträge zur Trinkwasseruntersuchung. Leipzig, Schimmel¬
witz, 1901. gr. 8. 15 S. 0*50 M.
4. Strassen-, Bau- und Wohnungshygiene.
Bausystem, Offenes oder geschlossenes —? Eine Umfrage unter den Aerzten
Münchens, veranstaltet vom Verein zur Förderung der Interessen Thal-
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Geschäftsbericht des Vereins für Förderung des Arbeiterwohnungswesens und
verwandte Bestrebungen für das Jahr 1900. Bericht über die in Gemein¬
schaft mit dem Verband der Baugenossenschaften Deutschlands abgehaltene
Versammlung vom 15. Mai 1901. Vorträge und Berichte von Oberbürger¬
meister Dr. Antoni, Oberbaurath Prof. Baumeister, Oberbürgermeister
Dr. Adiek es und Kaufmann Heinze. Frankfurt a. M., Detloff, 1901. gr. 8.
62 S. 0*75 M.
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Gräv&l, A.: Die Bangenossenschaftsfrage. Ein Bericht über die Ausbreitung
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Berlin, Schuster & Bufleb, 1901. Lex. - 8. 316, 61 und 4 S. mit 17 Tabellen.
8 M.
Krell, Otto, Ingenieur: Altrömische Heizungen. München, Oldenbourg, 1901.
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Oehmeke, Th., Reg.- und Baurath a. D.: Mittheilungen über die Luft in Ver¬
sammlungssälen, Schulen und in Häusern für öffentliche Erholung und Be¬
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1901. gr. 8. 68 S. 2*50 M.
Reichesberg, Julian, Dr.: Die Arbeiterwohnungsfrage und die Vorschläge zu
ihrer Lösung. Bern, Sturzenegger, 1901. gr. 8. 29 S. 0*80 M.
Untersuchungen, Neue — über die Wohnungsfrage in Deutschland und im
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land und Oesterreich. 1. Abtheilung. Leipzig, Duncker & Humblot, 1901.
gr. 8. IX — 384 S. 9*60 M.
Weyl, Th., Dr.: Fortschritte der Strassenhygiene. 1. Heft. Jena, Fischer, 1901.
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5. Schulhygiene.
Burgerstein, Leo, Dr.: Notizen zur Hygiene des Unterrichts und des Lehrer¬
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Foveau de CourmeUes: Hygiene scolaire. Paris, 1901. 8. 11 p. avec 4 fig.
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1901. Berlin, Harwitz, 1901. gr. 8. 7 S.
Betruschky, J., Dr., Dir.: Bericht über die im Jahre 1898 und 1899 angestellte
Schulenquete. Leipzig, Leineweber, 1901. gr. 8. 27 S.
W'ehrhahn, Dr. und Henze: Bericht über den dritten Verbandstag der Hülfs-
schulen Deutschlands zu Augsburg am 10., 11. und 12. April 1901. Langen¬
salza, Druck von Beyer, 1901. gr. 8. 168 S.
6. Hospitäler und Krankenpflege.
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1902. gr. 8. 77 S. 1 M.
Buxbaum, B., Dr.: Technik der Wasseranwendungen. Belehrung für Bade¬
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CLenery, Margaret: Pocket Handbook for monthly nurses. London, Simpkin,
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Flesch, Max, Dr., Prof.: Die Hauspflege. Ihre Begründung und Organisation
in Hauspflegevereinen. Jena, Fischer, 1901. gr. 8. 43 S. 0*75 M.
Ingerle, Stefan, Dr.: Die Anstalten für Reconvalescenten, Erholungsbedürftige
und Tuberculöse der Krankencassen und Landesversicherungsanstalten
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dungen. 4 M.
Vierteljahnschrift für Gesundheitspflege, 1902. 12
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178
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Mendelsohn, Martin, Dr., Prof.: Die Krankenpflege. Monatsschrift für die ge-
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schaft und Praxis. Erster Jahrgang (12 Hefte). 1. Heft. Berlin, Reimer,
1901. Lex. - 8. 96 S. mit Abbildungen. Halbjährlich 6 M.
Mendelsolm, Martin, Dr., Prof.: Ueber die Nothwendigkeit der Errichtung von
Heilstätten für Herzkranke. Vortrag. Berlin, Reimer, 1901. gr. 8. 15 S.
0*30 M.
Meyer, George, Dr.: Zur Organisation des Rettungswesens. Jena, Fischer, 1901.
gr. 8. 40 S. 1*20 M.
v. Pezold, A.: Bericht über die Thätigkeit des Evangelischen Sanatoriums für
Lungenkranke zu Pitkäjärvi vom 1. Januar bis 30. December 1900. St. Peters¬
burg, 1901. 4. 41 S.
Raynaud, C.: Le Sanatorium d’Argeles. These. Paris, Steinheil, 1901. 8. 15Gp.
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Rühlemann, G. A., Dr., Generalarzt a. D.: Erste Nächstenhülfe bei Unfällen
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bildungen. 0*75 M.
Spiegel, Ignatz, Dr.: Einführung in die erste Hülfe bei Unfällen. Für Samariter-
curse und zur Selbstbelehrung gemeinverständlich dargestellt. Zweite Auf¬
lage. Wien, Perles, 1902. 8. VIII — 202 S. mit 40 Abbildungen und
3 Tafeln. 2*50 M.
Stangenberger, Johannes: Unter dem Deckmantel der Barmherzigkeit. Die
Schwesternpflege in den Krankenhäusern. Ein Mahnwort an Eltern und
Vormünder. Berlin, Walther, 1901. gr. 8. 48 S. 0*50 M.
Tillid, G.: L’Assistance publique et la bienfaisance privee. Paris, Bibliotheque
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7. Militär- und Schiffshygiene.
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Stier, Ewald, Dr.: Ueber Verhütung und Behandlung von Geisteskrankheiten
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8. Infectionskrankheiten und Desinfection.
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Baudin, Henri: Contribution ä Petude du traitement de Pinfection puerperale.
These. Paris, Boyer, 1901. 8. 88 p.
v. Baumgarten, Dr., Prof., und Prof. Dr. F. Tangl: Jahresbericht über die
Fortschritte in der Lehre von den pathogenen Organismen, umfassend Bac-
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180 Neu erschienene Schriften.
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Ziegelroth, Dr.: Zur Abwehr der Krebsgefahr. Eine Studie über die Ursachen
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9. Hygiene des Kindes.
Breithaupt, Adolphine: Mutterpflicht und Kindespflege. Eiu Weihegeschenk
aus Mutterhand für Deutschlands Frauen und Bräute. Zweite Auflage.
Chemnitz, Richter, 1901. 8. VIII —188 S. 3 M.
v. Bunge, G., Dr. Prof.: Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen, ihre Kinder
* zu stillen. Die Ursachen dieser Unfähigkeit, die Mittel zur Verhütung.
Zweite Auflage. München, Reinhardt, 1902. gr. 8. 32 S. 0*80 M.
Custer, Gustav, Dr.: Grundsätze für die Gesundheitspflege des Kindes im ersten
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182 Neu erschienene Schriften.
Lebensjahr (Säuglingsalter). Siebente Auflage. Leipzig, Schröter, 1901.
gr. 8. 28 S. 0 25 M.
Czerny, A., Dir., Prof, und Dr. A.Keller: Des Kindes Ernährung, Ernährungs¬
störungen und Ernährungstherapie. Ein Handbuch für Aerzte. Zweite Ab¬
theilung. Wien, Deuticke, 1901. gr. 8. S. 161 bis 320 mit einer farbigen
Tafel. 4*50 M.
Gnaita, R.: L’igiene della alimentazione del bambino dopo lo slattamento.
Milano, Marchi, 1900. 8. 24 p.
Hauser, W., Dr., Ober-Med.-Rath: Die Säuglingssterblichkeit, ihre Ursachen und
ihre Bekämpfung. Leipzig, Konegen, 1901. gr. 8. 24 S. mit 1 graphischen
Tafel. 1 M.
Sprinz, Oscar: Ueber die Möglichkeit, sterilisirte Kindermilch und pasteurisirten
Rahm herzustellen. Inaugural-Dissertation. Würzburg, 1901.
Thiollier, Maurice: Quelques considerations sur la marche normale et les causes
du retard de la marche chez l’enfant. These. Paris, Boy er, 1901. 8. 171 p.
Zander, Carl: Ueber die Brauchbarkeit des Milchthermophors. Inaugural-
Dissertation. Halle, 1901. 8. 32 S.
10. Yariola und Yaccination.
Champ, M.: De la variole congenitale. These. Paris, 1901.
Delon, Louis: De Tinfluence de la vaccine sur la variole. These. Paris,
RousBet, 1901. 8. 62 p.
Faidherbe, A.: Immunite vaccinale congenitale. Lille, 1901. 8. 12 p.
11. Prostitution und Syphilis.
Bloch, Iwan, Dr.: Der Ursprung der Syphilis. Eine medicinische und cultur-
geschichtliche Untersuchung. Erste Abtheilung. Jena, Fischer, 1901. gr. 8.
XIV — 313 S. 6 M.
Block, Felix: Welche Maassnahmeu können behufs Steuerung der Zunahme der
Geschlechtskrankheiten ergriffen werden ? Leipzig, Breitkopf <fe Härtel, 1901.
gr. 8. 30 S. 0 75 M.
Dufour, P.: Geschichte der Prostitution. Bd. IV: Frankreich. Deutsch von
B. Schweigger, fortgeführt und bis zur Neuzeit ergänzt von F. Helbing.
Berlin, Gnadenfeld, 1901. Lex.-8. 223 S. 6 M.
Hermann, Josef, Dr.: Neue Lehre über das Wesen und die Heilbarkeit der
Syphilis. Leipzig, Otto, 1901. gr. 8. 100 S. 1*60 M.
de Meric, H.: Syphilis and other veneral diseases. London, Bailliere, Tindall
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de Morsier, A.: La Police des moeurs en France. Paris, Stock, 1901. 8. 3 frcs.
Parent-Duchatelet et Ricard: La Prostitution contemporaine ä Paris, en
province et en Algerie. Paris, Charles, 1901. 12. 3 frcs.
12. Gewerbe- und Berufshygiene.
Coquin, L. P. M.: Hygiene et pathologie des pecheurs de morue ä Terre-Neuve
et en Islande. These. Bordeaux, 1900. 8. 154 p.
Freund, Leopold, Dr.: Die Berufskrankheiten und ihre Verhütung, mit beson¬
derer Berücksichtigung der graphischen Gewerbe. Nebst einer Anleitung
zur ersten Hülfeleistung bei plötzlichen Unglücksfällen. Halle, Knapp, 1901.
gr. 8. VIII - 124 S. 3 M.
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Neu erschienene Schriften.
183
13. Nahrungsmittel.
Baccioni, G. B.: La vigilanza igienica degli alimenti: note d’igiene pratica e di
bromatologia. Torino, Bocca, 1901. 8. VII — 415 p.
Baelz, E., Dr., Prof.: Nährwerth der Nahrungsmittel. Berlin, Rothacker, 1901.
gr. 4. 1 farbiges Blatt. 0*30 M.
Barthel, Christian: Bacteriologie des Meiereiwesens. Aus dem Schwedischen
von Dr. Johannes Kaufmann. Leipzig, Heinsius, 1901. gr. 8. IV—131 S.
mit 13 Abbildungen. 2*50 M.
Beulshausen, F.: Zur Kenntniss der Ursache des Klebrigwerdens von Brot.
Inaugural-Dissertation. Rostock, 1901. 8. 23 S.
v. Buchka, K., Dr., Prof., Reg.-Rath: Die Nahrungsmittelgesetzgebung im
Deutschen Reiche. Eine Sammlung der Gesetze und wichtigsten Verord¬
nungen, betr. den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Ge-
brauchsgegenstanden, nebst den amtlichen Anweisungen zur chemischen
Untersuchung derselben. Berlin, Springer, 1901. 8. XX — 276 S. mit Ab¬
bildungen. 4 M.
Chilläs, A. A.: Zur Frage des Vorkommens von Bacterien in den Organen von
Schlachtthieren. Inaugural-Dissertation. Strassburg i. E., 1901. 8. 40 S.
Gesetz, betr. den Verkehr mit Wein, weinhaltigen und weinähnlichen Getränken,
vom 24. Mai 1901. Kreuznach, Harrach, 1901. 8. 15 S. 0*50 M.
Baig, A.: Diet and food considered in relation to strength and power of endu-
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12. 110 p. with 5 figures.
Koch, R., Dr., Geh. Sanitäts-Rath: Wie ernähren wir uns gesundheitsgemäss?
Berlin, Steinitz, 1902. gr. 8. 96 S. mit Abbildungen. 1 M.
Leffmann, H. and W. Beam: Select methods in food analysis. Philadelphia,
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Morot: Les Viandes impropres a Palimentation humaine. Paris, Bailiiere, 1901.
8. 4 frcs.
Breiss, Meyer: Zur Frage über die Beschaffenheit der sibirischen Kuhbutter
vom chemisch - hygienischen Standpunkte. Inaugural-Dissertation. Berlin,
Günther, 1901. gr. 8. 29 S. 0*50 M.
de Rothschild, H., Dr.: Pasteurisation et Sterilisation du lait. Paris, Doin,
1901. 16. 96 p. avec 33 figures. 1*50 frcs.
Schlesinger, Hermann, Dr.: Die Bereitung der Krankenkost. Lehrgang in zehn
Abenden. Mit Vorrede von Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Oscar Liebreich.
Frankfurt a. M., Alt, 1902. 8. VII —170 S. 2 M.
Tschirch, A., Dr., Prof, und Dr. O. Oesterle: Anatomischer Atlas der Pharma¬
kognosie und Nahrungsmittelkunde. Leipzig, Tauchnitz, 1900. gr. 4. 351 S.
mit circa 2000 Originalzeichnungen auf 81 Tafeln. 26*50 M.
Anhang: Alkoholismus.
Baratier, A., Dr.: Les Victimes de Palcool. Paris, Edition mutuelle, 1901. 16.
130 p. 2*50 frcs.
Bayer, Anna, Dr.: Wir Frauen und der Alkoholismus. Vortrag. Basel, Rein¬
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v. Bunge, G., Dr., Prof.: Die Alkoholfrage. Vortrag. Nebst einem Anhang:
Ein Wort an die Arbeiter. Basel, Reinhardt, 1901. 8. 44 S. 0*50 M.
Buxton, Charles: B[ow to stop drunkenness. London, Churchill, 1901. 8. VI
— 80 p. 1 sh.
Chaudet: Pourquoi entrer dans une Societe de temperance? Les Societes de
temperance, historique, but, importance. Le Mans, 1901. 8. 44 p.
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184
Neu erschienene Schriften.
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Trust Movement. London, Ch. of Eng. Temp. Soo., 1901. 8. 16 p. 1 p.
Delbrück, A., Dr.: Hygiene des Alkoholismus. Jena, Fischer, 1901. gr. 8. 85 S.
mit 10 Curventafeln. 2*50 M.
Forel, August, Dr., Prof.: Die Trinksitten, ihre hygienische und sociale Bedeu¬
tung. Ihre Beziehungen zur akademischen Jugend. Ansprache. Basel,
Reinhardt, 1901. 8. 50 S. 0*50 M.
Frick, Adolf, Dr.: Der Einfluss der geistigen Getränke auf die Kinder. Vor¬
trag. Basel, Reinhardt, 1901. 8. 43 S. 0*50 M.
Ganser, S., Dr., Oberarzt: Die Trunksucht eine heibare Krankheit. Vortrag.
Dresden, Böhmert, 1901. gr. 8. 22 S. 0*20 M.
Gaule, J., Dr., Prof.: Wie wirkt der Alkohol auf den Menschen? Vortrag.
Nebst einem Anhang: Ueber den Alkoholgenuss vom Standpunkte der
Physiologie. Basel, Reinhardt, 1901. 8. 42 S. 0*50 M.
Hoppe, Hugo, Dr.: Die Thatsachen über den Alkohol. Zweite Auflage. Berlin,
Calvary, 1901. gr. 8. XII — 375 S. mit zahlreichen statist. Tabellen. 5 M.
Kassowitz, Max, Dr., Prof.: Alkoholismus im Kindesalter. Berlin, Karger. 1902.
gr. 8. 32 S. 0 80 M.
Lang, Otto, Oberrichter: Alkoholgenuss und Verbrechen. Vortrag. Basel,
Reinhardt, 1901. 8. 59 S. 0*50 M.
Legrain et M me Legrain: La Reforme du cabaret et les restaurants de tempe-
rance. Paris, 1901. 8. 130 p.
Verschiedenes.
Hirschfeld, Magnus, Dr.: Für wen und wie ist Radfahren gesund? Berlin,
Tessaro-Verlag, 1901. 8. 30 S. 0*50 M.
Thierseh, Justus, Dr.: Die Schädigung des weiblichen Körpers durch fehler¬
hafte Kleidung, nebst Bemerkungen über die Verbesserung der Frauen¬
kleidung. Berlin, Walther, 1901. g. 8. 45 S. mit Figuren. 1 M.
Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder. Herausgegeben
von dem geschäftsführenden Ausschuss. Fünftes und sechstes Heft. Berlin,
Hirschwald, 1901. gr. 8. 79 und 41 S.
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Dr. Paul Schenk, Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren etc. 18Ö
Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren
im Kleingewerbe und in der Hausindustrie, vom
gesundheitlichen und sittlichen Standpunkte
betrachtet.
Von Dr. Paul Schenk, Berlin.
Die Arbeiterschutzgesetzgebung hat der gewerblichen Beschäftigung
von schulpflichtigen Kindern in den Fabriken bereits im Jahre 1891 ein
Ende gemacht. Die Gewerbeordnungsnovelle vom 1. Juni 1891 bestimmt
in §. 135: „Kinder unter 13 Jahren dürfen in Fabriken nicht beschäftigt
werden. Kinder über 13 Jahre dürfen in Fabriken nur beschäftigt werden,
wenn sie nicht mehr zum Besuche der Volksschule verpflichtet sind. — Die
Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren darf die Dauer von sechs Stunden
täglich nicht überschreiten. “ Wer Kinder unter 14 Jahren in einer Fabrik
beschäftigen will, muss hiervon der Ortspolizeibehörde vorher schriftlich
Anzeige machen (G.-O. §. 138, Abs. 1). In der Anzeige sind genau anzu¬
geben: die Fabrik, die Wochentage, an welchen die Beschäftigung statt¬
finden soll, Beginn und Ende der Arbeitszeit und der Pausen, Art der Be¬
schäftigung. Nach den Berichten der Gewerberäthe sank die Zahl der in
Fabriken und in den in der Gewerbeordnung ihnen gleichgestellten Anlagen
beschäftigten Kinder von 27 485 im Jahre 1890 auf 11 212 im Jahre 1892,
4327 im Jahre 1895 und bis auf 1546 im Jahre 1899. Dagegen hat die
Kinderarbeit im Handwerk und in der Hausindustrie sowie bei sonstiger
gewerblicher Beschäftigung einen erheblichen Umfang angenommen. Hier
fehlen bisher noch immer durchgreifende gesetzliche Bestimmungen, obgleich
die Ausdehnung der Fabrikgesetzgebung auf andere Werkstätten und
namentlich auf die Hausindustrie bereits 1891 als nothwendig erkannt war.
Im Februar 1898 wurden über den Umfang der gewerblichen Kinder¬
arbeit ausserhalb der Fabriken Erhebungen seitens der deutschen Staaten
veranstaltet. Diese Erhebungen erstreckten sich fast auf das ganze Reichs¬
gebiet und ergaben, dass ausserhalb der Fabriken 532 283 Kinder gewerb¬
lich thätig waren 1 )* Die ermittelte Zahl bleibt hinter der Wirklichkeit
noch zurück, einerseits weil gewisse Gebiete des Reiches in die Erhebung
nicht einbezogen sind, andererseits eine gewisse Zahl der sonst gewerblich
beschäftigten Kinder wohl bereits zu den Frühjahrsarbeiten in der Land-
wirthschaft verwendet wurde. Schätzt man die in 40 an der Erhebung nicht
betheiligten Oberämtern Württembergs gewerblich beschäftigten Schulkinder
l ) Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reiches 1900. III: Gewerbliche
Kinderarbeit ausserhalb der Fabriken auf Grund der Erhebung vom Jahre 1898.
12 *
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186
Dr. Paul Schenk,
anf 12 000, so wären von den 8 334 919 schulpflichtigen Kindern im Deut¬
schen Reiche nahezu eine halbe Million = 6*53 Proc. gewerblich thätig.
Diese 544 283 gewerblich beschäftigten Schulkinder vertheilen sich auf
die einzelnen deutschen Bundesstaaten wie folgt:
Zahl der
volksschul-
pflichtigen
Kinder
Zahl der
gewerblich
beschäftigten
Kinder
In Procenten
Preussen.
5 209 518
269 598
5*18
Bayern.
822 165
12 997
1-58
Sachsen .
604 600
137 831
22*80
Württemberg.
299 632
19 546
6*52
Baden.
295 624
28 788
9*74
Hessen.
156 391
8 868
5*67
Mecklenburg-Schwerin.
96 918
2 235
2*31
Mecklenburg-Strelitz.
16 684
213
1-28
Sachsen - Weimar.
55 943
5 660
10*12
Sachsen-Meiningen-.
40 754
6 684
16-40
Sachsen - Altenburg.
29 584
5 686
19*24
Sachsen - Coburg - Gotha.
35 974
5 455
1516
Anhalt.
48 236
1 382
2-87
Soh warzburg - Budolstad t.
15 148
2 487
16*42
Schwarzburg • Sondershausen . . .
13 676
1456
1065
Oldenburg.
65 035
1 927
2*96
Waldeck.
10 777
62
0*58
Braunschweig.
74 104
2 932
3*96
Reuse ält. Linie.
10 988
1 488
13*54
Reusa jüng. Linie.
21 232
1 502
7*07
Schaumburg - Lippe.
6 867
417
6 07
Lippe .
25 233
1 687
6*66
Lübeck.
12 706
1 218
9*59
Bremen.
25 627
867
3-38
Hamburg.
95 574
5 419
5*67
Eisass-Lothringen.
245 876
17 878
7*27
Deutsches Reich . . . j
8 334 919
544 283
6-53
Speciell für da9 Königreich Preussen ist die Vertheilung der ausser¬
halb der Fabriken gewerblich beschäftigten schulpflichtigen Kinder aus der
Tabelle auf folgender Seite ersichtlich:
Die beiden Tabellen bestätigen die bekannte Thatsache, dass im König¬
reich Sachsen und in den sächsischen Herzogtümern ein sehr hoher Procent¬
satz Schulkinder gewerblich thätig sind, ln einzelnen Hausindustrieorten
Sachsen - Coburg - Gothas sind bis zu 86 Proc., im Kreise Sonneberg in
Sachsen-Meiningen 57 Proc. (nach der neuesten Statistik vom Mai 1891:
42 Proc.) aller Schulkinder gewerblich thätig. Den nächst höheren Procent-
satz weisen die Grossstädte auf, so z. B. Berlin 12*83 Proc., Charlottenburg
bei Berlin 10*1 Proc. Für die preussischen Provinzen Ost- und West-
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Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren im Kleingewerbe etc. 187
preusBen, Pommern, Posen, Mecklenburg ergaben sich relativ niedrige Zahlen
von unter oder wenig über 2 Proc. Hier gehen die Kinder vorwiegend der
landwirtschaftlichen Erwerbsarbeit nach. Die einzelnen gewerblichen
Beschäftigungsweisen kann man in sieben Abtheilungen gliedern: Industrie,
Handel (Waaren-Hausierhandel), Verkehr (Fuhrwesen, Botengänger, Gepäck¬
träger), Schankwirthschaft (Kegelaufsetzen, Gästebedienen), Austräger und
Ausfahrer (Austragen von Backwaaren, Milch, Würstchen, Zeitungen,
Büchern, Kohlen, Wäsche), Laufburschen, sonstige gewerbliche Thätigkeit
(bei Schaustellungen, bei Schreibern, Strassenreiniger).
Zahl der
volksschul-
pflichtigen
Kinder
Zahl der
gewerblich beschäftigten
Kinder
insgesammt
in Procenten
Ostpreussen.
323 360 1
5 781
1*79
Westpreussen.
257 029
5 515
2*15
Berlin.
196 050
25 146
12*83
Brandenburg.
425 967
23 165
5*44
Pommern.
252 966
7 008
2*77
Posen.
320 550
5 771
1*80
Schlesien.
741 352
48 456
6*54
Sachsen.
452 298
26 092
5*77
Schleswig-Holstein.
211 825
12 643
5*97
Hannover .
392 551
17 518
4*46
Westfalen.
492 875
26 286
5*33
Hessen-Nassau.
268 102
15 191
5*66
Rheinprovinz.
863 977
50 183
5*81
Hohenzollern.
10 607
843
7*95
Königreich Preussen . . .
5 209 518
269 598
5*18
Aus der folgenden Tabelle ergiebt sich die Verteilung der 532 283
Kinder, über welche Angaben vorliegen, auf diese sieben Abtheilungen.
Es wurden beschäftigt Kinder in:
Insgesammt
In Procenten
Industrie.
306 823
57*64
Handel.
17 623
3*31
Verkehr.
2 691
0*51
Gast- und Schankwirthschaft ....
21 620
4*06
Austragedienst.
135 830
2552
Gewöhnliche Laufdienste.
35 909
6*75
Sonstige gewerbliche Thätigkeit . . . j
11 787
231
Summe . . . |
532 283
100*00
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188
Dr. Paal Schenk,
Von den 306 823 industriell beschäftigten Kindern entfällt der Haupt-
antheil 143 710 auf die Textilindustrie, dann folgt die Industrie der Holz-
und Schnitzstoffe mit 41 801, Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe 40 997,
Nahrungs- und Genussmittel 27 645, Metallverarbeitung 14 358, Industrie
der Steine und Erden 12 890, Papierindustrie 8970. Bei 1425 fehlen die
näheren Angaben. Die übrig bleibenden 15 027 vertheilen sich nach der
Höhe der procentischen Betheiligung auf die folgenden zehn Gewerbe¬
gruppen: Industrie der 4 Maschinen, Instrumente etc. 4914, Baugewerbe
4225, Lederindustrie 2944, Polygraphische Gewerbe 718, Thierzucht und
Fischerei 511, chemische Industrie 509, Bergbau und Hüttenwesen 468,
Industrie der forstwirtschaftlichen Nebenproducte 329, Kunst- und Handels¬
gärtnerei 308, künstlerische Gewerbe 101.
Bei 11 891 gewerblich tätigen Kindern in Preussen ist das Alter fest¬
gestellt. Es befanden sich im Alter von:
6 bis 7 Jahren
7 „ 8 „
8 „ 9 „
9 » 10 »i
10 „ 12 „
12 „ 14 „
. . 1*5 Proc.
4*1 n
. . 7*1 „
. . 11*6 „
. . 29*5 „
- • 46*2 „
In Hessen wurden gezählt von 6 bis 10 Jahren und andererseits von
10 bis 14 Jahren beim:
Kinder von
Kegelaufsetzen.
Austragen von Backwaaren . . .
Austragen von Zeitungen . . .
Einfassen und Aufnähen von Perlen
Spulen.
Ausrippen von Tabaksblättern . .
Hasenhaarschneiden.
Hausiren.
6 bis 10 Jahren
10 bis 14 Jahren
. 305
1013
. 196
\ je eins
850
. 295
> unter
J 6 Jahren
653
. 242
252
. 161
288
. 106
94
. 95
62
. 147
76
Im Kreise Sonneberg (Sachsen - Meiningen) waren im Mai 1901 von
12 076 schulpflichtigen Kindern 5106 gewerblich tätig, davon nicht weniger
als 3579 unter 12 Jahren.
In Charlottenburg bei Berlin wurde festgestellt, dass von 357 mit Aus¬
tragen von Frühstück beschäftigten Kindern 29*1 Proc. ihre Beschäftigung
im Alter von unter 10 Jahren, 41*2 Proc. im Alter von 10 bis 12 Jahren
und 29*7 Proc. im Alter von über 12 Jahren begannen.
Noch nicht schulpflichtige Kinder ganz jugendlichen Alters finden
hauptsächlich in der Weberei Beschäftigung, sowie auch in der Posamenteu-
industrie, Stroh- und Stuhlflechterei und in der Tabaksindustrie. Im Herzog¬
thum Sachsen-Meiningen werden einzelne Kinder schon im vierten Lebens¬
jahre zur Beschäftigung in der Hausindustrie herangezogen.
Die den gewerblich thätigen Kindern aufgebürdete Arbeitslast ist im
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Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren im Kleingewerbe etc. 189
Durchschnitt eine erschreckend grosse. Ausser der Dauer der Beschäftigung
kommt hier in Betracht der Beginn und die Art derselben. Bei den im
Jahre 1898 veranstalteten Erhebungen war die Frage gestellt, wie viel von
den gewerblich thätigen Kindern mehr als drei Stunden am Tage arbeiteten
und an wie viel Tagen in der Woche diese Arbeit mehr als drei Stunden
dauerte.
In Preussen arbeiteten danach mehr als drei Stunden am Tage in:
Kinder
Proc. der in der
betr. Abtheilung
überh. thätigen
Kinder
Davon
in der Woche
6 Mal
7 Mal
Industrie.
63 357
56*06
39 378
1471
Handel.
5 366
48*11
2 089
517
Verkehr.
1 018
49*63
492
111
Gast- und Schankwirthschaft . .
6 560
47*47
841
675
Austragedienste.
19 448
19*95
5 358
Gewöhnliche Laufdienste ....
13 470
54*74
7 381
1710
Sonstige gewerbliche Thätigkeit .
1 463
19*63
394
157
110 682
41*05
55 933
7621
= 50*54
= 6*89
I
Proc.
Proc.
Von allen mehr als drei Stunden täglich beschäftigten Kindern ver¬
richteten also über die Hälfte diese Arbeit an sechs Tagen der Woche.
Zählt man zu den letzteren die noch mehr angespannten, auch am Sonntage
über drei Stunden arbeitenden, so ergeben sich für Preussen nicht weniger
als 68 554 Schulkinder (41881 Knaben und 21 673 Mädchen), die in sehr
ausgedehntem Maasse gewerbliche Arbeit verrichten.
In der Stadt Gera waren 1896/97 von 573 beschäftigten Kindern gar
531 = 95*11 Proc. an sechs bezw. sieben Tagen beschäftigt.
Neben der übermässigen Dauer der Arbeit fällt erschwerend ins Gewicht
der häufig sehr frühe Beginn und die späte Beendigung derselben. Nach
der Charlottenburger Statistik vom März 1896 begannen ihre Thätigkeit
vor 4 Uhr Morgens 20 mit dem Austragen von Frühstück beschäftigte
Kinder, zwischen 4 und 47a Uhr 95 Kinder, zwischen 47a und 5 Uhr
76 Frühstücksausträger und -austrägerinnen, 9 Zeitungsausträger und aus-
trägerinnen, zwischen 5 und 6 Uhr 215 Kinder, insgesammt also vor 6 Uhr
Morgens 415 Kinder, d. h. 40 Proc. der damals in Charlottenburg er¬
mittelten 1026 gewerblich thätigen Schulkinder, dagegen nach 6 Uhr
nur 87. Ungefähr zu der gleichen Zeit wurde in einer Reihe Berliner Vor¬
orte bei 1013 erwerbstätigen Schulkindern festgestellt, dass 283 vor
6 Uhr früh, 205 noch nach 9 Uhr Abends und auch an Sonntagen 642
thätig waren.
Nach einer früheren Charlottenburger Statistik waren von Semmel-
und Zeitungsträgern zu ersteigen im Zeiträume von:
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190
Dr. Paul Schenk,
1 Stunde
bis zu 20
Treppen
von
82 Kindern
n
21 bis 40
TT
TT
51
TT
tt
41 „ 60
TT
TT
7
fl
Ya Stunden bis zu 25
TT
TT
69
TT
tt
26 „ 50
TT
TT
64
TT
TI
51 „ 75
TT
TT
14
tt
2 Stunden
bis zu 25
TT
TT
44
TT
TT
26 bis 50
TT
TT
56
TT
tt
51 „ 75
TT
TT
20
TT
TT
bis zu 80
TT
TT
1
T»
TT
* 90
TT
TT
1
TT
TT
* 120
TT
TT
1
TT
3 Stunden
n 50
TT
TT
67
TT
TT
51 „ 100
TT
TT
23
TT
Der Verdienst der ausserhalb der Fabriken gewerblich thätigen Kinder
ist naturgemäss in der Regel ein äusserst geringer und steht in denkbar
grösstem Missverhältniss zur Ausnutzung der Arbeitskraft. Häufig werden
die Kinder lediglich mit Kost und Logis entschädigt. Sofern sie bei ihren
Angehörigen arbeiten, ist eine baare Vergütung die Ausnahme. In der
Krefelder Seidenstoffindustrie wird den Kindern bei täglich fünf Stunden
und länger währender Arbeitszeit wöchentlich 0*55 bis 1*40 Mk. bezahlt,
also pro Stunde 2 bis 5 Pfg. In Sachsen-Coburg-Gotha erhalten die Kinder
in der Knopfindustrie pro Tag bei durchschnittlich fünfstündiger Arbeits¬
zeit einen Tageslohn von in der Regel 4 bis 15 Pfg., nur zwei Orte zahlten
25 bis 30 Pfg.; besser ist die Bezahlung in der Puppenindustrie: in den
meisten Orten 18 bis 30, ja bis 80 Pfg. pro Tag. Für Korbflechtereien und
Metallverarbeitungen gilt ein Tageslohn von 15 bis 30 Pfg. als Regel, für
Holzschnittarbeiten 20 bis 60 Pfg. In der Stadt Greiz (Reuss ält. Linie)
werden in der Cigarrenfabrikation bei über 60stündiger Arbeitszeit den
Kindern Wochenlöhne von 1*20 bis 1*50 Mk. gezahlt. Nach der in Char¬
lottenburg bei Berlin im März 1896 aufgenommenen Statistik verdienten
von 1026 gewerblich thätigen Schulkindern 371 = 36 Proc. bis zu 4 Mk.
monatlich, also durchschnittlich etwa 13 Pfg. pro Tag; über 10 Mk. monat¬
lich verdienten nur 71. Rechnen wir die Beschäftigungsdauer täglich nur
auf drei Stunden, so käme auch hier auf die Stunde ein Lohn von 4 bis
10 Pfg. Allerdings kann man auch das umgekehrte Verfahren einechlagen.
Statt durch Division den ärmlichen Stundenlohn der einzelnen Kinder zu
ermitteln, kann man den durchschnittlichen Verdienst, auf ein Jahr be¬
rechnet, mit der Zahl der erwerbstätigen Kinder in Deutschland, d. h. an¬
nähernd einer halben Million multipliciren und erhält dann ein hübsches
Sümmchen. Aber der Schluss müsste doch immer lauten: mindestens das
Doppelte dieser Summe käme der arbeitenden Bevölkerung zu Gute, wenn
die Kinderarbeit auch ausserhalb der Fabriken gesetzlich beseitigt würde
und erwachsenen Arbeitern zufiele. Die Arbeitsentschädigung wiegt bei den
gewerblich thätigen Kindern nicht im Entferntesten die Schädigung der
Gesundheit und den unschätzbaren Verlust an Arbeitskraft für das Mannes¬
alter auf. Jedenfalls ist der Passus in dem Rundschreiben des Reichs¬
kanzlers vom 9. December 1897 nur zu unterschreiben: „Rücksichten auf
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Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren im Kleingewerbe etc. 191
den Verdienst und die Unterstützung der Eltern in der Bestreitung der
Kosten des Haushalts werden nur in besonderen Ausnahmefällen eine gewerb¬
liche Beschäftigung der Kinder rechtfertigen/
Von anderer Seite meint man freilich, und auf diese Seite scheint sich
bemerkenswerther Weise der in Vorbereitung befindliche Gesetzentwurf zur
Regelung der Kinderarbeit ausserhalb der Fabriken zu stellen, dass die
zeitigen wirthschaftlichen Verhältnisse in Deutschland die Abschaffung der
Kinderarbeit verbieten. Man hat schon die Befürchtung geäussert, die
Gesetzgebung würde Hunderttausende von Kindern dem Hungertode preis¬
geben, wenn sie bestimmte, dass Kinder unter 14 Jahren überhaupt nicht
zur Erwerbsarbeit herangezogen werden dürften. Es hat leider auch bereits
eine Armen Verwaltung gegeben, die der Ansicht war, die Erwerbsthätigkeit
schulpflichtiger Kinder müsse in gewissem Grade ausgenutzt werden, bevor
die Hülfsbedürftigkeit der betreffenden Familie in armen rechtlichem Sinne
anerkannt werden könne (Zeitschr. f. Schulgesundheitspflege 1900, S. 120).
Im Gegentheil dürfte es principiell viel richtiger sein, überall da die Armen¬
pflege eintreten zu lassen, wo nur mit Zuhülfenahme der kindlichen Arbeits¬
kraft das Nöthigste herbeigeschafft werden kann.
In der Erwerbsarbeit der Kinder ein nothwendiges Mittel zur Beseiti¬
gung der socialen Nothlage zu sehen und ihr absolutes Verbot daher für
etwas Unerreichbares zu halten, ist meines Erachtens ungefähr ebenso ver¬
kehrt, wie die Bekämpfung von Pest, Cholera und Tuberculose aus dem
Grunde für unnütz zu erklären, weil diese Krankheiten nothwendige Mittel
zur Decimirung der sonst über die Unterhaltungsmittel hinaus wachsenden
Menschheit sind.
Es ist erlaubt, daran zu erinnern, dass die Regierung zu Potsdam sich
bereits am 31. Januar 1828 dahin äusserte: „Die Menschencultur ist auf
jeden Fall noch wichtiger und nothwendiger, ja auch dem Staate noch er-
spriesslicher, als selbst die Erhöhung der Industrie und des äusseren Wohl¬
standes, welche noch dazu nur durch jene wahrhaft und dauernd gesichert
werden kann.“
Das bisher vorliegende Material reicht nicht aus, .um ein abschliessendes
Urtheil darüber zu ermöglichen, in welchem Procentsatz der Fälle die miss¬
liche sociale Lage der zur Erziehung der Kinder Verpflichteten einen
zwingenden Grund für die Heranziehung der Kinder zu gewerblicher Arbeit
abgiebt. In recht vielen Fällen dürfte jedenfalls nicht die wirtschaftliche
Nothlage, sondern die Gewinnsucht der betreffenden Gewerbeunternehmer
und Händler, welche durch die billigen Arbeitskräfte einen höheren Gewinn
erzielen, im Bunde mit dem Unverstände der Eltern, an der Ausnutzung der
Kinder schuld sein.
Bei den im März 1896 in Charlottenburg angestellten Erhebungen er¬
gab sich, dass Kinder aus Haushaltungen mit alleinstehender erwerbs-
thätiger Frau hinsichtlich der Arbeitsdauer günstiger standen, also nicht so
angestrengt wurden wie dort, wo beide Eltern lebten und beide erwerbs-
thätig waren. Bei den damals in Charlottenburg gewerblich thätigen
1026 Kindern war in 357 Fällen nur der Vater erwerbstätig, in 311 Fallen
Mann und Frau, in 39 Fällen stand der Mann allein (Wittwer etc.), in
137 Fällen war die Frau allein (Wittwe, Eheverlassene).
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Dr. Paul Schenk,
Aus der Charlottenburger Statistik vom März 1896 verdient ferner an¬
geführt zu werden, in welcher Weise der Verdienst der Kinder (nach deren
Angaben) verwendet wurde:
Knaben
Mädchen
in der Familie.
. . 53’1 Proc.
54’5 Proc.
Kleidung.
• 161 .
14-8 „
zur Einsegnung gespart . .
. 6-3 „
8-9 „
sonst gespart.
• 20-4 „
209 „
theilweise gespart . . . .
• 3'8 „
0-9 „
Unberücksichtigt blieb naturgemäss in dieser Tabelle der nach meiner
Schätzung ziemlich hohe Theil des Arbeitsverdienstes der gewerblich thätigen
Grossstadt-Kinder, welcher von diesen für Leckereien, Bier, Cigaretten aus¬
gegeben wurde. Er wird gewöhnlich lügenhafter Weise der Schule sowohl
wie dem Elternhause verschwiegen.
Sicher macht es einen sehr grossen Unterschied in gesundheitlicher
Beziehung, ob die Kinder im Freien beschäftigt werden oder ob sie in
engen, stauberfüllten, schlecht gelüfteten und schlecht beleuchteten Zimmern
thätig sind.
Als relativ am unbedenklichsten sind zu nennen: dio Beschäftigung in
der Forstwirtschaft und in der Gärtnerei, die Beschäftigung als Austräger.
Letztere natürlich nur dann, wenn sie nicht zu früh beginnt und nur
mässige Anforderungen in Bezug auf Treppensteigen und Länge des zurück¬
zulegenden Weges stellt.
Gegen die Beschäftigung von Mädchen mit häuslichen Arbeiten, sofern
dieselbe eine Einführung in die Hauswirtschaft darstellt, ist wohl nur
dann ein gegründeter Einwand zu erheben, wenn dieselbe die Dauer von
höchstens zwei bis drei Stunden täglich überschreitet. Auch hat vielfach
die Schule es übernommen, die Mädchen mit den häuslichen Arbeiten ver¬
traut zu machen.
Bekannt ist, dass namentlich in der Hausindustrie schlechte Wohn-
räume gleichzeitig auch als Schlafzimmer und als Werkstätten dienen
(Roth); und gerade in der Hausindustrie müssen die Kinder gewöhnlich
sehr angestrengt arbeiten, häufig bis 9 und 10 Uhr Abends und manchmal
bis 11 und 12 Uhr Nachts. Die kleinen Kinder, deren Unterricht etwas
später beginnt als der für die grösseren, arbeiten häufig ein bis zwei Stunden
schon vor Anfang der Schule. Dazu kommt, dass regelmässige Arbeitspausen
hier nicht vorgeschrieben sind und gewöhnlich nicht gemacht werden.
In Sachsen-Meiningen werden in den an sich meist kleinen haus¬
industriellen Arbeitsräumen zugleich Speisen zubereitet und Farblacke oder
Leim während der Arbeitszeit warm gehalten. Namentlich gilt dies von
den Räumen, wo Holzspielwaaren gemacht werden; diese Räume werden auch
im Sommer geheizt, damit die Waare bis zur Liefernngszeit trocknet.
Wenn man bedenkt, dass für die gewöhnlich in gesundheitlich höchst
bedenklichen Räumen betriebene Hausindustrie in erster Linie die Kinder
des Wohnungsinhabers in Frage kommen, so ist klar, dass die gesetzliche
Regelung der gewerblichen Beschäftigung von Kindern vor der Familie
nicht Halt machen darf. Eine analoge Bestimmung wie die in §. 154, Ab-
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Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren im Kleingewerbe etc. 193
satz 4 der R.-G.-0.: „Werkstätten, in welchen der Arbeitgeber ausschliess¬
lich zu seiner Familie gehörige Personen beschäftigt, fallen unter diese
Bestimmung (Anwendung der §§. 135 bis 139 b R.-G.-O.) nicht“, wäre bei
der gesetzlichen Regelung der Kinderarbeit durchaus von Uebel. Jede
Milderung der Kinderschutzbestimmungen für die eigenen Kinder des Arbeit¬
gebers bedeutet halbe Arbeit. Der Schulzwang fordert als nothwendiges
Correlat das Verbot der gewinnbringenden gewerblichen Beschäftigung von
Schulkindern.
Aermliche Familien Verhältnisse, ungenügende Ernährung lassen die
Schädlichkeiten der Fabrikarbeit: übermässige Inanspruchnahme des Orga¬
nismus bei mangelhafter Erneuerung der verbrauchten Energie in der Haus¬
industrie in gesteigerter Form zu Tage treten. Die Schädlichkeiten machen
ihre Wirkung um so nachhaltiger geltend, je jünger und je weniger wider¬
standsfähig der von ihnen betroffene Organismus ist. In vielen Fällen tritt
in Folge übermässiger Ausnutzung des kindlichen Organismus vorzeitige
Altersschwäche und Erwerbsunfähigkeit auf. Man treibt Raubbau im
schlimmsten Sinne des Wortes, wenn man vor einem gewissen Reifestadium
des Körpers Arbeitserträge verlangt. Ich stehe daher auf dem Standpunkte,
dass eine regelmässige gewerbliche Lohnarbeit von Kindern unter 13 Jahren
auch in massigen Grenzen in jedem Falle zu verbieten ist. Vereinzelte
Ausnahmen bedürften unbedingt der Zustimmung noch mehr des Arztes
als der Schule. Kinder über 13, aber unter 14 Jahren dürfen nur dann
beschäftigt werden, wenn sie nicht mehr schulpflichtig sind. Das Verbot
jeglicher gewerblichen Thätigkeit von Kindern ist für mich die logische
Consequenz des §. 135, R.-G.-0. Das Verbot, welches für die Fabriken schon
vor 10 Jahren für nothwendig erachtet wurde, muss auch für die Haus¬
industrie und das Kleingewerbe durchgeführt werden. Ebenso ist die Noth-
wendigkeit der Ausdehnung der Gewerbeaufsicht auch auf die Hausindustrie
unbestritten.
Die Heranziehung schulpflichtiger Kinder zur Erwerbsarbeit wider¬
spricht direct den Absichten, aus welchen unsere Volksschule hervorgegangen
ist. Die Schule soll das Kind für das Erwerbsleben vorbereiten. Sie soll
dem Kinde die intellectuellen und moralischen Grundlagen geben, auf welche
gestützt es den Kampf ums Dasein aufnimmt. In dem Rundschreiben des
Reichskanzlers vom 9. December 1897 heisst es: „Eine mässige Beschäfti¬
gung von Kindern mit gewerblicher Arbeit hat insoweit Berechtigung, als
sie geeignet ist, die Kinder an körperliche Thätigkeit zu gewöhnen, den
Sinn für Fleiss und Sparsamkeit zu wecken und sie besonders in Fällen,
wo die Eltern nicht die erforderliche Aufsicht üben können, vor Müssiggang
und anderen Abwegen zu bewahren.“ Es scheint mir ein verkehrter Weg,
von der Erwerbsthätigkeit der Kinder oder, richtiger gesagt, von denjenigen,
welche diese Erwerbsarbeit als Arbeitgeber leiten, etwas zu erwarten, was
das Elternhaus und die Schule nicht zu leisten im Stande sind.
„Ueberall da, wo die Art der Beschäftigung nicht für Kinder geeignet
ist 9 wo die Arbeit zu lange währt, wo sie zu unpassenden Zeiten und in
ungeeigneten Räumen stattflndet, giebt die Kinderarbeit zu erheblichen
Bedenken Veranlassung; hier bringt sie nicht allein Gefahren für die Ge¬
sundheit und Sittlichkeit der Kinder mit sich, sondern erschwert auch die
Tierteljahraschrift für Gesundheitspflege, 1902. ]3
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194
Dr. Paul Schenk,
Schulzucht und macht unter Umständen den gesetzlichen Schulzwang illu¬
sorisch. Denn übermüdete und in ungesunden Räumen bis tief in die Nacht
hinein angestrengte Kinder können dem Unterrichte unmöglich die erforder¬
liche Aufmerksamkeit widmen.“ Diese Ausführungen in dem Rundschreiben
des Reichskanzlers treffen meines Erachtens mit verschwindenden Aus¬
nahmen auf jegliche gewerbsmässige Lohnarbeit von Kindern zu. Die gewinn¬
bringende gewerbliche Beschäftigung bleibe den Arbeitern Vorbehalten. Für
Kinder ist sie ungeeignet. Kinder gehören in die Schule. Yerständniss für
praktische Arbeit, Freude am eigenhändigen Schaffen kann ihnen Hand¬
fertigkeitsunterricht, welcher in hygienisch tadellosen Schulwerkstätten er-
theilt wird, geben. Verständniss für den Werth des sauer verdienten Geldes
brauchen Kinder nicht. Auch dürfte es recht schwierig sein, Kindern dieses
Verständniss beizubringen. Wofür wären sie Kinder, wenn sie schon metho¬
disch zum Gelderwerb angeleitet werden sollten? Pflichtgefühl und Arbeits¬
lust, das sind die unbezahlbaren Güter, welche die Schule den Kindern mit¬
geben soll, wenn sie ins feindliche Leben hinaustreten. Den schulpflichtigen
Kindern muss die Sorge um des Lebens Nothdurft, das Concurriren auf
dem Arbeitsmarkte erspart bleiben, wofern nicht ihre körperliche und geistige
Entwickelung Schaden leiden soll. Kann denn wirklich Jemand, zumal ein
Lehrer (Deutsche Schulzeitung 1899, Nr. 40, S. 394), dafür eintreten, die
Kinder schon hinauszustossen in den Kampf ums Dasein, weil dieser Kampf
die Kräfte stählt?
Klagen über Beeinträchtigung der körperlichen Entwickelung der
Kinder durch gewerbliche Beschäftigung liegen namentlich aus Orten mit
Hausindustrie vor. Unter anderen wird aus Greiz berichtet, dass die in der
Weberei thätigen Kinder vielfach bleich und kränklich aussehen, engbrüstig
sind, krumme Rücken bekommen, an Schwäche der Augen und der Nerven
leiden. Aus den Lausitzer Weberdörfern wurden in den letzten Jahren
von den Gestellungspflichtigen 19, 14*5 und weniger Procent als tauglich
befunden.
Allerdings fehlt es auch nicht an günstigeren Urtheilen über die indu¬
strielle Kinderbeschäftigung. Es wird in den Erhebungen des Kaiserlichen
statistischen Amtes aus dem Jahre 1898 über Gegenden berichtet, wo nach¬
theilige Einflüsse der Kinderarbeit sich angeblich wenig oder gar nicht
zeigten. Recht charakteristisch ist es, dass von 62 Hausindustrieorten in
Sachsen-Coburg-Gotha in 49 Orten mit mehr als dreistündiger Arbeitszeit
der Kinder 29 mal eine nachtheilige Einwirkung auf die Entwickelung der
Kinder beobachtet wurde, in 13 Orten mit höchstens dreistündiger Arbeits¬
zeit nur zweimal. Leider fehlen hier die Zahlen über die Menge der in den
einzelnen Orten beschäftigten Kinder.
Wohl alle vorliegenden Statistiken sind bedauerlicher Weise ohne Zu¬
ziehung von Aerzten gemacht. Im anderen Falle besässen wir mehr und
eingehendere Feststellungen über die Schädigungen des körperlichen Wohls
der Kinder durch gewerbliche Beschäftigung.
Als besonders gesundheitsgefährlich und trotzdem oft genug von Kin¬
dern betrieben sind zu nennen: Sortiren von Lumpen, Reinigen von Wolle
und Fellen, Zerzupfen von Wolle und Safran, Mahlen von Farbe, Arbeiten
in Borg- und Hüttenwerken, Griffelhütten und Steinbrüchen, Schleifen von
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Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren im Kleingewerbe etc. 195
Glas, Stein und Marmor, Feilenhauen, Beschäftigung mit Blei, Kupfer, Zink,
Quecksilber nnd deren Legirungen, Herstellung von Explosivstoffen und
Zündwaaren und namentlich auch die Cigarren- und Tabakfabrikation, in
welcher im Jahre 1898 im Deutschen Reiche nicht weniger als 22 668 Kinder
mit Tabakrupfen, Wickeln, Streichen der Blätter, Abrippen, Anfertigung
von Cigarrenkisten und Hülsenkleben beschäftigt waren. Derartige Be¬
schäftigungen , welche anerkanntermaassen die Gesundheit auch der Er¬
wachsenen schädigen, verbieten sich für Kinder von selbst und hätten für
diese auch ausserhalb der Fabriken schon längst verboten sein sollen. Der
in Vorbereitung befindliche Gesetzentwurf, betreffend die Regelung der
Kinderarbeit ausserhalb der Fabriken, sieht das Verbot der Beschäftigung
von Kindern wenigstens in den genannten und ähnlichen Betrieben vor und
giebt dem Bundesrathe das Recht, dieses Verzeichniss zu ergänzen.
Mit der körperlichen Schädigung Hand in Hand geht die Beeinträch¬
tigung der geistigen Frische und Spannkraft der gewerblich thätigen Kinder.
Nach den Erhebungen in Charlottenburg bei Berlin haben normal vier
Fünftel der Kinder das richtige Klassenalter, von den erwerbstätigen da¬
gegen rund 60 Proc. ein übernormales. Mangel an geistiger Regsamkeit,
Unpünktlichkeit und Unregelmässigkeit im Schulbesuch und Nachlässigkeit
bei Anfertigung der häuslichen Arbeiten ist bei rund 48 Proc. constatirt.
In Gera wurde bei den Erhebungen im Wintersemester 1896/97 bei
29’84 Proc. der gewerblich thätigen Kinder ein nachtheiliger Einfluss auf
den Unterricht festgestellt. Sitzen geblieben waren von den 573 be¬
schäftigten Kindern 219 = 38*22 Proc. und zwar 59 mehr als einmal. Nach
den Erhebungen in Rixdorf waren 39*83 Proc. der erwerbstätigen Kinder
mindestens einmal sitzen geblieben (Agahd), in Mühlhausen i. Th. 49 Proc.
Unbesiegbare Neigung zum Einschlafen während der Stunden, das ist
eine der Hauptklagen der Lehrer bei den gewerblich thätigen Kindern.
Ausserdem birgt die gewerbliche Beschäftigung von Schulkindern
namentlich in Grossstädten und dann überhaupt in allen den Fällen, wo
Kinder mit Erwachsenen gemeinsam bis in den späten Abend hinein tätig
sind, schwere sittliche Gefahren in sich.
Es hiesse allerdings zu weit gehen, wollte man ganz allgemein sagen,
dass die Beschäftigung von schulpflichtigen Kindern gegen Lohn an und
für sich in jedem Falle schlechte Neigungen in der Kindesseele erweckt und
grosszieht. Bei den in den Charlottenburger Gemeindeschulen im Septem¬
ber 1895 angestellten statistischen Erhebungen fanden sich unter 979
erwerbstätigen Schulkindern im Ganzen nur 50 = 5*1 Proc., bei denen
gröbere sittliche Verfehlungen, wie Ungehorsam, Liederlichkeit, Lüge und
Betrug oder gar Diebstahl festgestellt wurden. Ebenso wurde in Gera nur
in seltenen Fällen ein direct nachteiliger Einfluss jler Kinderarbeit auf das
sittliche Verhalten constatirt. Manche sittliche Verfehlungen, wie z. B. die
bin und wieder vorkommenden Betrügereien beim Austragedienste, gelangen
allerdings häufig nicht zur Kenntniss der Schule und finden daher keine
Aufnahme in die Statistik.
Vielfach wird die Thatsache, dass von den im Jahre 1895 im Gefäng-
niss für jugendliche Verbrecher zu Plötzensee Internirten 70 Proc. während
der Schulzeit gewerblich tätig waren, als Beweis für die entsittlichende
13 *
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196
Dr. Paul Schenk,
Wirkung der Er Werbetätigkeit schulpflichtiger Kinder angeführt Im
August 1901 betrug nach freundlicher Mittheilung des Gefangnissarztes
Herrn Medicinalrath Dr. Pfleger die entsprechende Zahl 54 Proc. Die
Betreffenden waren vorzugsweise als Kegelaufsetzer, Frühstücks- und Zei¬
tungsträger, Laufburschen, Kofferträger, Bierabzieher, Rolljungen thätig
gewesen.
Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass beide Erschei¬
nungen: Beschäftigung gegen Lohn schon im Kindesalter und frühzeitige
gesetzwidrige Handlungen, der gleichen Wurzel entsprungen sind: den un¬
günstigen socialen und sittlichen Verhältnissen, unter denen die betreffenden
jugendlichen Verbrecher aufwuchsen. Sicherlich wären sie, vielleicht sogar
noch eher, Verbrecher geworden, auch wenn sie, statt in der schulfreien Zeit
dem Erwerbe nachzugehen, dem Müssiggange gehuldigt hätten. Es giebt
eine Reihe Kinder, welche unter sittlich verwahrlosten Verhältnissen erzeugt
und grossgezogen, schon bei ihrer Geburt zu Verbrechern prädestinirt er¬
scheinen. Hier ist die Schule kaum minder machtlos als das Elternhaus,
das drohende Verhängniss abzuwenden. Strenge Gewöhnung an geordnete
Handarbeit wäre neben frühzeitiger Entfernung aus der Familie in solchen
Fällen wohl ein geeignetes Erziehungsmittel. Doch diese Arbeit soll nicht
gegen Auszahlung klingenden Lohnes stattflnden. Der Lohn kann gespart
und nach Erreichung eines gewissen Reifealters, vielleicht bei der Verhei¬
ratung, in Geld oder noch besser in Möbeln, Kleidung erstattet werden.
Am meisten durch die Erwerbsarbeit sittlich gefährdet sind einmal
diejenigen Kinder, welchen ihre Beschäftigung einen verhältnissmässig reich¬
lichen Verdienst bringt, und dann diejenigen, welche in Localen, bei öffent¬
lichen Aufführungen bis tief in die Nacht hinein thätig sind. Es ist
notorisch, dass z. B. Kegeljungen, deren Zahl im ganzen Reiche nach der
Statistik vom Jahre 1898 12 748 beträgt, es häufig auf über 20 Mk. monat¬
lichen* Verdienst bringen. Diese Kinder sind für die Schulzucht in der Regel
verloren und bilden eine sittliche Gefahr für ihre Mitschüler. Einen Theil
ihres Verdienstes, dessen Höhe die Eltern in der Regel nicht controliren
können, legen sie häufig in Bier und Cigaretten an. Unwahre Angaben den
Eltern gegenüber sind dabei etwas Gewöhnliches. Die Verwendung von
Kindern im Schank- und Gastwirthsgewerbe überhaupt bringt die Ver¬
führung zum Trinken und dessen für Kinder besonders böse Folgen mit
sich. Die bis in die Nacht hinein fortgesetzte Thätigkeit der Kegeljungen
und der beim Spielen von Tanzmusiken und bei öffentlichen Aufführungen
betheiligten Kinder (Balletmädchen, kindliche Statisten und Akrobaten) ver¬
schafft den Betreffenden zu frühe Einblicke in die unsittlichen Nachtseiten
des Lebens. Sicher ist dies einer der Wege, auf dem der jugendlichen Pro¬
stitution neue Anhängerinnen zugeführt werden. Dass beim Ballet oder in
Musikcapellen beschäftigte Kinder von den betreffenden Unternehmern so¬
gar auf den Reisen nach fremden Städten mitgenommen werden, hätte in
keinem Falle geduldet werden sollen, ist aber bereits wiederholt vorgekom¬
men. So veranlasste der Director des früheren Victoria-Theaters in Berlin
seiner Zeit 24 schulpflichtige Kinder, sein Theaterpersonal nach Antwerpen
zu begleiten. Er wurde dafür allerdings zu einer Strafe von „20 Mk.“ ver-
urtheilt. Auf dem vorjährigen Musiker-Verbandstage in Halle wurde Klage
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Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren im Kleingewerbe etc. 197
geführt, dass in Hannover eine Musikcapelle aus Bremen concertirt hätte,
deren Mitglieder zum Theil erst neun Jahre alt waren.
Aber auch in ländlichen Bezirken bestehen sittliche Gefahren für die
erwerbsthätigen Schulkinder. Vielfach wird geklagt, dass die auf ab¬
gelegenen Ziegeleien beschäftigten Kinder, deren 1898 im Deutschen Reiche
1848 gezählt wurden, bei dem Nachhausewege am späten Abend häufig
Zeugen von mehr als derben Aeusserungen des Geschlechtsgefühls der er¬
wachsenen Arbeiter und Arbeiterinnen und dadurch sittlich verdorben
werden. Beim Zusammenarbeiten von Erwachsenen und Kindern in der
Hausindustrie sind ähnliche Bedenken nicht zu unterdrücken.
Dass die gewerbliche Beschäftigung von Kindern ausserhalb der Fa¬
briken einer reichsgesetzlichen Regelung bedarf, steht ausser Frage. Ein
entsprechender Gesetzentwurf ist dem Bundesrath zugegangen.
Bisher kommen für die uns beschäftigende Materie hauptsächlich die
folgenden Paragraphen der Reichsgewerbeordnung in Betracht.
§. 42 b, Abs. 5 (Reichsgesetz vom 6. August 1896): Kinder unter
14 Jahren dürfen auf öffentlichen Wegen, Strassen, Plätzen oder an öffent¬
lichen Orten oder ohne vorgängige Bestellung von Haus zu Haus Gegen¬
stände nicht feilbieten. In Orten, wo ein derartiges Feilbieten durch Kinder
herkömmlich ist, darf die Ortspolizeibehörde ein solches für bestimmte Zeit¬
abschnitte, welche in einem Kalenderjahre vier Wochen nicht überschreiten
dürfen, gestatten.
Das Herkommen, von dem im zweiten Satze die Rede ist, das Feilbieten
bei Gelegenheit namentlich des Weihnachtsfestes (Weihnachtsmarkt), findet
hier eine gesetzliche Berücksichtigung, welche durch das Alter des Her¬
kommens allein nicht zu rechtfertigen ist. Schliesslich ist es doch auch ein
Brauch, „von dem der Bruch mehr ehrt als die Befolgung“. In richtiger
Würdigung der sittlichen Gefahren, welche alles Hausiren der Kinder mit
sich bringt, hat man denn auch z. B. in Zittau das dort übliche, früher
erlaubte Hausiren mit Fastenbrezeln in der Zeit von Weihnachten bis Ostern
nur denjenigen Kindern gestattet, welche einen Erlaubnissschein von Seiten
der Schule bei brachten und zwar nur bis 7 Uhr Abends.
Nach §. 154, Abs. 3 der R.-G.-0. können die für die Beschäftigung
von Kindern in Fabriken geltenden Schutzbestimmungen auf Werkstätten,
in denen regelmässig Motoren verwendet werden, nach Absatz 4 desselben
Paragraphen auch auf andere Werkstätten, soweit darin nicht ausschliess¬
lich Familienmitglieder des Arbeitgebers beschäftigt werden, sowie auf
Bauten ausgedehnt werden. Laut Verordnung vom 31. Mai 1897 gelten
die §§. 135 bis 139 (R.-G.-0) auch bereits für die Werkstätten der Kleider¬
und Wäscheconfection.
§. 120 e (R.-G.-0.) verleiht dem Bundesrathe oder, wenn dieser von
seinem Rechte keinen Gebrauch macht, den Landes - Central - bezw. Polizei¬
behörden das Recht, Verordnungen zum Schutze von Leben und Gesundheit
gewerblicher Arbeiter zu erlassen. Polizeiverordnungen, betreffend die Be¬
schränkung der Erwerbsthätigkeit schulpflichtiger Kinder, welche sich auf
diesen Paragraphen stützen, sind theilweise gerichtlich angefochten und
auch aufgehoben worden, weil es sich hier nur um Verordnungen über
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198
Dr. Paul Schenk,
Arbeitsräume, Betriebsvorrichtungen und Regelung des Betriebes für gewerb¬
liche Arbeiter, aber nicht für schulpflichtige Kinder handelt.
Dagegen hat das Kammergericht am 7. November 1898 für Recht er¬
kannt, dass Polizeiverordnungen, welche die gewerbliche Beschäftigung
schulpflichtiger Kinder beschränken, zu Recht bestehen, soweit sie sich auf
§. 6 f. des Gesetzes über die Polizeiverwaltung vom 11. März 1850 bezw.
20. September 1867 stützen. Nach dem angezogenen Titel des §. 6 hat
die Polizeibehörde das Recht, nach Berathung mit dem Gemein de Vorstände
Vorschriften zu erlassen, welche der Sorge für Leben und Gesundheit der
Einwohner entsprungen sind.
Entsprechende Verordnungen sind in einer sehr grossen Reihe von
Städten erlassen worden. Sie beziehen sich hauptsächlich auf die Be*
schüftigung von Kindern im Gastwirthschaftsbetriebe und auf der Bühne,
und andererseits auf das Austragen von Backwaaren, Zeitungen, Milch. —
Sofern sie den Hausirhandel betreffen, erscheinen sie, da dieser durch den
angeführten §. 42 b, Abs. 5 (R.-G.-0.) im Deutschen Reiche Kindern all¬
gemein untersagt ist, überflüssig.
Soweit ich die Materie übersehe, ist eine Polizeiverordnung speciell zur
Beschränkung der Beschäftigung von Kindern in der Hausindustrie nur im
Regierungsbezirk Düsseldorf erlassen. Und doch erscheinen gerade für die
Hausindustrie bei der ausgedehnten Verwendung von Kindern durch¬
greifende Bestimmungen dringend erforderlich.
Dagegen bestehen in einer grossen Reihe deutscher Städte Polizei¬
verordnungen, betreffend die Beschäftigung von Kindern im Kleingewerbe¬
betriebe. Auf Vollständigkeit kann und will das, was ich im Folgenden
aus diesen Verordnungen hervorhebe, keinen Anspruch machen. Es soll
nur zeigen, wie vielfach sich bereits das Bedürfniss zur Einschränkung der
gewerblichen Kinderarbeit geltend gemacht hat, und wie dringend daher
eine einheitliche Regelung angezeigt erscheint.
Diejenigen Verordnungen, welche nur ein Verbot des Hausirhandels
enthalten, übergehe ich, weil sie, wie erwähnt, durch den Absatz 5 des
§. 42 b (R.-G.-O.) hinfällig geworden sind.
Das Verdienst, zuerst die erwerbsmässige Thätigkeit von Schulkindern
beschränkt zu haben, darf wohl die freie und Hansestadt Bremen für sich
in Anspruch nehmen. Hier wurde bereits am 28. Mai 1860 eine Senats¬
verordnung des Inhalts publicirt: „Es wird hierdurch streng untersagt,
schulpflichtige Kinder zu irgend welchen Dienstleistungen zu engagiren, die
in die Tageszeit vor oder während der Schulzeit fallen, mithin die Kinder
vor 5 Uhr Nachmittags in Anspruch zu nehmen.“ Ausserdem besteht für
Bremen eine Verordnung vom 14. Februar 1880, betreffend die Theilnahme
von Kindern an öffentlichen Aufführungen und Tanzvergnügen:
§. 1. Es ist verboten, Kinder unter 15 Jahren später als bis 10 Uhr
Abends bei entgeltlichen oder bei öffentlichen musikalischen oder sonstigen
Aufführungen und Schaustellungen mitwirken zu lassen.
Es begründet keinen Unterschied, ob den Kindern oder deren Eltern
für die Mitwirkung der Kinder bei solchen entgeltlichen oder öffentlichen
Aufführungen ein Entgelt gewährt wird oder nicht.
§. 2. Es ist vorbehältlich weitergehender Anordnungen im Einzelfalle
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Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren im Kleingewerbe etc. 19J
verboten, Kinder unter 16 Jahren später als bis 10 Uhr Abends an öffent¬
lichen Tanzbelustigungen theilnehmen zu lassen.
Ferner hat der Senat von Bremen am 30. März 1888 eine dritte Ver¬
ordnung, betreffend das Hausiren von Kindern, erlassen, welche im Wesent¬
lichen mit §. 42 b, Abs. 5 (R.-G.-O.) identisch ist.
Auch in Hamburg ist bereits durch Reglement vom October 1869 die
Verwendung von schulpflichtigen Kindern zu öffentlichen Schaustellungen
verboten. Ausnahmen werden von einer besonderen polizeilichen Erlaub¬
nis abhängig gemacht. Laut Verordnung der Hamburger Polizeibehörde
vom 8. Juni 1897 dürfen in Gast- und Schankwirthschaften Kinder unter
12 Jahren nicht nach 8 Uhr Abends, und schulpflichtige Kinder, die das
12. Lebensjahr vollendet haben, nicht nach 9 Uhr Abends beschäftigt werden.
Das Kegelaufsetzen durch Mädchen ist verboten.
In Berlin ist seit dem 1. Februar 1900 die folgende Polizeiverordnung
in Kraft:
§. 1. Kinder, welche das neunte Lebensjahr noch nicht vollendet
haben, dürfen ausser dem Hause eine gewerbliche Thätigkeit irgend welcher
Art nicht ausüben.
§. 2. Kinder, welche das neunte, aber noch nicht das 14. Lebensjahr
vollendet haben, dürfen ausserhalb des Hauses nicht nach 7 Uhr Abends,
und in den Monaten April bis September Morgens nicht vor 5 1 / 2 Uhr,
October bis März nicht vor 6 Vs Uhr zum Austragen von Backwaaren, Milch
und Zeitungen oder anderen Gegenständen, ferner zum Kegelaufsetzen oder
zu sonstigen Verrichtungen in Schankwirthschaften, sowie überhaupt zu
irgend welchen mechanischen Dienstleistungen in irgend einem Gewerbe¬
betriebe verwendet werden.
§. 3. Uebertretungen dieser Polizeiverordnung werden an Eltern oder
den zur Erziehung Verpflichteten sowie den Personen, welche Kinder ent¬
gegen den Bestimmungen der vorstehenden Paragraphen für ihren gewerb¬
lichen Betrieb beschäftigen, mit Geldstrafe bis zu 30 Mk. und im Falle des
Unvermögens mit verhältnissmässiger Haft bestraft.
Eine im Wesentlichen gleichlautende Verordnung ist in dem Berlin
benachbarten Charlottenburg ebenfalls mit dem 1. Februar 1900, in Schöne¬
berg bei Berlin am 1. März 1900 in Kraft getreten.
Für Berlin gilt ferner seit dem 1. September 1886 die folgende Polizei¬
verordnung :
1. Die Beschäftigung schulpflichtiger Kinder bei Theater- und son¬
stigen öffentlichen Vorstellungen ist nur gestattet, wenn diesseits die Er¬
laubnis dazu ertheilt wird.
2. Die fragliche Erlaubnis ist für jedes einzelne Kind mit genauer
Bezeichnung des Namens und Alters, des Namens, Standes und der Woh¬
nung der Eltern, Vormünder oder Pflegeeltern und der Art der beabsichtigten
Beschäftigung unter gleichzeitiger Vorlegung einer zustimmenden Er¬
klärung des zuständigen Kreisschulinspectors bei dem Polizeipräsidium
uachzusuchen.
3. Die ertheilte Erlaubnis schliesst ohne Weiteres nur die Befugnis
ein, das fragliche Kind spätestens bis 11 Uhr beschäftigen zu dürfen, giebt
nicht das Recht, dasselbe unter dem Vorwände von Proben, Uebungen pp.
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200 Dr. Paul Schenk,
dem regelmässigen Schulbesuche zu entziehen und ist jeder Zeit wider¬
ruflich.
4. Die ertheilten Erlaubnissscheine sind aufzubewahren und den con-
trolirenden Polizeibeamten auf Erfordern vorzuzeigen.
In den Vororten Berlins: Reinickendorf, Dalldorf, Pankow, Rixdorf,
Friedrichsfelde, Friedrichshagen, Rummelsburg, Lichtenberg, Britz, Stralau,
Treptow, Oranienburg, Weissensee, sowie in verschiedenen Städten des
Regierungsbezirks Potsdam: Perleberg, Luckenwalde, Bernau, Rathenow,
Spandau u. a., sind ähnliche Verordnungen wie die für Berlin an erster Stelle
genannte bereits seit dem Herbst 1S99 in Geltung. In den meisten dieser
Orte ist die gewerbliche Beschäftigung der Kinder Abends in den Monaten
April bis September bis 9 Uhr, October bis März bis 8 Uhr gestattet. Diese
weitgehende Ermächtigung darf die Ortsbehörde mit Genehmigung des
Schulvorstandes, vielfach z. B. in Spandau, in Ausnahmefällen noch er¬
weitern. Einzelne Gemeinden, wie Rixdorf, Britz, haben die Altersgrenze,
vor der eine gewerbliche Beschäftigung von Kindern ausser dem Hause
überhaupt nicht stattfinden darf, auf das vollendete zehnte Lebensjahr ge¬
setzt. Einzelne haben für schulpflichtige Kinder das Bedienen von Gästen
überhaupt verboten. Die Kinder des betreffenden Gastwirtbs selbst sind
jedoch von einer beschränkenden Bestimmung gewöhnlich ausgenommen.
Ueber das gewerbsmässige Musikmachen und Darbieten von öffentlichen
Schaustellungen durch Kinder ist in diesen Orten meist nichts bestimmt.
Die viel genannte Polizeiverordnung für die Stadt Mühlhausen i. Th.
ist bereits am 29. October 1897 erlassen und durch eine Kammergerichts¬
entscheidung vom 7. November 1898 ausdrücklich für zu Recht bestehend
erklärt worden. Sie zeichnet sich durch ihre Bündigkeit vortheilhaft vor
den meisten der anderen Verordnungen aus. Sie bestimmt, dass schul¬
pflichtige Kinder in der Zeit von 7 Uhr Nachmittags bis 7 Uhr Vormittags
nicht zum Austragen von Backwaaren, Milch, Zeitungen und anderen Gegen¬
ständen, zum Kegelaufsetzen oder zu sonstigen Verrichtungen in Sch&nk-
wirthschaften, zum Aufwarten oder zum Handel mit Blumen oder anderen
Gegenständen verwandt werden dürfen.
In der Rheinproviuz besteht für den Regierungsbezirk Düsseldorf eine
Polizeiverordnung vom 2. April 1898: Auf Grund des §. 137 des Gesetzes
über die allgemeine Landesverwaltung vom 30. Juli 1883, der §§. 6, 12
und 15 des Gesetzes vom 11. März 1850 und der §§. 120 c und e der
Reichsgewerbeordnung wird mit Zustimmung des Bezirksausschusses für
den Bereich des Regierungsbezirks Düsseldorf folgende Polizeiverordnung
erlassen:
§. 1. Hausindustrielle und Heimarbeiter, welche in der Textil- oder
Metallindustrie, bei der Anfertigung von Wäsche und Kleidungsstücken aller
Art oder bei der Herstellung von Zündholzschacbteln schulpflichtige Kinder
gegen Lohn oder eine diesem gleich zu achtende Vergütung gewerblich
beschäftigen, müssen ihren Betrieb so einrichten, dass sowohl Morgens vor
Beginn des Schulunterrichts als in der Zeit zwischen dem Vormittags- und
Nachmittagsunterricht und Abends nach 7 Uhr jede Verwendung der Kinder
im Gewerbebetriebe gegen Lohn unterbleibt.
§. 2. Zuwiderhandlungen gegen vorstehende Bestimmung werden
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Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren im Kleingewerbe etc. 201
gemäss §. 147, Nr. 4 der Gewerbeordnung mit Geldstrafe bis zu 300 Mk.
und im Unvermögensfalle mit Haft bestraft.
Meines Wissens ist dies die einzige Verordnung, welche eine Regelung
der Kinderarbeit in der Hausindustrie in Angriff nimmt. Ihre Rechtsgültig¬
keit ist durch Kammergerichtsentscheidung vom 8. Januar 1900 anerkannt.
Im Regierungsbezirk Köln besteht eine ungefähr der Berliner ent¬
sprechende Polizei Verordnung:
§. 1. Kinder, welche das neunte Lebensjahr noch nicht vollendet
haben, dürfen nicht ausserhalb ihrer Wohnung und während der für den
Schulunterricht festgesetzten Stunden auch nicht in ihrer Wohnung mit
gewerblichen Arbeiten beschäftigt werden.
§. 2. Schulpflichtige Kinder, welche das neunte, aber noch nicht das
14. Lebensjahr vollendet haben, dürfen während der für den Schulunterricht
festgesetzten Stunden zu gewerblichen Arbeiten weder ausserhalb noch
innerhalb ihrer Wohnung verwendet werden.
§. 3. Kinder, welche das neunte, aber noch nicht das 14. Lebensjahr
vollendet haben, dürfen ausserhalb ihrer Wohnung während der Zeit von
7 Uhr Nachmittags bis 7 Uhr (in den Monaten April bis September 67s Uhr)
Vormittags zum Austragen von Backwaaren, Milch, Zeitungen oder anderen
Gegenständen, zum Kegelaufsetzen oder zu sonstigen Verrichtungen in
Gast- und Schankwirthschaften, zum Aufwarten, zum Handel mit Blumen
oder mit anderen Gegenständen nicht verwandt werden. Die Verwendung
schulpflichtiger Kinder zu Theater-, Circus - und dergleichen Aufführungen
ist nur mit der vorher einzuholenden Genehmigung des Kreisschulinspectors
und der Ortspolizeibehörde gestattet.
In Aachen ist die Verwendung schulpflichtiger Kinder zum Kegel-
aufsetzen sowie zum Aufsammeln der Pfeile der Bogenschützen untersagt.
Im Theater- oder Circusbetriebe dürfen sie ausnahmsweise nach schrift¬
licher Erlaubnis der Polizeidirection mitwirken (Verordnung vom 14. Juli
1897).
In der Provinz Sachsen dürfen schulpflichtige Kinder auf. Strassen,
öffentlichen Plätzen und in öffentlichen Localen keinerlei Art Musik auf¬
führen, Schaustellungen, theatralische Vorstellungen, Vorträge oder sonstige
Lustbarkeiten darbieten oder von anderen zur Mitwirkung bei dergleichen
Lustbarkeiten und Aufführungen verwendet werden. Sofern ein höheres
Interesse der Kunst oder Wissenschaft dabei obwaltet, kann die Ortspolizei¬
behörde eine Ausnahme gestatten. Kegelaufsetzen ist schulpflichtigen Kin¬
dern ausserhalb der Schulzeit bis 10 Uhr Abends (!) gestattet (Verordnung
vom 17. December 1880). Eine Altersgrenze wird nicht gezogen.
In der Provinz Schlesien dürfen Kinder bei öffentlichen Lustbarkeiten,
denen ein höheres Interesse der Kunst oder Wissenschaft abgeht, ohne
besondere Erlaubnis? der Ortspolizeibehörde nicht verwendet werden (Ober-
Präsidial-Verordnung vom 19. Mai 1891). Für die Regierungsbezirke
Breslau und Liegnitz gilt die Verordnung, dass schulpflichtige Kinder wäh¬
rend der Zeit des Schulunterrichts nicht zu ländlichen, gewerblichen und
anderen Beschäftigungen verwendet werden dürfen. Für den Bezirk Oppeln
ist eine allgemeine Bestimmung zur Einschränkung der Kinderarbeit ausser¬
halb der Fabriken überhaupt nicht erlassen. Und doch ist gerade in Schle-
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202
Dr. Paul Schenk,
sien bei der Aufnahme im Jahre 1898 nächst der Rheinprovinz die grösste
Zahl gewerblich thätiger Kinder ermittelt worden (48 456 = 6’54 Proc.
der volksschulpflichtigen Kinder). Eine der Mühlhausener gleichlautende
Verordnung besteht in Schlesien meines Wissens nur für den Kreis Grünberg
im Bezirk Liegnitz und für das Amt Laurahütte im Bezirk Oppeln. In
Laurahütte dürfen ferner schulpflichtige Kinder auf Bauten und Ziegeleien
überhaupt nicht beschäftigt werden.
In Frankfurt a. M. besteht seit dem 27. Februar 1878 das polizeiliche
Verbot, Kinder vor vollendetem 14. Lebensjahre gewerbsmässig zu Gesangs-,
Musik-, theatralischen oder gymnastischen Productionen, denen ein höheres
Kunstinteresse nicht beiwohnt, zu verwenden. Am 13. Januar 1879 erging
eine Polizeiverordnung des Inhalts, dass schulpflichtige Kinder in öffent¬
lichen Wirthschaftslocalitäten, zum Aufsetzen der Kegel oder zu sonstiger
Bedienung der Gäste nur nach vorgängiger Erlaubniss der Ortsschulbehörde
und nur unter Einhaltung der Schranken der ertheilten Erlaubniss ver¬
wendet werden dürfen. Geistige Getränke dürfen schulpflichtigen Kindern,
welche nicht von den Eltern oder Vertretern’ derselben begleitet sind, in
öffentlichen Wirthschaftslocalitäten nicht verabreicht werden.
In Mainz dürfen schulpflichtige Kinder vor dem Vormittagsunterricht
nicht zum Austragen von Fleisch- und Backwaaren, sowie Milch verwendet
werden und an gewerbsmässigen Gesangs- und Musikaufführungen, an öffent¬
lichen Schaustellungen, theatralischen Vorstellungen oder sonstigen Lustbar¬
keiten, ohne dass ein höheres Interesse der Kunst oder Wissenschaft dabei
obwaltet, ohne besondere Erlaubniss des Bürgermeisters nicht thätigen
Antheil nehmen.
In Gera ist es untersagt, Schulkinder vor Beginn des Vormittagsunter¬
richts mit gewerblichen Arbeiten zu beschäftigen. Sie dürfen nur in ganz
besonderen Ausnahmefällen im Hause des Arbeitgebers nächtigen und per¬
sönlich keine Bezahlung für ihre Dienstleistungen erhalten.
Im Königreich Sachsen sind zunächst Verordnungen der Städte Chem¬
nitz und Zittau zu nennen. Das Kegelaufsetzen ist nur Knaben über
12 Jahre gestattet, welche einen Erlaubnisschein der Schule beibringen,
in Chemnitz auch nur an zwei Abenden der Woche, ln Zittau ist bereits
seit 1892 das Austragen von Frühstückswaaren durch Schulkinder gleich¬
falls von einer schriftlichen Erlaubniss der Schule abhängig gemacht. In
Dresden darf das Auftreten von schulpflichtigen Kindern in öffentlichen
theatralischen Vorstellungen und Concerten nur mit behördlicher, für jeden
einzelnen Fall nachzusuchender Genehmigung stattflnden (Rathsbekannt¬
machung vom 11. August 1888). Ferner ist untersagt, schulpflichtige Kinder
länger als bis Abends 9 Uhr zum Kegelschubdienste zu verwenden.
In den Königreichen Bayern uud Württemberg bestehen nach den mir
gewordenen Auskünften, abgesehen von den in einzelnen Städten erlassenen
Bestimmungen zur Beschränkung des Hausierhandels, keinerlei Verord¬
nungen betreffend die Erwerbsarbeit von Kindern.
Ich kann es nicht unterlassen, zum Schluss anzuführen, dass laut Polizei¬
verordnung vom 16. März 1900 es in Hannover-Linden gestattet ist, schul¬
pflichtige Knaben, welche das 12. Lebensjahr vollendet haben, in Gast- und
Schankwirthschaften bis 11 Uhr Abends zu beschäftigen. Das bedeutet die
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Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren im Kleingewerbe etc. 203
Concession eines bedauerlichen Missbrauchs. Bier und Spirituosen dürfen
nach derselben Polizei Verordnung diesen Knaben allerdings nicht verabfolgt
werden *)•
Ohne jede polizeiliche Beschränkung ist die gewerbliche Beschäftigung
von Kindern ausserhalb der Fabriken, abgesehen vom Hausierhandel, nach
den mir gewordenen Auskünften 2 ) u. a. in folgenden Städten geblieben:
München, Stuttgart, Leipzig, Altona, Augsburg, Ulm, Kaiserslautern, Strass¬
burg, Metz, Mülhausen i. Eis., Nürnberg, Königsberg i. Pr., Zwickau,
Oppeln, Ratibor, Rudolstadt, Holzminden, Schleswig, Sigmaringen, Lübeck,
Annaberg, Eupen, Oels, Schwedt a. 0., Beuthen.
Zu bemerken ist, dass verschiedentlich nur in Hinsicht auf die „dem¬
nächst u in Aussicht stehende reichsgesetzliche Regelung der Frage der
gewerblichen Kinderarbeit ausserhalb der Fabriken und diesen gleichstehen¬
den Anlagen von einer entsprechenden Verordnung Abstand genommen
worden ist.
Die reichsgesetzliche Regelung der Beschäftigung von schulpflichtigen
Kindern im Kleingewerbe und in der Hausindustrie muss meines Erachtens
von dem Hauptgesichtspunkte ausgehen: Schulpflichtige Kinder gehören
zur Arbeit nur in die Schule. Ihre freie Zeit bleibe der Erholung in der
Familie oder auf Spielplätzen gewidmet. Um Geld zu verdienen, dürfen
die Kinder weder im Hause der Eltern noch ausserhalb desselben thätig
sein. Gewohnheitsmüssige gewerbliche Arbeit soll, abgesehen von seltenen
Ausnahmen, nicht von Schulkindern, sondern von gewerblichen Arbeitern
verrichtet werden. Für die Ausnahmefälle ist eine doppelte Genehmigung
sowohl von Seiten der Schule wie auch von Seiten des Kreis- bezw. Schul¬
arztes erforderlich.
Das zu erwartende Reichsgesetz, betreffend die Regelung der Erwerbs¬
arbeit von Kindern ausserhalb der Fabriken könnte dementsprechend kurz
sein und ungefähr so lauten:
§. 1. Kinder unter 13 Jahren dürfen zur Erwerbsarbeit in einem
gewerblichen oder industriellen Betriebe weder im Hause der Eltern, Pflege¬
eltern, Vormünder, noch ausserhalb desselben herangezogen werden. Kinder,
welche das 13. aber noch nicht das 14. Lebensjahr vollendet haben, dürfen
zur Erwerbsarbeit nur herangezogen werden, wenn sie nicht mehr schuh
pflichtig sind.
§. 2. Auf Antrag der zur Erziehung der Kinder Verpflichteten kann
die Polizeibehörde nach Zustimmung des Kreis- bezw. des Schularztes und
des zuständigen Schulinspectors Ausnahmen gestatten.
§. 3. Die polizeiliche Erlaubniss zur gewerblichen Beschäftigung von
Kindern ist nur Kindern über 12 Jahre und beim Vorhandensein mehrerer
*) Ob dieses Verbot wohl stets beachtet wird? Bed.
*) Ich benutze die Gelegenheit an dieser Stelle, den zahlreichen Magistraten,
Regierungen und Polizeibehörden, welche mich in liebenswürdigster Weise durch
Auskunft, Uebersendung der betreffenden Verordnungen, Ueberlassung einschlägigen
Actenmaterials bei der vorliegenden Arbeit unterstützt haben, meinen verbind¬
lichsten Dank auszusprechen.
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204 Dr. Paul Schenk, Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren etc.
Kinder in der Familie in der Kegel nur einem derselben zu ertheilen. Sie
ist jeder Zeit widerruflich und unterliegt den folgenden Beschränkungen.
a) Im Hausierhandel, im Schank- und Gastwirthsgewerbe, sowie in
denjenigen Betrieben, für welche einschränkende Bestimmungen über
die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter erlassen sind, dürfen Kinder
unter 14 Jahren auch ausnahmsweise keine Verwendung finden, bei
öffentlichen Veranstaltungen nur dann, wenn ein höheres Kunst¬
interesse vorliegt. In der Hausindustrie dürfen Kinder nur von
ihren Eltern beschäftigt werden.
b) Die gewerbliche Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren darf,
abgesehen von öffentlichen Schaustellungen, in keinem Falle Sonn¬
tags, oder vor Beginn der Schule oder während derselben, oder
Abends nach 7 Uhr, oder täglich länger als drei Stunden statt¬
finden.
§. 4. (Enthielte die Strafbestimmungen.)
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Dr. Alexander Szana, Beaufsichtigung der in Aussenpflege gegebenen Kinder. 205
lieber die Beaufsichtigung der in entgeltliche
Aussenpflege gegebenen Kinder, mit besonderer
Berücksichtigung eines in Temesyär angewandten
neuen Systems.
Von Dr. Alexander Szana,
Chefarzt des Findelhauses in Temesvdr.
Die exorbitante Sterblichkeit unter den Kost- und Haltekindern wurde
schon längst als wichtiger Factor der allgemeinen Kindersterblichkeit erkannt.
Die Arbeiten von Baginsky 1 ) und Neumann 2 ) für Berlin, die Arbeiten
von Szalardi und Eröss für Budapest haben diese Frage besonders klar¬
gestellt. Als Mittel gegen diese ausserordentlich hohe Kindersterblichkeit
wird von allen Autoren in erster Linie die gewissenhafteste ärztliche Beauf¬
sichtigung der KoBt- und Haltekinder gefordert. Die Beaufsichtigung der
in entgeltlicher Aussenpflege befindlichen Kinder bildet also ein wichtiges
hygienisches Postulat und trotzdem sehen wir diese Frage bisher weder
einheitlich noch gewissenhaft geregelt.
In Ungarn ist die Frage des Kinderschutzes in eine neue Epoche
getreten, indem die Pflege der der öffentlichen Unterstützung bedürftigen
Kinder verstaatlicht wird.
Der Gesetzartikel XXI vom Jahre 1898 hat nämlich die Erhaltung und
Erziehung der n verlassenen Kinder“ zu einer staatlichen Aufgabe gemacht.
Die ministerielle Verordnung zu diesem Gesetze gab dem Begriffe „verlassen“
aber eine solche liberale Erläuterung, dass die Sache der der öffentlichen
Fürsorge bedürftigen Kinder in Ungarn mit einem Schlage eine muster¬
gültige Erledigung fand und die Beschützung und Verpflegung von nicht
weniger als insgesammt 50000 bis 60000 Kindern als Aufgabe des Staates
declarirt wurde.
Die Ausführungsverordnung des Gesetzes erklärt nämlich als „ver¬
lassen“ alle jene Kinder, die gefunden werden, ferner jene, deren Eltern und
Grosseltern gestorben oder verschollen sind und endlich diejenigen, die „durch
ihre Eltern oder Grosseltern ohne Gefährdung ihres eigenen Lebensunter¬
haltes nicht erhalten werden können“. In der Praxis wurden nun auf Grund
dieser Auffassung auch alle jene Säuglinge als verlassen und der staatlichen
Fürsorge bedürftig erklärt, deren Mütter als Arbeiterinnen thätig sind und
dem zu Folge ihr Kind nicht säugen können. In diesen Fällen werden
l ) Die Kost- und Haltekinderpflege in Berlin, Deutsche Vierteljahrsschrift f.
öffentl. Gesundheitspflege, Bd. XV in, H. 3.
*) Jüngste Arbeit: Die unehelichen Kinder in Berlin. Jena 1900.
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206
Dr. Alexander Szana,
Mutter und Kind während der ganzen Zeit der Säugung mit monatlichen
Geldbeträgen unterstützt, gekleidet und beaufsichtigt, und beide erhalten
ärztliche Pflege und Medicamente kostenlos.
Die Ausführung dieser, in nationaler und hygienischer Hinsicht so sehr
wichtigen Aufgabe hat die ungarische Regierung dem „Landesverein vom
Weissen Kreuz“ in der Weise übertragen, dass alle Kinder, die durch
behördlichen Beschluss als „verlassen“, also der staatlichen Fürsorge bedürf¬
tig erklärt, der Pflege des Vereins vom Weissen Kreuz übergeben werden.
Der Verein erhält ein musterhaftes Kinderasyl (Findelhaus) in Budapest
und 11 nach gleichen Principien eingerichtete Anstalten in der Provinz.
Der Staat zahlt diesem Vereine für jedes Kind nach festgesetztem Tarife
Verpflegungsgebühren. Gegenwärtig ist der ungarische Staat daran, auch
die Ausführung der geschilderten Aufgabe selbst in die Hand zu nehmen
und werden zu diesem Behufe die Anstalten des „Weissen Kreuzes“ ver¬
staatlicht *).
Das Ziel, das sich der Staat gesteckt hat, jährlich ca. 20000 Kinder
dem gänzlichen Verkommen oder einer kranken, verkümmerten Entwickelung
zu entreissen, dieses Ziel ist sowohl aus nationalen wie auch aus hygienischen
Gesichtspunkten von grosser Wichtigkeit. Die materiellen Mittel, welche
der Staat zur Erreichung dieses Zieles verwenden wird, werden sich jährlich
auf mehrere Millionen Kronen belaufen, und dies sind Beträge, die selbst im
Haushalte eines Staates ansehnliche Factoren bedeuten, so dass es wohl
eine actuelle Pflicht ist, jene Maassnahmen einer thunlichst detaillirten
Prüfung zu unterwerfen, mit denen der ungarische Staat seine gross angelegte
Action erfolgreich durchführen will.
Die Verpflegung einer grösseren Anzahl Kinder in geschlossenen Anstalten
ist heute allgemein fallen gelassen. Den Sturz dieses veralteten Princips
forderte vor Allem die Hygiene, denn das Ansammeln einer grösseren Anzahl
von Kindern, besonders in den ersten Lebensjahren, hat stets eine erhöhte
Sterblichkeitsziffer zur Folge. Dieses ungünstige Resultat wird theils durch
häusliche Epidemieen verursacht, theils aber dadurch, weil die richtige Pflege
des kleinen Kindes nur mit Berücksichtigung der vollen Individualität des
Kindes erfolgreich durchgeführt werden kann, eine solche Individualisirung
jedoch in grösseren Anstalten unmöglich ist. Die Erziehung von Kindern
in Instituten wurde aber auch aus dem Grunde fallen gelassen, weil das in
diesen aufwachsende Kind den Kampf ums Dasein, des Lebens tägliche
kleine oder grosse Sorgen nicht vor sich sieht. Im Institute trifft es jeden
Tag laut der bestehenden.Vorschrift seinen gedeckten Tisch; man controlirt
die Reinlichkeit, ja selbst die Temperatur seines Zimmers. Wenn das Kind
dann ins Leben hinausgeräth, steht es unvorbereitet den Widerwärtigkeiten
desselben gegenüber, und gar manche Fachleute glauben die Erfahrung
gemacht zu haben, dass solche Kinder viel rascher den Kampf aufgeben
und sich leichter in die Arme der Sünde stürzen 2 ).
Es ist demnach zweifellos, dass man für die auf öffentliche Kosten zu
*) Siehe ausführlich Sociale Praxis, X. Jahrg., Dr. Szana: Staatliche Kinder¬
fürsorge in Ungarn.
*) Brückner: „Die öffentliche und private Fürsorge“. Frankfurt 1892.
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Beaufsichtigung der in entgeltliche Aussenpflege gegebenen Kinder. 207
verpflegenden Kinder jenes System wählen muss, nach welchem die Kinder
gegen Bezahlung einer Pflegegebühr zu Familien, hauptsächlich aufs Dorf
zu Landleuten, in Pflege gegeben werden. Solche, zu sorgfaltigst aus¬
gewählten Familien hinausgegebenen Kinder gemessen dort alle Vortheile
einer Individualisirung, lernen alle Phasen des Familienlebens kennen, und
wenn sie einmal das Alter erreichen, wo sie selbständig ins Leben treten
müssen, stehen sie nicht mehr allein, ohne Stütze, sondern sind gewöhnlich
an die Familie, in der sie aufwuchsen, mit so tief innerlichen Banden geknüpft,
die völlig gleichwerthig mit den Banden des Blutes zu betrachten sind.
Dass dem so ist, kann mit ziffernmässigen Daten bewiesen werden.
Während des ersten Jahres des Bestandes des Temesvärer Kinderasyls haben
15 von den durch die Anstalt in Aussenpflege gegebenen Kindern das
siebente Lebensjahr erreicht, hätten also nun dieser Pflegemutter weggenommen
und der Zuständigkeitsgemeinde übergeben werden sollen. Um dies zu ver¬
hüten, wurden 5 von diesen 15 Kindern von den bisherigen Pflegeeltern in
vollständig kostenlose weitere Obhut übernommen. Drei von diesen Pflege¬
eltern sind beträchtlich vermögend und haben durch den Vereinsanwalt
schon die nöthigen Schritte zur gesetzlichen Adoptirung eingeleitet. Dies
geschah nach kurzer, einjähriger Pflege. Und auch unter den übrigen
kennen wir gar viele, die sich von den behüteten Kindern niemals trennen
werden.
Es ist daher unzweifelhaft, dass das ungarische Gesetz das richtigste,
durch Wissenschaft und Erfahrung als bestes anerkannte System der öffent¬
lichen Kinderfürsorge in sich aufnahm, indem es für die der öffentlichen
Fürsorge anheimfallenden Kinder principiell die Aussenpflege ausspricht.
Das Gesetz muss aber auch aus dem Grunde vollkommen genannt
werden, weil es durch die auf mehrere Gegenden des Landes verstreute
Kinderasyle für die in den einzelnen Gegenden placirten Kinder Centren
schafft. Im Sinne des Gesetzes werden in den Asylen „nur die kranken,
schwach entwickelten, besonderer Pflege und ärztlicher Behandlung bedürftigen
Kinder gehalten“, und ebenso wie die Placirung der Kinder bei Familien
nach Wissenschaft und Erfahrung als richtig anerkannt wurde, ist es zur
sicheren Erkenntniss geworden, dass die in Aussenpflege befindlichen Kinder
ein Centralasyl benöthigen. Erstens als Uebergangsstation, als Depot bis
zur Aussenpflege. Ausserdem fällt das kranke Kind leicht selbst den sonst
gutherzigen Pflegeeltern zur Last und einzelne, insbesondere schwach ent¬
wickelte Kinder können nur durch die sorgfältige, specialistische Pflege im
Kinderasyl dem Leben erhalten bleiben. Es ist dies doppelt wichtig für
die ungarischen Verhältnisse, die durch einen sehr fühlbaren Aerztemangel
auf dem Lande charakterisirt werden, so dass der, die meisten Dörfer nur
wöchentlich einmal besuchende Arzt den Kindern eine wahrhaft fachgemässe
Behandlung gar nicht angedeihen lassen kann. Die Errichtung der Kinder¬
asyle erscheint daher als werthvolles Mittel zur Erreichung des Zweckes,
ein Mittel, welches Baginsky schon vor 14 Jahren in diesen Blättern
forderte x ), zur Rettung der verlassenen Kinder. Dieser durch die ungarische
*) Vierteljahrssrlirift für üflVntl. Clesundlieitspflrge Bd. XV111 , 3. H., 8. 401.
Recapitulirt Berl. klin. Wochenheim 1807, 8. 408.
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203
Dr. Alexander Szana,
Gesetzgebung gewählte Weg ist viel richtiger, als jener, den der Landtag
von Steiermark 1896 annahm 1 ), wonach die Kinder der aus den Gebär¬
anstalten entlassenen Mütter durch das Findelhaus (eine einfache Ver¬
waltungsstelle mit Depot) sofort in Ammenpflege gegeben werden, so dass
es dort eigentliche Kinderasyle gar nicht giebt, und die schwachen und
kranken Kinder in ein Kinderspital gegeben werden müssen. Wer die
schreckliche Statistik der Säuglingsspitäler kennt, — selbst die Sterblich¬
keit in dem von Prof. Heubner geleiteten Berliner Säuglingskrankenhause
ist 65 bis 90 Proc. —, wird gewiss staunen über diese Einrichtung, die die
vielen schwachen und noch nicht kranken Kinder den Gefahren eines Spitales
aussetzt 2 ).
Die ungarischen staatlichen Kinderasyle werden mit denselben Ein¬
richtungen versehen, die in den Anstalten des Weissen Kreuz-Vereins
sich als vortrefflich bewiesen, und werden zweifellos auch alle Erfolge dieser
Anstalten aufweisen können.
Wir sehen demnach, dass jenes System, dass die ungarische Gesetz¬
gebung für die Pflege der der öffentlichen Fürsorge übergebenen Kinder
flxirte, das denkbar vollkommenste ist.
Es giebt den gesunden Kindern das ruhige, gesunde Heim einer Familie
auf dem Lande und sichert den schwachen und kranken Kindern specialistische
Pflege, moderne hygienische Einrichtung, reichlichen Ammenstand, fach¬
gebildetes Pflegepersonal. Damit aber dieses System wirklich solche Erfolge
erringe, die zu den geforderten grossen materiellen Opfern in Einklang
stehen, damit, wie der wissenschaftliche Pfadbrecher des ungarischen Findel¬
wesens, Dr. Szalärdi, schreibt, „die für das Kind verausgabten
immens grossen Spesen nicht als sinnlose Vergeudung erscheinen,
muss die Controle über die Kinder gewissenhaft, vertrauens¬
würdig und wirksam sein 3 )“. Nachdem bei den durch die ungarische
Gesetzgebung, wie auch durch alle europäischen Staaten acceptirten Systemen
der grösste Theil der Kinder in Aussenpflege ist, kann als feststehende
Thatsache betrachtet werden, dass der Erfolg der die Bettung der in
entgeltlicher Pflege befindlichen Kinder anstrebenden Action der
Länder und Municipien vom Controlsysteme über die in entgelt¬
liche Aussenpflege gegebenen Kinder abhängt. Diese Ansicht wieder¬
holt auch Baginsky in der schon erwähnten Schrift.
In Ungarn verfügt betreffs der Controle über die auf Kosten des Staates
in Aussenpflege gegebenen Kinder der §.17 der ministeriellen Verordnung
Nr. 50000/1899e., der die Gemeinden verpflichtet, über die auf ihrem
Gebiete zu Lasten des Staates verpflegten Kinder ein Evidenzbuch zu führen
und die Kinder durch den Gemeindearzt wenigstens vierteljährlich gratis
untersuchen zu lassen.
l ) „Die Jubiläumsausgabe des Landes Steiermark zu Gunsten der Armen¬
kinder“, Art. XV bis XXV. Siehe Dr. Beicher: „Der Kinderschutz und die
Armenkinderpflege in Steiermark“, Graz 1900.
*) Details über dieses interessante Thema siebe in Heubner’s „Säuglings¬
ernährung und Säuglingsspitäler“, Berlin 1897.
a ) Szalardi: „Gegenwärtiger Stand des Findeiwesens in Ungarn“. Arbeiten
des VIII. internationalen Congvesses für Hygiene und Demographie. Budapest 1894.
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Beaufsichtigung der in entgeltliche Aussenpflege gegebenen Kinder. 209
Diese gesetzliche Verfügung ist sehr ungenügend und eine eingehendere
Beaufsichtigung seitens der Behörden war nur aus dem Grunde entbehrlich,
weil der Staat mit der Pflege und Obhut der verlassenen Kinder in erster
Reihe den Verein zum Weissen Kreuz betraute, der in eigenem Wirkungs¬
kreise für intensivere Beaufsichtigung sorgt. Der Weisse-Kreuz-Verein
ernennt vor Allem auf jenen Plätzen, wo seine Pflegekinder placirt werden,
also auf seinen Kindercolonieen Colonieärzte. Diese Aerzte erhalten eine
der Zahl der Kinder entsprechende Bezahlung, und kann man demnach
von ihnen eine ganz andere Controlwirksamkeit fordern, als von den mit
Arbeiten überhäuften und selbst für den einfachen Lebensunterhalt kaum
genügend bezahlten Gemeindeärzten in dieser ihrer Eigenschaft. Ausserdem
stellt der Verein Centralcontrolärzte an, die jährlich mehrmals zur Ueber-
prüfung des Gesundheitszustandes der Kinder die Gemeinden unerwarteter
Weise besuchen. Endlich kann als Controlmittel der §. 7 der ministeriellen
Verordnung Nr. 50000/1899 gelten, laut welchem die guten Pflegemütter
eine Belohnung erhalten, für die schlechten jedoch die Bestimmungen des
Strafgesetzbuches in Anwendung kommen.
Das ungarische Gesetz über die staatlichen Kinderasyle verfügt nicht
über die Beaufsichtigung der in Ammenpflege gegebenen Kinder, sondern
überlasst dies den später herauszugebenden ministeriellen Verordnungen.
Es geht aus der Motivirung des Gesetzentwurfes klar hervor, dass die An¬
stellung der Gemeindeärzte mit besonderer Bezahlung als Colonieärzte con-
templirt wird und §. 1 des Gesetzes rechnet deutlich auf die Mitwirkung
der Gesellschaft.
Bevor nun diese die Beaufsichtigung betreffenden Verordnungen ge¬
schaffen werden, erscheint es bei der grossen Wichtigkeit des Gegenstandes
als zweckentsprechend, die Art und Weise dieser Beaufsichtigung im Aus¬
lande zu prüfen und einige im Temesvärer Institute des Weissen Kreuzes
mit grossem Erfolge ausprobirte Verfügungen zu besprechen. Auf das
Interesse grösserer Kreise hat die Sache um so mehr Anspruch, als in ganz
Europa das Schicksal der in entgeltliche Aussenpflege gegebenen Kinder
mit immer grösserer Aufmerksamkeit verfolgt wird *).
Die neueste Verfügung einer gesetzgebenden Körperschaft bezüglich der
Beaufsichtigung der in Aussenpflege gegebenen Kinder ist das steier¬
märkische Gesetz vom 6. September 1896 über den Schutz der in ent¬
geltliche Aussenpflege gegebenen Kinder unter zwei Jahren. Im
Sinne dieses Gesetzes übt die Aufsicht der Gemeindearzt spätestens vier
Wochen nach der Placirung des Kindes und hernach zweimal jährlich, jedoch
nicht im selben Vierteljahre. Ausserdem soll ein Mitglied des Armenrathes,
thnnlichst ein weibliches Mitglied, vierteljährlich das Kind besuchen.
Berechtigt ist zu dieser Controle der Geistliche, der Bezirksarzt und der
Landesinspector der Armensache. Der Gemeindearzt kann — dies ist
separat hervorgehoben — für die Beaufsichtigung keine Bezahlung bekommen-
Die Unzulänglichkeit dieser Verfügungen hat die Gesetzgebung selbst
eingesehen, weil die Bestimmungen des steiermärkischen Landtages, späteren
l ) Siehe „Jugendfürsorge“, Zeitschrift, direct dem Kinderschutze gewidmet.
Berlin, zwei Jahrgänge. Motto: „Völker Europas, wahret Eure heiligsten Güter“.
Wilhelm n.
Vierteljahrsschrift für Gesundheitspflege, 1902.
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210
Dr. Alexander Szana,
Datums („Grundsätze betreffend die Mitwirkung des Landes an der Armen¬
kinderpflege tt ), in Anbetracht der grossen Verantwortung, die Creirung von
Bezirksinspectorstellen contemplirt, denen diese Beaufsichtigung eine Neben¬
beschäftigung bilden würde und die dafür Bezahlung bekämen. Ob diese
Stellen thatsächlich geschaffen wurden, konnte ich trotz eifriger Nachfrage
nicht erfahren.
Die Commision der Armensache in Steiermark gab auch eine Broschüre
heraus und bat die Vereinsdamen vom österreichischen „Rothen Kreuz“
im Allgemeinen, dass sie sich für die Findelkinder interessiren mögen.
Jedoch der Aufruf selbst gesteht, dass auf diesem Wege nicht viel zu er¬
warten ist, weil gerade auf dem Dorfe Vereinsmitglieder vom Rothen Kreuz
nur spärlich zu finden sind.
Die Stadt Graz betraute mit der Aufsicht über die auf ihrem Territorium
befindlichen Kinder eine „städtische Oberkinderpflegerin“, die (eine Arzt-
wittwe) dem Armenamte untergeordnet ist. In der für sie erlassenen Ver¬
ordnung ist nur ein Punkt besonders interessant, der, dass sie von den
geeigneten und ungeeigneten Pflegemüttern ein Register zu führen hat.
Aus alle dem können wir die vollständige Unzulänglichkeit der steier¬
märkischen Verfügungen beweisen.
Principiell placirt dort das Findelhaus die Kinder m ihren Zuständig¬
keitsgemeinden. Sie werden demnach nicht in grösseren Colonieen gehalten,
sondern im ganzen Lande verstreut. Einmal aus dem Findelhause heraus¬
gekommen, wo sie überhaupt nur übergangsweise (Depot) einige Tage waren,
hört eigentlich jede Verbindung mit dem Findelhause auf. Ihre Beauf¬
sichtigung ist Aufgabe der auch dort überbürdeten Amtsärzte, ohne Ent¬
lohnung und demnach vollständig ungenügend. Die Controle der Armen-
commission ist auch nur episodenhaft und kann daher nur auffallende, man
könnte sagen alarmirende Unregelmässigkeiten entdecken. Das Inspections-
sy stein in Steiermark entbehrt demnach die centrale Organisation und
auf der Peripherie die Individualisirung.
In Italien wurden 1879 bis 1882 106461 Kinder auf öffentliche
Kosten verpflegt 1 ). Von diesen wurden 37449 Kinder direct von der
Hebeamme zu Pflegemüttern durch die Behörden hinausgegeben, daher ohne
Vermittelung einer Centrale, eines Findelhauses. Bei diesen ist jede centrale
und specielle Beaufsichtigung von vornherein ausgeschlossen. Die gewöhn¬
liche Armencontrole ist aber für in Ammenpflege gegebene Kinder gänzlich
ungenügend.
Die aus dem Findelhause von Neapel 9 ) in Aussenpflege gegebenen
Kinder werden in erster Reihe durch die Ortsbehörden controlirt, ausserdem
besucht sie von Zeit zu Zeit ein Beamter des Findelhauses. Ueberdies wacht
eine zwölfgliedrige Bürgercommission über die in Neapel placirten Kinder.
Das Findelhaus in Moskau hat seine Colonieen in 41 Kreise ein-
getheilt; in jeden Kreis gehören 500 bis 1000 Kinder. An der Spitze des
Kreises steht ein Inspectionsarzt.
*) Dämmer: „Handwörterbuch der öffentlichen Gesundheitspflege“.
*) Reisebericht des Herrn Dr. Casper, Dr. Reicher, Dr. Fassei an den
steiermärkischen Landesaussclmss, 1893.
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Beaufsichtigung der in entgeltliche Aussenpflege gegebenen Kinder. 211
Das Pariser Fiudelhaus, das vollkommenste der Welt in seinen
Einrichtungen und in der Liberalität der Aufnahme, hat in elf Departements
seine Agenturen 1 ). Zu einer solchen Agentur gehören 1000 Kinder, über
die der Leiter der Agentur wacht. Der einzige Lebensberuf dieses Leiters
ist der „Service des enfants assistis und helfen ihm hierin mehrere Beamte.
Die Agentur selbst wird durch die Directoren der Assistence publique con-
trolirt. Die Kinder unter vier Monaten müssen alle zehn Tage untersucht
werden. Vor 1896 wurden diese zehntägigen Visiten nur in den ersten
drei Lebensmonaten gefordert und erst im Jahre 1896 wurden die zehn¬
tägigen Besuche auf die ersten vier Lebensmonate ausgedehnt 2 ). Die Jahres¬
ausweise der Anstalten geben Rechenschaft über die Zahl der geleisteten
ärztlichen Controlbesuche und die Zahl der unterbliebenen Besuche.
In Leipzig hat Dr. Traube das sogen. Leipziger System eingeführt.
Die Pflegemutter ist verpflichtet, am Freitag nach der Uebernahme des
Kinde9 dieses vor den „Ziehkinderarzt“ zu bringen. Anwesend sind die
acht bezahlten Aufsichtsdamen (Wittwen von Aerzten und sonstigen Hono¬
ratioren), die dann die weitere Aufsicht über die Kinder bezirksweise üben.
Dr. Traube vertraut viel mehr den bezahlten Aufsichtsdamen als Jenen,
die nur der Ehre halber die Mission übernahmen. „Nicht Dilettantismus,
sondern sachkundige, pflichtbewusste Ausführung eines besoldeten Amtes.“
In Dresden ist der Vorgang ein ähnlicher. Bezahlte Aufsichtsdamen
werden hier nur für Kinder unter fünf Jahren aufgenommen. Die Aufsichts¬
dame muss das Kind monatlich wenigstens einmal controliren; jährlich ein¬
mal ist dann Hauptcontrole im Beisein der bezahlten Aufsichtsdamen, der
Aerzte und Beamten und werden dann auch die Belohnungen vertheilt 3 ).
In Halle a. S. werden sämmtliche in entgeltlicher Pflege befindlichen
Kinder (Ziehkinder) bis zum sechsten, sämmtliche auf öffentliche Kosten
verpflegten Kinder bis zum 14. Lebensjahre durch regelmässige Besuche der
besoldeten Pflegerinnen innerhalb drei Wochen und Beorderungen zu Wochen¬
vorstellungen durch einen directen Ziehkinderarzt untersucht 4 ).
In Kiel sind die Kostmütter verpflichtet, ihre Pfleglinge sofort nach
der Aufnahme dem Director der Poliklinik vorzustellen und sie monatlich
einmal zu bestimmter Zeit in die Poliklinik zum Wägen zu bringen. An den
Wiegetagen sind drei Aerzte resp. zwei und eine Dame beschäftigt. Der
Arzt muss jedes Kind sehen 5 ).
Ueber die durch das böhmische Findelhaus in Ammenflege gegebe¬
nen Kinder führen das Pfarramt und die Gemeinde, letztere durch einen
Waisenvater, die Beaufsichtigung. Ueberdies besucht sie ein Findlings-
inspector.
l ) H. Neumann: „Oeffentlicher Kinderschutz u . (Handbuch der Hygiene,
VIII. Bd., 2. Theil.) Jena 1895.
f ) Rapport sur le service des enfants assistes et moralement abandonn£s du
Departement de la Seine 1899. Paris 1900.
*) Das Ziehkinderwesen der Stadt Dresden. Stadtrath Kuhn. Jugendfürsorgen.
Heft 5.
4 ) Die Beaufsichtigung der Zieh- und Pflegekinder durch besoldete Pflege¬
rinnen. Von Stadtrath Pütter. Jugendfürsorge II.
5 ) Zur Säuglingssterblichkeit. Von Anna Hellmann. Jugendfürsorge II.
14*
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212
Dr. Alexander Szana,
In Berlin erfolgt die Auszahlung der Kostgelder durch die Aufsichts¬
damen. In Danzig, Elberfeld, Hildesheim, Nürnberg, Zwickau
überlässt das Municipium einzelnen Vereinen die Aufsicht. In Stolp ist
damit ein Krankenpflegeverein betraut*).
Die Ausübungsstatuten des Wiener Findelhauses werden mit der
so hochwichtigen Angelegenheit der Beaufsichtigung in erschreckender Kürze
fertig 2 ). Laut diesem Statut ist die Beaufsichtigung der in Ammenpflege
gegebenen Kinder in erster Reihe Pflicht der Mutter und der Angehörigen
des Kindes. Ein gar komischer Gedanke, wenn man berücksichtigt, dass
die Kinder weit nach Steiermark oder Ungarn gelangen und nun durch die
vermögenslose Mutter beaufsichtigt werden sollen. Ausserdem ist die Con¬
trols die Aufgabe der Gemeinden. Der Gemeindearzt bekommt keine sepa¬
rate Bezahlung für die Beaufsichtigung, dagegen wird ihm die Kranken¬
behandlung laut Tarif bezahlt. Das Institut, welchem 27 420 Kinder angehören,
hat einen einzigen Controlarzt, der zeitweilig die Kinder bei ihren
Pflegeeltern controlirt. Das Resultat ist natürlich ein grässliches. Aus ein¬
zelnen Bezirken verlangt man dringend den Controlarzt zur Eruirung der
Ursachen der erschreckenden Sterblichkeit 3 ).
Der controlirende Arzt findet gewöhnlich die grössten Missbräuche,
zufolge scrophulöser Augenleiden Blindheit etc. Ein unbegreiflicher Zustand.
Ein Controlarzt für 27 420 Kinder, dagegen 41 administrative Beamte. Dem
gegenüber gebührt vollste Anerkennung dem ungarischen Landesvereine
vom Weissen Kreuze, der für 4000 Kinder, trotz seiner bescheidenen mate¬
riellen Mittel, vier Controlärzte anstellte.
In England 4 ), wo das Familienammensystem (boarding out) erst in
letzter Zeit die geschlossenen Institute verdrängte, aber auch die Ueber-
gangsinstitutionen, wie cottage homes und scattered homes , ersetzte, beauf¬
sichtigt die Kinder ein Comitö von 347 Mitgliedern. Diese sind verpflichtet,
vierteljährlich auf vorgeschriebene Fragen präcise Antworten zu geben. Die
Oberaufsicht ist in den Händen eines weiblichen Inspectors.
Nachdem wir nun in Kürze die Systeme der verschiedensten Länder
behandelten, können wir die Mittel der Controle über die in Armenpflege
gegebenen Kinder in Folgendem zusammenfassen:
Die Controle übt aus:
a) Der Gemeindearzt. Für seine Control Wirksamkeit wird er nur
in Ungarn separat honorirt. Das steiermärkische Statut schliesst dies direct
aus, dagegen erhält er in Oesterreich für die Behandlung des kranken Findel¬
kindes Bezahlung. Es ist zweifellos, dass die Honorirung des Gemeinde¬
arztes für seine Controlthätigkeit von Seiten des Erhalters des Kindes ein
ganz besonders wirksames Mittel ist. Der mit Arbeit überhäufte, schlecht
l ) „Die Organisation der Gemeindewaisenpflege“ von Cuno und Schmidt.
Leipzig 1900.
*) Statut für die niederö9terreichische „Landes-Geburts- und Findelhausanstalt“.
Wien, 7. December 1869 und 7. September 1877.
a ) Jahresbericht der niederösterreichischen „Landes-Geburts- und Findelhaus-
anstalt“ vom Jahre 1899 bis 1901. S. 58.
4 ) „Das ausländische Armenwesen“. Dr. Münsterberg. Leipzig 1898.
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Beaufsichtigung der in entgeltliche Aussenpflege gegebenen Kinder. 213
besoldete Arzt muss, um leben zu können, nach Privatpraxis suchen, und
kann demnach für die amtlichen Agenden nur die allernothwendigste Zeit
verwenden. Bekömmt er aber für die Controlthätigkeit Bezahlung, kann
man in dieser Richtung über die Arbeitszeit des Arztes verfügen, kann von
ihm Berichte verlangen und Besuche urgiren.
b) Die Aufsichtsdamen. Mit ziemlicher Uebereinstimmung werden
für die nichtärztliche Controle überall Damen verwendet. Diese haben ge¬
wöhnlich Ehrenstellungen, nur in Leipzig, Halle und Dresden erhalten sie
Bezahlung. In Graz wirkt eine mit der Controle über die Kinder berufs¬
mässig betraute Dame. In Berlin und Hamburg werden zur Deckung der
Baarauslageu pro Kind und Monat 60 Pfg. bezahlt.
c) Die Centralcontrolorgane. Sind gewöhnlich Aerzte, nur in
Steiermark nicht. Sie besuchen von Zeit zu Zeit die Kinder und bilden die
eigentliche Verbindung mit dem Findelhause, resp. der die Kosten der Für¬
sorge bestreitenden Behörde. Sie wohnen häufig am Orte der Centrale,
manchmal, wie in Frankreich und Russland, im Departement. Ihr Wirken
wird durch die Vorgesetzte Behörde controlirt, doch kann das nicht mehr
zur Beaufsichtigung der Kinder gerechnet werden.
Die Controle ist jedoch selbst mit all diesen Mitteln noch sehr unvoll¬
kommen und lückenhaft. Und zwar müssen folgende Mängel hervorgehoben
werden: 1. es fehlt die systematische Anlage, 2. die Controle ist nur
episodenhaft und es fehlt das Bindeglied zwischen den einzelnen Control -
factoren, 3. es fehlt das centrale Organ, wohin alle Fäden zusammen¬
laufen.
Diese Mängel haben wir während des erstjährigen Bestandes des Temes-
varer Weissen-Kreuz-Findelhauses überaus drückend gefühlt. Es wird
als Paradoxon klingen, aber die Mängel haben wir viel lebhafter, viel inten¬
siver gefühlt, als dies in alten, grossen, über Tausende von Kindern dis-
ponirenden Findelhäusern der Fall sein dürfte. Der Grund hierfür ist fol¬
gender: Am 10. Januar vorigen Jahres eröffneten wir das Institut mit
35 Betten — leeren Betten. Das erste Kind requirirte ich aus meiner
Privatpraxis. Nach einer verheimlichten Schwangerschaft unter angeblichen
Magenkrämpfen gebar ein Mädchen, zur Ueberraschung der Eltern, ein
2100g schweres Bübchen, das erste Findelkind des Temesvärer Institutes.
Das Kind und alle nach ihm folgenden Kleinen sind uns ans Herz gewachsen;
nicht nur das gesammte Institutspersonal, sondern auch das Damencomite des
Vereins hat für jedes einzelne Kind das grösste Interesse an den Tag gelegt.
Von den im ersten Jahre aufgenommenen 400 Kindern *) kennen wir fast
jedes einzelne persönlich und dem Namen nach, von den meisten sogar die
Familienverhältnisse. Die Kinder begannen wir aufs Land hinauszugeben
und bald meldete man uns die ersten Todesfälle. Der allererste hat uns
Alle in Trauer versetzt. Die Damen weinten. Ich verlangte vom Colonie-
arzte die Krankengeschichte des Falles. Beim zweiten Todesfälle waren wir
der Verzweiflung nahe. Wir fürchteten für den guten Ruf des Institutes.
Den Colonieärzten schrieb ich einen energischen Brief und drohte mit der
Auflassung der Colonie. Mit einem Worte, wir fühlten jeden einzelnen
*) Thatsächlioh nahmen wir 510 Kinder auf, aber die nach einigen Tagen
zurückgenommenen Kinder rechne ich hier ah.
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2 14
Dr. Alexander Szana,
Todesfall individualiter. Dies wäre in einem seit Jahren wirkenden Findel -
hause unmöglich; dort verschwindet das Individuum unter der Gewohnheit,
unter den grossen Zahlen.
Aus diesen Gründen fühlten wir bald die vollkommene Unzulänglich¬
keit der bisherigen Controle. In erster Reihe fühlten wir den Mangel, dass
die auf den Colonieen placirten Kinder nur mehr administrativ unter der
Leitung des Findelhauses stehen, sonst sind sie vollständig dem Coloniearzte
überlassen, und hängt es von dessen Gewissenhaftigkeit ab, dass er die
eventuelle Ungeeignetheit der Pflegemutter, hauptsächlich der Pflegeamme
constatire. Aus der Centrale konnte hierauf keine Ingerenz geübt werden,
obwohl die Verminderung der Sterblichkeit das Verdienst des
Findelhausdirectors, die Zunahme der Sterblichkeit seine
Schuld i81 oder wenigstens dafür gehalten wird. Als Colonie-
arzt werden, da ja die meisten Gemeinden nur den Gemeindearzt besitzen,
die Gemeindeärzte ernannt. Bewährt er sich nicht in seiner Eigenschaft als
Controlarzt, so ist er trotzdem unamovirbar, und man müsste mangels einer
centralen Controle die Kinder dieser Colonie ganz ihrem Schicksale überlassen.
Da nun in Folge der Individualisirung bei der Placirung der Kinder,
wobei Familienverhältnisse, die Nähe der Familie etc. berücksichtigt werden
zahlreiche Colonieen nothwendig sind, so müssen solche auf sich selbst über¬
lassene Colonieen gar häufig entstehen.
Den Nutzen centraler Controle demonstrirten überzeugend die
Resultate des Kassaer Findelhauses. Unter den in Kassa in Pflege befind¬
lichen Säuglingen war die Sterblichkeit 12*29 Proc.; unter den in unmittel¬
barer Nähe befindlichen Säuglingen 15*5 Proc.; unter den in Debreczen, also
fast eine Tagereise vom Kinderasyle Kassa, befindlichen Säuglingen 19*6 Proc. 1 ).
Andererseits kann der aus der Centrale gesandte Controlarzt nur schon
bestehende grössere Schäden bemerken, entweder, dass das Kind schon an
Atrophie leidet, oder schwer krank ist, oder sich in sehr schlechten hygie¬
nischen Verhältnissen befindet; zur Verhütung der Schädlichkeiten im Keime
selbst jedoch, zur Eruirung der Ursache, mit einem Worte zu präventiven
Maas8regeln ist der episodenhafte, zeitweilige Besuch ungenügend. Auch
der Coloniearzt kann seine Aufgabe nur sehr mangelhaft erfüllen. Erstens
und hauptsächlich zufolge Zeitmangels, zweitens werden ihm gewöhnlich
nur Krankheiten gemeldet und indem er diese behandelt, wird er gar selten
an das heroische Mittel denken, welches bei einem schlecht entwickelten
Kinde das wirksamste ist, nämlich das Kind von der Pflegemutter wegzu¬
nehmen und zu einer anderen Pflegemutter in eine andere Gegend zu geben;
übrigens giebt es noch andere Gründe, die die Anwendung dieses heroischen
Mittels verhindern. Der Coloniearzt ist der Arzt der Gemeinde; seine Pflicht,
sein instinctives Bestreben richtet sich dahin, vor jedem Bewohner der Ge¬
meinde ein beliebter Mann zu sein. Die Wegnahme des Kindes ist aber für
die Pflegemutter schmerzlich und schädlich. Sie wird gewöhnlich vom Findel¬
hause kein anderes Kind bekommen und demzufolge materiell und moralisch
geschädigt werden. Zu einer solchen Bestrafung kann sich aber der Ge¬
meindearzt nur sehr schwer entschlossen. Selbstredend sind die Besorg-
*) A feh^r Kereszt kassai fiökjänak 4vi jelentdse az 1900, ävre. Kassa 1901.
22. oldal.
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Beaufsichtigung der in entgeltliche Aussenpflege gegebenen Kinder. 215
nis8e betreffs des Wirkens der Colonieärzte noch gesteigerte dort, wo der
Arzt nicht in der Gemeinde wohnt und diese wöchentlich nur einmal besuchen
kann. Für die Kinder bleibt dann sehr wenig Zeit übrig.
Die Beaufsichtigung durch den von der Centrale entsandten Arzt ist
unentbehrlich und leistet die besten Dienste. Der einzige Fehler besteht
darin, dass das durch sie gelieferte Material nicht verarbeitet ist und dem¬
nach durch die Centrale nicht verwerthet werden kann.
Das dritte Organ der Beaufsichtigung sind die Aufsichtsdamen,
deren Wirken nur zur Ergänzung der ärztlichen Controlarbeit dienen kann.
Die Damen müssen hauptsächlich die Behandlubgsweise, die Kleidung, Woh¬
nung, das sittliche Milieu des Kindes controliren. Bei der Verwendung der
Damen giebt es zwei Systeme. Das eine, nach welchem zeitweise zur Con-
trolirung der Kinder eine oder mehrere Damen aufgefordert werden, das
andere, das sogen. Elberfelder System, nach welchem eine Gruppe von Kin¬
dern einer Dame zugetheilt werden, die so zu sagen der Vormund der Kinder
wird und sonst keine andere Aufgabe hat, als sich mit dieser Gruppe zu
befassen. Unstreitig kann nur mit diesem letzteren System ein Erfolg er¬
reicht werden, da nur in diesem Continuität, Folgerichtigkeit zu finden ist
und wir ja schon nachdrücklichst erwähnten, dass die episodenhafte Controle
werthlos ist.
Die Nachtheile der episodenhaften Controle bestehen darin, dass
der Status quo ante unbekannt ist, daher Vergleiche unmöglich sind. Bei
jedem einzelnen schlecht aussehendem Kinde wird die Antwort gegeben:
„Ach, wenn Sie es nur früher gesehen hätten“, „jetzt wird es ja immer
dicker, aber vorher!“ — und so ist der Werth der Controle zweifelhaft und
nachdem auch noch die Continuität fehlt, geht fast jeder Werth verloren.
Um bei diesem Systeme solch glänzende Erfolge zu erzielen, wie der
Landesverein zum Weissen Kreuze aufzuweisen hat, ist die ausserordent¬
liche Gewissenhaftigkeit der Mitwirkenden, ihre unermüdliche Begeisterung
nothwendig. In unserem Vereine sind diese Bedingungen vorhanden. Jene
edle Ambition, die den Vereinsleiter, Chefarzt Dr. Szalardi in Budapest, er¬
füllt, ging auch auf die unter ihm wirkenden Hülfskräfte über, und nur so
konnten in den durch die bescheidenen materiellen Mittel errichteten Schranken
so schöne Resultate erreicht werden. Der Erfolg auch staatlicher Institu¬
tionen hängt zweifellos gleichfalls vom Eifer der Mitwirkenden ab, doch
erscheint es hier als unabweisbar, dass ein möglichst vollkommenes System
den Rahmen bilde.
Nach alledem will ich nun jenes System erörtern, welches sich im
Teme8värer Institute nach längeren Studien und Versuchen herausbildete
und welches als das allervollkommenste erscheint. Im Temesvärer
System finden wir die centrale Führung der Controle, ihre Conti¬
nuität, endlich die enge Verbindung zwischen ihren einzelnen
Factoren. Das Temesvärer System vereinigt die Vorzüge der Elberfelder
und Leipziger Systeme, die Nutzungen der Pariser consultations de nouris-
sons l \ mit neuen Einrichtungen ergänzt.
Ueberblicke ich die Postulate, die Baginsky 1886 in seiner wieder-
*) Siehe „D£population et puericultur Strauss u . Paris 1901.
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216
Dr. Alexander Szana,
holt angeführten Schrift betreffs der Beaufsichtigung der in Aussenpflege
befindlichen Kinder stellt, so erscheint mir mein nunmehr in die Praxis ein-
geführtes System als ein Idol, wie es Baginsky selbst zu wünschen nicht
wagte. Baginsky wünscht: „Jedes in den Büchern der Waisenräthe ge¬
führtes Kind ist in den ersten zwei Lebensjahren monatlich wenigstens ein¬
mal, später alle Vierteljahre von dem Waisenrathe oder der ihn vertretenden
Dame zu besuchen. Ueber den Befund der Pflegestelle und des Pflegekindes
ist ein Fragebogen auszufüllen und am Schlüsse desselben ein summarisches
Urtheil (Censur) über die Pflege zu geben. Die ausgefüllten Fragebogen
sind zunächst dem Vorsteher der betr. Wirthschaftscommission einzureichen,
welcher in allen schleunigen Fällen unter Mitunterschrift des betheiligten
Waisenrathsmitgliedes der Commission und sachverständiger Aerzte nach
Befinden definitive Anordnungen, die Pflege betreffend, zu treffen hat. Sämmt-
liche Berichte gelangen in noch zu bestimmenden, aus der Praxis sich weiter¬
hin ergebenden Zeiträumen an den Vormundschaftsrichter."
Stellen wir dieser damaligen bescheidenen und doch nicht erfüllten
Pia desideria gegenüber, was bei uns schon thatsächlich eingeführt ist
Das System ist nicht kostspieliger als die bisherigen Systeme, nur er¬
fordert es etwas mehr Arbeit von den einzelnen Mitwirkenden. Diese Arbeit
wird aber jeder Freund unserer Sache gerne leisten.
Temesvarer System. Aufnahme.
Bei der Aufnahme in das Findelhaus, recte Kinderschutzheim, erhält
jedes Kind einen Kopfzettel. Dieser enthält die Beschreibung der Körper¬
entwickelung des Kindes in erster Reihe und hauptsächlich das Körper¬
gewicht. Ich finde es für nothwendig, auf dem Kopfzettel auch jene
anamnestischen Daten zu erwähnen, die auf die hereditären Neigungen des
Kindes eine Schlussfolgerung gestatten *). Hauptgewicht legen wir jedoch bei
dieser Gelegenheit, wie auch bei allen weiteren Controlen, auf das Körper¬
gewicht, aus dem man, einige seltene Fälle abgerechnet, auf die Entwicke¬
lung des Kindes folgern kann.
Während eines eventuellen Aufenthaltes im Institute, Kinderasyle, wird
dieser Kopfzettel klinikmässig geführt.
Hinausgabe.
Wenn nun das Kind zu seinen Pflegeeltern hinausgegeben wird, wird
der Kopfzettel keineswegs ad acta gelegt, sondern als Gesundheits¬
stammblatt weitergeführt. Gerade so, wie das eigentliche Stammblatt *)
sämmtliche administrative Daten des Kindes enthält, wird dieser Kopfzettel
die Gesundheitsgeschichte des Kindes enthalten. Bei der Hinausgabe
des Kindes wird der Tag der nächsten Controle durch den be¬
treffenden Arzt festgesetzt.
Aufzeichnung der nächsten Controle.
Der Tag dieser allernächsten Controle wird in dem Controltermin-
l ) Ein musterhafter Kopfzettel ist „Livret individuel“, welches das Nancyer
„Goutte de lait“ führt und das 68 Daten über das Kind resp. die Eltern enthält.
*) „Catasterblatt“ in Steiermark.
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Beaufsichtigung der in entgeltliehe Aussenpflege gegebenen Kinder. 217
buch verzeichnet. Dieses Buch ist ein Vermerkskalender, der von folgender
Eintheilung ist:
19. Februar 1901. — Montag.
Name des
Name
i
Wohnort.
!
Kopf-
Wann | Wann muss
Wer soll
zu
der Pflege¬
der Pflege¬
zettel
wurde das , es wieder
1
die
controliren-
mutter
mutter 1
Nr.
Kind 1 controlirt
Controle
den Kindes
i
.
controlirt? | werden?
üben?
i
Zeitpunkt der nächsten Controle.
Betreffs des Zeitpunktes der nächsten Controle haben wir folgende
Principien angenommen.
Bei tadellosem Befunde erfolgt die neuerliche Controle:
1. Für Kinder unter zwei Jahren bei fremder Pflegemutter im ersten
Monate nach der Placirung — wöchentlich.
2. Für Kinder unter zwei Jahren bei fremder Pflegemutter nach einem
Monate nach der Placirung — monatlich.
3. Für Kinder unter zwei Jahren bei der eigenen Mutter — alle zwei
Monate.
4. In den drei Sommermonaten ist jedes Kind unter zwei Jahren alle
zwei Wochen zu controliren.
5. Kinder über zwei Jahre — vierteljährlich.
6. Kinder über fünf Jahre — halbjährlich.
Bei nicht zufriedenstellendem Befunde oder Krankheit ist die Controle
früher durchzuführen.
Es ist natürlich, dass bei der Hinausgabe des Kindes stets ein Arzt
anwesend ist und er, der das Ammenbuch unterfertigt, die Fälle genau indi-
vidualisiren wird. Er wird für Kinder, die während ihres Aufenthaltes im
Asyl für krank oder wenig widerstandsfähig befunden wurden, einen näheren
Termin zur Controle bestimmen, als für Kinder mit eiserner Gesundheit.
Wichtig ist auch die Feststellung, wer die nächste Controle durchführe
dies wird natürlich durch den speciellen Zweck der Controle bestimmt.
Die Organe der nächsten Controle.
a) Die Feststellung des Gewichtes in der Centrale.
Hauptprincip ist es, und hierauf lege ich grosses Gewicht, dass die
nicht durch die eigene Mutter genährten Säuglinge (bis zum
zweiten Lebensalter) in der Centrale durch den Arzt untersucht
und gewogen werden. Unter diesen Säuglingen ist die Sterblichkeit die
grösste. Und gerade diese Sterblichkeit kann man am sichersten verhindern.
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Dr. Alexander Szana,
Naturgemäss gelangen die meisten dieser Säuglinge zu solchen Müttern,
deren Milch bedeutend älter als das Kind ist. In den meisten Fällen hindert
dies nun selbst eine vorzügliche Entwickelung des Kindes nicht 1 ), doch
manche Frau bat zu dieser Zeit schon eine solch ungeeignete Milch, dass
das Kind an dieser Brust sich nicht entwickeln könnte. Durch chemische
Untersuchung der Milch kann dies nicht klargelegt werden; auch ist
es unmöglich, dies an dem eigenen Kinde der Pflegemutter zu constatiren,
denn dieses isst im achten bis zwölften Monate ohnehin schon fast Alles.
Ob nun die Pflegemutter für das ihr übergebene Kind geeignet ist, kann
man nur durch das wöchentliche Wägen des Kindes eruiren. Wenn das
Kind* wöchentlich nicht in dem für das einzelne Alter festgesetzten durch¬
schnittlichen Procentsatz zunimmt, ist die Frau für dieses Kind ungeeignet,
und nach zwei- bis dreiwöchentlichem Zuwarten, bei beunruhigender Ab¬
nahme schon früher, nehmen wir das Kind einfach fort. Das ist auch der
Grund, wesshalb das Wä^en in der Centrale zu erfolgen hat. Der Colonie-
arzt ist aus den früher erwähnten Gründen mit dieser Feststellung des
Körpergewichtes nur ausnahmsweise zu betrauen. Nur bei sehr schlechter
Witterung, im frostigsten Winter, liess ich die Säuglinge nicht in die Cen¬
trale kommen. Sonst ist es ja eine bekannte Sache, wie gut Säuglinge bei
sorgsamer Einhüllung den Einflüssen der Witterung widerstehen. Das Wiegen
selbst kann durch eine einfache Inspection nicht ersetzt werden. Wenn ein
gut genährter, pausbäckiger Säugling vier Wochen lang auch nicht zunimmt,
so ist oder kann sein Aeusseres dennoch tadellos sein. Wiederholt bekommen
wir Meldungen von Seite des Gemeindearztes, das Kind gedeihe wunderbar,
wogegen die Waage einen Stillstand seit vielen Wochen oder sogar eine
kleine Abnahme zeigt. Mit freiem Auge ist es nicht zu constatiren, ob das
Kind nicht zunahm. Daran kann man gar nicht zweifeln, dass eine solche
Pflegemutter, bei der ein Säugling vier Wochen lang nicht zunimmt, zur
Weiterernährung nicht geeignet ist.
In solchen Fällen, ferner in allen ernsteren Fällen, erfolgt die nächste
Controle in der Centrale. Die Pflicht, in die Centrale zu kommen, ist un¬
streitig eine grosse Last für die Pflegemutter, doch wir binden die Hinaus¬
gabe des Kindes an diese Verpflichtung, und bisher hat desswegen keine ein¬
zige Pflegemutter die Uebernahme des Kindes verweigert.
Einen weiteren grossen Nutzen dieser ärztlichen Controle in der Centrale
bilden die sich dort ergebenden Belehrungen. Die Mutter gewöhnt sich
durch das Wägen des Kindes an eine gewisse Verantwortlichkeit. Sie sieht
in der Gewichtscontrole des Kindes bald einen Selbstzweck. Jede Gewichts¬
steigerung freut sie, jede Abnahme entsetzt sie. Durch Vergleich mit den
anderen zur Controle hineingekommenen Säuglingen wächst ihre Ambition,
doch erkennt sie auch bald die Richtigkeit der ärztlichen Belehrungen. Diese
Zusammenkünfte geben eine wahre Volksschule der Säuglingspflege, und
jeder Hygieniker wird einer solchen Constdtalion de nourisson mit aufrich¬
tiger Freude zusehen. Für die grossen Erfolge dieser ärztlichen Beaufsich¬
tigung und Berathung spricht es, dass die Pariser Behörden in den letzten
zwei Jahren neun solche Säuglingsconsultationen, verbunden mit der Abgabe
*) Siehe die Arbeiten Epstein’s, dann Czerny und Keller: „Die Ernäh¬
rung des Kindes“. Leipzig 1901.
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Beaufsichtigung der in entgeltliche Aussenpflege gegebenen Kinder. 219
sterilisirter Milch, errichtet haben l ). Wir geben häufig den Müttern auch
noch gedruckte Belehrungen 8 ).
b) Coloniearztcontrole.
Ausser dem ärztlichen Leiter der Centrale ist als Controlorgan der
Coloniearzt zu betrachten. Wenn wir die allernächste Controle auf Grund
der weiter oben ausgeführten Principien dem Coloniearzte überlassen, senden
wir ihm folgende Postkarte:
Landesrerein zum Weissen Kreuze. — Temesvärer Filialinstitut.
Geehrter Herr College!
Belieben Sie uns über das Körpergewicht (nach Abzug der Kleidung)
und das Befinden des Kindes Namens.
(Name der Pflegemutter) .zu berichten.
Insbesondere ersuchen wir Sie,
Teme8vär, 190
Mit collegialem Gruss
Directionsarzt.
Der Arzt antwortet ebenfalls auf vorgedruckter Karte,
c) Aufsichtsdamencontrole.
Weniger specialistische Beaufsichtigungen kann man den Aufsichtsdamen
überlassen. Zu solchen fordern wir an dem Aufenthaltsorte des Kindes woh¬
nende intelligentere Damen auf und einer Dame geben wir vier, nur noth-
falls sieben und ausnahmsweise acht Kinder zur Beaufsichtigung. Aufsichts¬
damen ernennen wir auf Empfehlung des Geistlichen, Notars oder Colonie-
arztes der betreffenden Gemeinde. Die Ernennung geschieht mittelst eines
in warmem Tone gehaltenen Documentes, in dem betont wird, dass die Auf¬
sichtsdame berufen ist, das Wirken des Arztes zu ergänzen. Sie ist der
Vormund der vier Kinder, jede Klage gegen die Pflegemutter genügt, dass
wir das Kind sofort wegnehmen. Den Namen des Kindes theilen wir auf
schönem Cartonblatte mit:
Namens- und Wohnnngsliste
der durch das Temesvärer Filialinstitut des Landes Vereines zum WeisRen
Kreuze erzogenen und der Beaufsichtigung der gnädigen Frau
anvertrauten Kinder.
*) Siehe Budin, Le nourisson, Paris 1900; Strauss, Depopulation et puäri-
cultur, Paris 1901; Dr. Szana, Säuglingsmilch in den Städten; Vortrag auf der
Wanderversammlung ungarischer Aerzte in Bärtfa 1901.
*) Dr. Neumann, Aerztliche Anweisungen für die Mütter kranker Kinder.
Berlin.
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220
Dr. Alexander Szana,
Diese vier Kinder können die Damen nach Belieben besuchen, dürfen
dieselben sogar zu sich bringen lassen. Es ist jedoch bekannt und überall
wurde die Erfahrung gemacht x ), dass die Damen, so gerne sie sich mit der
Beaufsichtigung befassen, so schwer sind sie zu schriftlichen Berichten zu
bewegen. Um hier Abhülfe zu schaffen, senden wir jeder Dame von Zeit zn
Zeit zehn Exemplare der folgenden Drucksorte nebst entsprechend adressirten
Rückcouverts.
Die zu melden gewünschten Daten bitten wir zn unterstreichen!
Geehrte Direction!
Ich verständige Sie, dass das Kind Namens
krank aussieht,
sich schlecht entwickelt,
nicht genügende Nahrung erhält,
unrein gehalten wird,
keine entsprechende Kleidung, Wäsche, Schuhe hat,
schlecht behandelt wird,
in ungesunder Wohnung ist,
nicht unter gehöriger Aufsicht ist,
ein unreines Bett hat.
Unterschrift.
Datum
Der Erfolg dieses einfachen Kniffes ist ausgezeichnet. Täglich bringt
die Post Berichte, welche den Damen nicht mehr Arbeit verursachten, als
zwei Namen und ein Strich. Manche Dame ist sogar sehr ungeduldig und
wenn dem Verlangen nach Kleidung nicht sofort entsprochen wird, sendet
sie wöchentlich selbst zwei Berichte.
Auch zur Anfachung des Interesses der Damen fanden wir ein gutes
Mittel. Und zwar besteht dies darin, dass wir die Dame von allen das
Kind betreffenden Angelegenheiten benachrichtigen. Wir zeigen ihr das
Resultat der ärztlichen Controle an, verständigen sie von der Uebergabe
neuer Kleider, lassen sogar einen milden Vorwurf durchschimmern, wenn
irgend eine Vernachlässigung gefunden wurde. Dieses Vorgehen bewährte
sich glänzend, und die Damen betrachten einen jeden solchen Bericht als
neuen Impuls zur sorgfältigeren, eifrigeren Controle.
Die Damen sind dabei nicht verpflichtet, von allen Controlbesuchen
Bericht zu erstatten, sondern nur, wenn sie uns etwas mittheilen wollen,
geschieht dies mittelst des erwähnten Formulars.
In solchen Fällen nun, in denen die in der Centrale nothwendig befun-
Waisenhausdirector Stalmann’s (Hamburg) Vortrag: Beaufsichtigung der
in Familienpflege untergebrachten Kiuder. Stenographischer Bericht über die
XIX. Jahresversammlung des deutschen Vereines für Armenpflege und Wohlthätig-
keit. Breslau 1899.
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Beaufsichtigung der in entgeltliche Aussenpflege gegebenen Kinder. 221
dene und bestimmte nächste Controle einen Arzt nicht benöthigt, indem
vielleicht nur von einem kleinen Reinlichkeitsfehler die Rede ist y wird für
die nächste Controle die Aufsichtsdame in das Controlterminbuch ver¬
zeichnet. In diesen Fällen fordern wir die Dame brieflich auf und stellen
ihr zur Antwort folgende Postkarte zur Verfügung.
Landesverein zum Weissen Kreuze. — Temesvärer Filialinstitut.
SßtT* Da» Ueberflüssige bitten wir durchzustreichen.
Geehrte Direction!
Auf Ihre Aufforderung verständige ich Sie, dass das Kind Namens
Bchon [nicht mehr] ganz gesund ist,
schon [nicht mehr] rein gehalten wird,
die Wohnung der Pflegemutter schon [nicht mehr] gesund ist,
die Kleidung schon [nicht mehr] genügend ist.
Achtungsvoll
Aufsichtsdame des Temesvärer Filialinstitutes
des unter dem Protectorate der Erzherzogin
Clotilde stehenden Landes Vereines vom
Weissen Kreuze.
Solche Aufforderungen erwiesen sich gleichfalls als vorzügliche Mittel,
das Interesse der Damen wachzurufen. Und jetzt senden wir solche Aufforde¬
rungen schon regelmässig aus, auch wenn wirkliche Nothwendigkeit es nicht
erheischt.
Ein ganz ausserordentlicher Mangel in der Thätigkeit der Aufsichts¬
damen stellt sich aber gerade in den kritischen Sommerdiarrhoemonaten
Juli, August, September ein. In diesen Monaten, in denen die Beaufsichti¬
gung der Kinder am dringendsten wäre, sind die meisten Damen verreist
und die Anwesenden lehnen mit Berufung auf die ausserordentliche Hitze
oft ein Mandat ab. Am auffallendsten ist dieser Mangel in den Städten.
Ich war daher im Sommer dieses Jahres gezwungen, eine Dame (die adelige
Wittwe eines früh verstorbenen Richters) gegen Entgelt als Aufsichtsdame
für diese drei Monate anzustellen. Sie besucht täglich zehn Kinder, hat die
Pflicht, überall längere Zeit sich aufzuhalten, helehrend und berathend der
Pflegemutter beizustehen. Ihre Berichte übergiebt sie auf kleinen Blättchen,
die auf dem gesundheitlichen Stammblatt aufgeklebt werden.
Bericht der Aufsichtsdame vom 190
Name Reinlichkeit | Reinlichkeit | Kenntnisse über | Be¬
de» Kindes des Kindes | der Wohnuag Säuglingsernährung merkungen
i .. . 1 ”
Tag
des Besuches
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222
Dr. Alexander Szana,
d) Der controlirende Centralarzt.
Das vierte, äusserst bedeutungsvolle Mittel der Controle ist die Inspec-
tionsreise des Centralarztes. Zeitweilig wird nämlich aus der Centrale ein
Arzt zur Ueberprüfung der Colonieen entsandt. Wie oft dies geschehen soll,
ist eigentlich eine finanzielle Frage. Je öfter, desto besser. Der exmittirte
Arzt nimmt folgende Drucksorte mit:
Landesverein zum Weissen Kreuze. — Temesvärer Filiale.
Controle
der . Colonie
am . 190..
Name des Controlarztes
Begleiter..
Weisungen:
Mit I. wird jenes Kind bezeichnet, das rothe Backen, rothe Nackenhaut,
reiche Fettpolster und eine seinem Alter entsprechende Entwickelung
aufweist. Also tadellos ist.
Mit II. wird berichtet, dass Krankheit wohl nicht zu finden ist, aber das
ganze Aeussere die obigen Bedingungen nicht erreicht.
Krankheit wird ausdrücklich benannt.
Neuerliche Controle erfolgt bei tadellosem Befunde:
1. Ueber ein Kind unter zwei Jahren bei fremder Pflegemutter, im ersten
Monate nach der Placirung — wöchentlich.
2. Ueber ein Kind unter zwei Jahren bei fremder Pflegemutter nach dem
ersten Monate — monatlich.
3. Ueber ein Kind unter zwei Jahren bei der eigenen Mutter — zwei¬
monatlich.
4. In den drei Sommermonaten ist jedes Kind unter zwei Jahren zwei*
wöchentlich zu controliren. J
5. Kinder über zwei Jahren — vierteljährlich.
6. Kinder über fünf Jahren — halbjährlich.
Bei nicht befriedigendem Befunde oder Krankheit ist frühere Controle
nothwendig.
Bückseite.
Nr.
Name
des
Kindes
Alter
Name
der
Pflege¬
mutter
i Resultat
der
letzten
Controle
Resultat
der
gegen¬
wärtigen
Controle
Ge¬
wicht
Zeit¬
punkt der
nächsten
Controle
i
i
1 Bemer¬
kungen
(Reinheit
etc.)
i
i
j
1 |
i 1
1
i
i
i
| ' 1 ,
1_
Der Vorzug dieses Formulars besteht darin, dass der Arzt orientirt ist
über die Vergangenheit des Kindes und kann die Aufmerksamkeit in der
letzten Rubrik noch eigens auf zu berücksichtigende Dinge gelenkt werden.
Auf Grund der unmittelbaren Eindrücke wird dann der Arzt an Ort und
Stelle den Zeitpunkt der allernächsten Controle bestimmen.
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Beaufsichtigung der in entgeltliche Aussenpflege gegebenen Kinder. 223
Von seiner Inspectionsreise zurückgekehrt, wird das Meldeblatt sofort
aufgearbeitet. Und zwar a) das Resultat der Controle wird auf dem Kopf¬
blatte des betr. Kindes notirt; b) die nächste Controlzeit wird in das Control¬
terminbuch verzeichnet; c) vom Resultate werden die betr. Aufsichtsdamen
verständigt.
Weitere Controlen.
Der Tag der weiteren Controlen wird stets anlässlich der letzten Con¬
trolen bestimmt. Das ist unstreitig am richtigsten. Es ist der gewonnene
Eindruck, der über die Dringlichkeit der nächsten Beaufsichtigungen, natür¬
lich in dem Rahmen der festgesetzten Principien, entscheidet.
Es ist nur natürlich, dass diese aus der Centrale dirigirten Beaufsich¬
tigungen die öfteren Controlbesuche der Colonieärzte und‘Aufsichtsdamen
nicht ausschliessen. Im Gegentheile, diese Centralcontrolen bieten einen
Rahmen, den sämmtliche Factoren mit je häufigeren und wirksamen Con¬
trolen auszufüllen bestrebt sein werden, damit die Centralorgane je bessere
Zustände finden mögen.
Belehrung der Pflegemütter.
Ein weiteres Mittel zur Erreichung unseres Zweckes ist die Belehrung der
Pflegemütter. Diese Belehrung geschieht in erster Reihe im Ammenbuche.
Vor mir liegen die Ammenweisungen von Steiermark, Halle, Hamburg, Posen,
Elberfeld und Leipzig. Sie sind alle ähnlich. UnBer von Docent Dr. Sza-
lardi verfasstes ist vielleicht das allerklarste und kürzeste. Die Centrale
des Weissen-Kreuz -Vereines pflegt im Juni die Filialanstalten auf die
Sommerdiarrhoe der Kinder mit der Weisung aufmerksam zu machen, dass
im Wege der Colonieärzte auf die Pflegemütter eingewirkt werde. Wir in
Temesvär kommen dieser Aufforderung in der Weise nach, dass wir den
Pflegemüttern auf l / 4 Bogen härteren Papiers folgende gedruckte Mitthei¬
lungen senden:
Christus sagte: Wer Eines von
diesen Kleinen aufnimmt, der
nimmt mich auf.
Matth&us 18. K.
In Ungarn sterben jeden Sommer 60 000 Kinder an Diarrhoe!
Die Pflegemütter, die vom Weissen-Kreuz-Vereine Kinder erziehen,
werden daher aufmerksam gemacht, dass:
1. es strenge verboten ist, im Sommer die Kinder zu entwöhnen;
2. es strenge verboten ist, den Säuglingen etwas anderes, als gleich nach
dem Melken aufgekochte Milch zu geben, welche Milch vor Genuss
noch einmal aufgekocht werden muss (hierzu ist auch des Arztes Ein¬
willigung nöthig);
3. wenn das Kind die geringste Diarrhoe hat, man ihm gar nichts mehr
geben darf, sondern sofort den Arzt rufen muss.
Diese Belehrung geben wir übrigens auch den Aufsichtsdamen bekannt,
indem wir für diese Monate um ihre gesteigerte Wirksamkeit bitten. Leider
ist dies, wie schon bemerkt, gewöhnlich erfolglos, wesshalb wir für diese Zeit
eine bezahlte Inspectionsdame anstellen.
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224
Dr. Alexander Szana,
Ueberdies haben wir es in unser Programm aufgenommen, im Sommer
während der Inspectionsreise auf den Golonieen Vorträge zu halten und in
denselben dem Volke von den Sommergefahren zu erzählen. In Südungarn
geht das Volk sehr gerne zu diesen Vorlesungen, und wir hielten auch schon
solche mit grossem Erfolge. Ich bemerke hierbei aber, dass ausser all¬
gemeinen Reinheitsregeln ich nur die Principien der Säuglingsernährung
von ärztlichem Standpunkte zu behandeln die Absicht habe. Für die Er¬
nährung der grösseren Kinder hat die ärztliche Wissenschaft noch keine
bestimmten wissenschaftlichen Principien. Die Auffassungen schwanken
noch l ) und der Erfolg spricht eher für die in den Bauernhäusern gebräuch¬
liche Ernährungsweise, als für den ärztlich dirigirten Speisezettel der vor¬
nehmeren Familien 2 ).
Die Belehrung der Pflegemütter, die ja bei unserer Institution oft die
eigene Mutter ist, bildet einen wichtigen Punkt der Wirksamkeit der ganzen
Institution der Kinderasyle. Unsere Erfahrung macht es zweifellos, dass
die Mehrzahl der sterbenden Säuglinge ein Opfer der Unwissenheit der
Mutter ist. Jede einzelne von uns unter Androhung von Strafen und Ent¬
zug der Pflege belehrte Mutter ist nun nicht nur eine für rationelle Kinder¬
pflege gewonnene Mutter, sondern sie bildet gleichzeitig ein Centrum, von
wo aus die Lehren der richtigen Kindespflege sich ausbreiten. Ihr trefflich
gedeihendes Kind wird eine Reclame für die Lehren der richtigen Kinder¬
pflege. Einzelne besonders ambitionirte Colonieärzte halten im Winter der
Landbevölkerung Curse über Kinderpflege, und Dr. Gömöry giebt sogar nur
solchen Frauen die Concession zur Pflegemutter, die sich einer Prüfung ihrer
Kenntnisse unterziehen.
Stammbuch der Pflegemütter.
Eine wichtige Einrichtung ist noch, dass wir über die Pflegemütter ein
Stammbuch führen. Zu diesem Zwecke gebrauchen wir ein alphabetisches
Namenregisterbuch. Jeden Tod schreiben wir zu Lasten der Pflegemutter,
jede besonders gelungene Pflege zu ihren Gunsten. Dies erscheint schon
desshalb nothwendig, damit wir jener Bestimmung der ministeriellen Verord¬
nung Nr. 50000/1898 nachkommen, die verfügt, dass, wo zwei Kinder —
selbst wenn ohne Verschulden der Pflegemutter — starben, dorthin kein
weitere^ Kind gegeben werden kann. Die Führung des erwähnten Buches
ist auch nothwendig zur gerechten Vertheilung der Belohnungen. Wir ver¬
achten selbst die so häufigen anonymen Anklagen betreffs der Behandlung
der Kinder nicht. Der Zweck heiligt die Mittel und wenn irgendwo, gilt
es hier, dass „Kein Rauch ohne Feuer“. Jede Anzeige wird durch uns
gründlich untersucht. Das Resultat verzeichnen wir auf dem Stammblatte
der Pflegemutter. Wenn wir auch nichts Anderes erreichen, so doch das,
dass die Pflegemutter fühlt, sie werde von geheimen Beobachtern umringt.
Hiermit glaube ich, die Beschreibung des in Temesvär angewendeten
Controlsystems beendigen zu können.
1 ) Prof. Eulenburg: „Hygiene des Kindesalters“. Kleines Journal für Hy¬
giene 1900.
2 ) Dr. Szana: Temesvär, „Untersuchungen über die Ursachen der Ueber-
ernährung und Unterernährung bei Kindern“. Berlin 1901.
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Beaufsichtigung der in entgeltliche Aussenpflege gegebenen Kinder. 225
Die Charakteristik des Systems besteht in Folgendem:
1. In der Centrale werden Stammblätter geführt über die Gesundheits-
Verhältnisse t Entwickelung und Gewichts Verhältnisse aller Kinder.
Diese Daten liefern die Controlen.
2. Die Controlen sind nicht zufällige, sondern nach bestimmten Princi-
pien bestimmte, indem bei der letzten Controle stets der Zeitpunkt
der nächsten festgesetzt, deren pünktliche Einhaltung durch das
Evidenzhaltungs^uch ermöglicht wird.
3. Säuglinge, die nicht durch die eigene Mutter genährt werden, werden
in der Centrale erst wöchentlich, bei befriedigender Entwickelung
später seltener gewogen.
4. Ueber vier bis fünf Kinder wird eine Dame mit der vormundschaft¬
lichen Beaufsichtigung betraut, und diese Dame referirt der Centrale
auf unseren Drucksorten durch einfaches Unterstreichen, wogegen sie
von allen auf das Kind Bezug habenden Daten verständigt wird.
Nur nothfalls wird über mehrere Kinder eine bezahlte Aufsichtsdame
angestellt.
5. Ueber die Pflegeeltern wird ein Stammbuch geführt, in dem alle auf
dieselben Bezug habenden Daten eingetragen werden.
Die Vorzüge des Systems über die bisher angewendeten und in der
Fachliteratur besprochenen Systeme bestehen darin:
a) die verantwortungspflichtige Centrale vermag täglich über die Ent¬
wickelung eines jeden einzelnen Kindes Rechenschaft zu geben;
b) die Zahl und Zeit der Controlen setzt stets ein Arzt auf Grund der
Gesundheitsgeschichte des Kindes fest;
c) Pflegemutter, Coloniearzt und Aufsichtsdame sehen, dass ihre Wirk¬
samkeit betreffs jeden einzelnen Kindes controlirt wird;
d) durch das Wiegen der Säuglinge in der Centrale ist es mit
Sicherheit zu vermeiden, dass das Kind bei einer ungeeig¬
neten Pflegemutter bleibe. Und zwar wird die Ungeeignet¬
heit durch das Wiegen zu einer Zeit constatirt, in der
Hülfe noch möglich ist, während mit freiem Auge zumeist nur
mehr die nicht wieder gut zu machende Schädigung wahrgenommen
werden kann.
Damit dieses System mit all seinen Vorzügen angewendet werden könne,
sind in das Aufsichtsstatut folgende Punkte aufzunehmen:
I. Ueber jedes Kind wird ein Gesundheitsstammblatt auf Grund der
Controlresultate geführt.
II. Die Bestimmung der Controlzeit erfolgt in der Centrale durch den
Arzt auf Grund des letzten Befundes und wird in das Controltermin¬
buch eingetragen.
III. Das obligate Wiegen der nicht durch die eigene Mutter genährten
Säuglinge in der Centrale.
IV. Die Ernennung und Verwendung der Aufsichtsdamen in der be¬
schriebenen Weise.
V. Die Führung eines Stammbuches über die Pflegemütter.
VierteljahrBBchrift für Gesundheitspflege, 1902.
15
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226
Wasserbauinspector Schümann,
Die Verunreinigung der öffentlichen Gewässer
zu Berlin.
Von Wasserbauinspector Schümann (Berlin).
Die Verunreinigung der Berliner Wasserläufe hat in den letzten
Jahren allgemach einen solchen Umfang angenommen, dass es, abgesehen
von ästhetischen Bedenken, allein aus gesundheitlichen Gründen geboten
erscheint, sie auf ihre Ursachen hin zu prüfen und gegebenenfalls Mittel
zur Abhülfe vorzuschlagen.
Die Vorwürfe richten sich zumeist dagegen, dass die Nothauslässe zu
häufig in Thätigkeit treten, worauf nicht nur der äussere Anblick der nach
jedem stärkeren liegenfall mit schmutzigem Wasser gefüllten Flussbetten,
sondern auch im Sommer das Fischsterben und an manchen Stellen Aus¬
dünstungen hinweisen, die bei den Anwohnern Anstoss und Besorgniss
erregen.
Die Forderung, die an den Grad der Reinheit eines Wasserlaufes als
untere Grenze gestellt werden muss, ist, dass die Verunreinigung ein erträg¬
liches Maas8, das von der Natur des Flusses abhängt, nicht überschreitet,
insbesondere, dass Nase und Auge nicht durch umherschwimmende Stoffe
belästigt werden, und die Flusssohle nicht übermässig verschlammt ist.
Bevor nun auf die Berechtigung der vielfach erhobenen Klagen ein¬
gegangen wird, soll zunächst die Art der Entwässerung von Berlin und
seinen Vororten, soweit ihre Vorfluth nach dem Spreebecken weist, und die
anderweitigen Quellen von Verschmutzungen der öffentlichen Wasserläufe
kurz berührt werden.
Bekanntlich wurde Berlin durch die von Alters her übliche Be¬
seitigung der Abwässer und die damit verbundene Verjauchung der Wasser¬
läufe bei der stetig wachsenden Bevölkerung schon in den fünfziger Jahren
gezwungen, einer gesundheitsmässigen, unterirdischen Entwässerung der Stadt
näher zu treten, die nach Hobrecht’sehen Entwürfen in den Jahren 1873
bis 1893 ausgeführt und seitdem nach Bedarf weiter ausgebaut wurde.
Aus dem gegenüberstehenden Lageplan sind die Grenzen der 12 Radialbezirke,
die an einigen Stellen aus örtlichen Gründen über das Weichbild hinausgreifen,
und auf S. 230 ihre Grösse, das Jahr ihrer Eröffnung und sonstige Angaben
von Bedeutung ersichtlich; es fehlt demnach nur noch der BezirkXI, dessen
Ausbau wegen seiner geringen Bebauung noch nicht in Angriff genommen ist.
Bei der Entscheidung über die Frage, ob Regen- und Hauswässer in
zwei getrennten oder in einer gemeinsamen Leitung abgeführt werden
sollen, entschloss sich die Stadt für die letztere Art: das Miscbsystem, in¬
dem Hobrecht, gestützt auf die grundlegenden Untersuchungen von
E. Wiebe, nach Gegenüberstellung der Vorzüge und Nachtheile des Trenn-
und des Mischsystems, darauf hinwies, dass, „wenn in irgend einer Stadt
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Die Verunreinigung der öffentlichen Gewässer zu Berlin. 227
das combinirte System den Vorzug verdient, dies in Berlin der Fall ist,
ja, dass es hier das einzig anwendbare ist“ x ).
Berlin und Umgebung.
Legende: Die ganz und die theilweise — gerade und schräg — schraffirten Flächen bezeichnen diejenigen
Gebiete von Berlin, Charlottenburg und Bixdorf, die canalisirt sind oder noch angeschlossen werden sollen.
Demgemäss wurden die Abmessungen für das gemeinsame Leitungs¬
netz so gross gewählt, dass „ein Regenfall von 4mm Höhe und, unter der
Voraussetzung, dass in Folge Verdunstung, Versickerung und verlang¬
samten Abfluss 2 ) nur ein Drittel des Niederschlages den Leitungen zufliesst
(da der durchaus sandige Boden von Berlin eine starke Versickerung wahr-
x ) Hobrecht, Canalisation von Berlin, S. 87.
*) Ebenda, S. 103.
15*
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228
Wasserbauinspector Schümann,
sc-heinlich macht), ein Regenfall 1 ) von 12 mm und, halbe vorherige Füllung
der Leitung vorausgesetzt, ein Regenfall von 6 mm zur gänzlichen Füllung
derselben erforderlich ist“. Die secundliche Gesammtwassermenge wurde
zu 22*7 Liter für das Hektar angenommen, von denen auf das Hauswasser
1*5 Liter und auf das Regenwasser 21*2 Liter entfallen.
Bei der Ausführung wurden die nach diesen Grundsätzen berechneten
Abmessungen der Leitungen des weiteren bis um etwa ein Drittel erhöht
und zur wirksamen Entlastung des Rohrnetzes bei aussergewöhnlichen
Regenfällen eine Anzahl von Nothauslässen rechnerisch ermittelt, die jedoch
zur weiteren Sicherheit durch eine Reihe überzähliger Nothauslässe an ört¬
lich besonders geeigneten Stellen noch vermehrt wurden.
Hiernach sind in den zunächst bis zum Jahre 1881 erbauten Radial-
bezirken I bis IV 30 Nothauslässe von den Strombehörden genehmigt
worden; dass aber diese Anzahl nicht ausreichte, zeigte das regnerische
Jahr 1882 mit 763mm Regenhöhe, von denen 188mm allein auf den Juli
entfielen. In den nächsten Jahren wurden durch 25 weitere Nothauslässe
die vorhandenen ergänzt, und unter Berücksichtigung der gemachten Er¬
fahrungen ihre Anzahl in den übrigen Radialbezirken gleichfalls vermehrt.
Es sind bis heute für die 11 im Betriebe befindlichen Radialbezirke 120
Nothauslässe mit einer grossen Anzahl Regenüberfällen genehmigt, von
denen auf die Spree 53, auf den Landwehr- und Luisenstädtischen Canal
51 und auf den Spandauer Schifffahrtscanal 10 entfallen, während sechs
Nothauslässe ohne strombehördliche Genehmigung in den Privatfluss „die
Panke“ münden.
Wenngleich die Hobrecht’sehen Annahmen in Betreff der Abfluss¬
menge des Regenwassers vielfach und wohl nicht mit Unrecht angegriffen 2 )
worden sind, da sie einerseits die Regen höhe und Abfluss men ge zu nie¬
drig bemessen, andererseits die Abflussdauer über die Regendauer
hinaus zu wenig berücksichtigen, so konnte doch thatsächlich eine Ueber-
einstimmung der Annahmen mit der Wirklichkeit bis in die neuere Zeit
hinein im Allgemeinen wohl festgestellt werden. Dass trotz der mangel¬
haften wissenschaftlichen Unterlagen und der fehlenden Erfahrungen in
anderen Städten von ähnlicher geologischer Lage die Berliner Canalisation
sich so lange Jahre bewährt und überall hohe Anerkennung gefunden hat,
lässt die Verdienste Hob recht* 8 in einem um so helleren Lichte erscheinen.
Für die Segnungen, die die Stadt Berlin der Canalisation, verbunden
mit einer reichlichen Trinkwasserversorgung, verdankt, spricht die Abnahme
der Todesfälle vielleicht die eindringlichste Sprache. Es betrugen
Die Todesfälle
In den Jahren
1875
1880
1885
1890
1895
1899
Ueberhaupt vom Tausend.
Durch Typhus vom Zehntausend . .
32 9
97
29*7
4’5
24-4
1*6
21*5
09
21*1
0-6
19*5
04
x ) Ebenda, S. 145.
*) Z. B. Büsing, Zeitschrift „Gesundheit“, 1900, Nr. 7.
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Die Verunreinigung der öffentlichen Gewässer zu Berlin. 229
Wenngleich die Verbesserung der Lebenshaltung in Folge des wirth-
schaftlichen Aufschwunges in den letzten 25 Jahren nicht ohne Einfluss
auf die Abnahme der Sterblichkeit gewesen ist, so muss doch der Regens¬
reichen Einwirkung der Canalisation ein vollgestrichenes Maass zugebilligt
werden.
Ueber den gewaltigen Umfang des Betriebes in den Pumpwerken geben
die von Jahr zu Jahr steigenden Mengen des geförderten Abwassers Auf¬
schluss, die wiederum abhängig sind von der Anzahl der angeschlossenen
Gebäude und ihrer Bewohner, von den zugeführten Reinwassermengen und
des Theiles der jährlichen Regenmenge, der nicht verdunstet und der durch
die Nothauslässe entweicht. Ueber diese Regenmenge wird jedoch aus der
Tabelle kein Aufschluss zu erhalten sein, da nicht nur das aus den Strassen-
und Hofbrunnen, sondern auch das zu gewerblichen Zwecken aus Tiefbrunnen
und den Wasserläufen entnommene Wasser zum Theil mit abgeführt wird.
Jahr
Einwohner¬
zahl des
Weichbildes
(Tausend)
Eröffnung
des
Radial¬
bezirks
Nummer
A nzahl
Durch die
Pump-
, Stationen
wurden bin-
ausgefordert
Cubikmeter
(Million)
Wasser¬
werke in
die Stadt
gepumpt
Cubikm.
(Million)
der an¬
geschlossenen
Grundstücke
ihrer
Ein¬
wohner
(Tausend);
1870
763
—
—
1876
998
III
1 025
40 |
17*5
1879
l 089
I, II u. IV
3 602
170 I
5*13
19*1
1881
1 157
V
9 867
580 1
20*03
21*9
1885 ,
1 316
VII u. VI
15 895
1 000
37*23
27*5
1890 1
1 579
x u. vni
19 898
1 200
52*48
35*4
1891 !
1 607
-
21 352
1 400
58*72
38*0
1892
1 622
_
22 012
1*550 1
61*21
40*0
1893
1 641
' IX u. XII
22 578
1 592
63*55
41*6
1894
1 656
23 358
1 665
66*31
41*9
1895
1 679
24 689
1 677
69*61
49*0
1896
1 723
_
25 259
1 716
71*59
48*9
1897 1
1 759
—
25 711
1 744
73*18
49*9
1898
1 798
26 114
1 774
75*61
50*7
1899
1 845
26 435
1 787
78*01
51*3
1900
1 8*4
26 745
1 968
80*91
1 1
53*9
Während im Allgemeinen jedes bebaute Grundstück von Berlin auf
Grund der Polizeiverordnung vom 14. Juli 1874 an den Strassencanal an¬
geschlossen werden muss, wird für die Einleitung deijenigen gewerblichen
Abwässer eine Ausnahme zugelassen, deren einwandfreie Beschaffenheit nur
zur dauernden Belastung der Pumpwerke dienen würde. Diese Abwässer
werden auf Grund besonderer Genehmigung von Seiten der Strombehörden
unmittelbar in die öffentlichen Wasserläufe eingeleitet, nachdem sie durch
Schlammfänge, Fettabscheider, Coksfilter u. s. w. gereinigt worden sind.
Die übrigen gewerblichen Abwässer fliessen ohne besondere vorherige
Reinigung der städtischen Canalisation zu. Eine Beaufsichtigung und Prü-
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230
W&B8erbauinspector Schümann,
fuDg derselben wird von Seiten der Stadt im Allgemeinen nicht ausgeübt;
es besteht nur mit Rücksicht auf die Schonung der Pumpen und Leitungen
die Vorschrift, dass mehr als 0*1 Proc. freie Säuren und Alkalien nicht im
Abwasser enthalten sein dürfen.
Vermittelst Schwemmcanalisation entwässerten im Jahre 1900:
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1
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A. Berliner Radialbezirk einschl. der Gebietsteile von Schöneberg,
Charlottenburg, Lichtenberg.
I.
I| 1879
272*8
12 100
14
400 |
! l
0*75
II.
05
r>.
00
349*2
16 500
16
500
l
1*00
III.
11876
389*7
16 600
30
400
1
0*75
IV.
1879
361*7
29 400
19
800
l
1*00
V.
1881
307*8
38 700
4
760
l
1*00
VI.
1885
369*1
12 300
11
380
1
0*75
VII.
1885
415*4
18 100
7
350
l
0*75
VIII.
1890
705*7
23 000
11
550
1
1*00
ca. 76 Proc. angeschlossen
IX.
1893
518*0
17 000
3
180
l
0*75
desgl. 40 Proc.
X.
1890
460*8
15 600
1
350
1 |
0*75
desgl. 60 Proc.
XI.
—
—
—
—
—
— |
—
noch nicht erbaut
XII.
1893
344*0
16 700
4
280
l
0*75
desgl. 75 Proc.
zusammen .
5494
216 000
120
4950
B. Charlottenburger Radialbezirk
1.
11890
723*9 |
27 500
5
li
715 |
1 2
1
f 0'60 p
[ 0-75
2.
3.
J _
i
_
I |
_ |
j noch nicht erbaut
C. Rixdorfer Radialbezirk.
1. I| 1892 | 659 j ? | 2 j 280 || 1 | 0*60 l| 40 Proc. angeschlossen.
Was nun die Umgebung von Berlin anbelangt (s. Lageplan S. 227), so war
zunächst Charlottenburg durch ähnliche UnZuträglichkeiten der Abwasser¬
beseitigung, wie seiner Zeit Berlin, im Jahre 1885 zu dem Entschlüsse ge¬
kommen, die Schwemmcanalisation einzuführen, deren Erfolg in Berlin immer
mehr zu Tage trat. Abgesehen von kleineren, der Hauptstadt benachbarten
Theilen im Nordosten und Südosten von Charlottenburg, die an die anstossenden
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Die Verunreinigung der öffentlichen Gewässer zu Berlin.
231
Radialbezirke anschlossen, wurde das Gebiet, den örtlichen Verhältnissen
entsprechend, in drei Radialbezirke getheilt, von denen bisher erst Bezirk 1
im Wesentlichen nach Berliner Muster in den Jahren 1888 bis 1890 erbaut
und seitdem vervollständigt wurde. Zu seiner Entlastung dienen fünf
Nothauslässe, von denen drei in den Landwehrcanal und zwei in die Spree
entwässern.
Die übrigen westlichen Vororte Schöneberg, Wilmersdorf, Frie¬
denau »Schmargendorf und Colonie Grunewald , die eine Entwässerungs¬
genossenschaft bilden, sind vorläufig auf Grund eines .1905 ablaufenden
Vertrages mit ihrer Entwässerung an die Charlottenburger Canalisation
aogeschlossen. Die natürliche Vorfluth der zuerst genannten drei Ge¬
meinden bildet der seit 1890 in einen geschlossenen Canal umgewandelte
„schwarze Graben“, der als Nothauslass des Charlottenburger Pumpwerkes
in die Spree mündet.
Im Südosten von Berlin entfernt auch Rixdorf seine Abwässer mittelst
Canalisation nach Berliner Muster. Das etwa zu zwei Drittel bebaute Ge¬
biet bildet einen Radialbezirk, von dessen Nothauslässen erst zwei seit den
Jahren 1893 und 1899 im Betriebe sind und in den Privatfluss „Wiesen¬
graben“ entwässern; zehn weitere Nothauslässe, die theils ebenfalls in den
Wiesengraben, theils in den Landwehrcanal führen sollen, sind entsprechend
der zunehmenden Bebauung des Stadtgebietes in Aussicht genommen und
zum Theil schon von den Strombehörden genehmigt worden.
Von den übrigen östlichen Vororten ist nur der Theil von Lichten-
berg westlich der Ringbahn angeschlossen, der übrige Theil führt, ebenso
wie Rummelsburg, seine häuslichen Abwässer, die nach dem Rothe’sehen
System mechanisch und chemisch (mittelst Chlorkalk, Eisenvitriol u. s. w.)
geklärt sind, durch den Kuhgraben dem Rummelsburger See zu, während
die Regenwässer ungeklärt ablaufen.
Ebenso entwässert Friedrichsfelde durch den Grenzgraben, welcher
auch die Abwässer der Rieselgüter Schönhausen und Bürknersfelde auf-
nimmt.
Auch Pankow, dessen gesammte Abwässer der Panke zufliessen, be¬
sitzt seit 1892 eine künstliche Klärung der Hauswässer nach dem Rothe’-
schen Systeme.
Bei sämmtlichen übrigen Gemeinden und den zahlreichen Fabriken,
gewerblichen Anlagen, Wirthschaften u. 8. w. der Oberspree kann man, ab¬
gesehen von rühmlichen Ausnahmen, ohne grossen Fehler annehmen, dass
mindestens die mehr oder weniger geklärten Haus - und Regenwässer mit
Unterstützung der meist vorhandenen Wasserleitungen in die Spree ge¬
langen, vielleicht mit Ausnahme der mittelst Tonnenabfuhr beseitigten
Fäcalien.
Eine andere Quelle der Verschmutzung der öffentlichen Wasserstrassen
bildet die Schifffahrt mit ihrem regen Lösch- und Ladeverkehr, der an
zusammen 1070 Ladestellen der Spree und der Canäle abgefertigt wird.
Am 1. December 1900 wurde eine Schifferbevölkerung von 2951 Per¬
sonen auf 899 Fahrzeugen gezählt, die sich auf den zusammen 31 km langen
Wasserläufen vertheilten. Wenngleich Polizeiverordnungen und an den
Liegeplätzen eingerichtete Aborte den Versuch machen, der unausrottbaren,
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232
Wasserbauinspector Schümann,
weil zu nahe liegenden Unsitte der Sbhiffer, Alles über Bord zu werfen,
wenigstens innerhalb des Weichbildes zu steuern, so trägt doch der Schiffs¬
verkehr, insbesondere an den Häfen, in erheblichem Grade zur Verschmutzung
der Wasserläufe bei.
Es hat sich nun im Laufe des letzten Jahrzehnts, weniger in den länd¬
lich bebauten Vororten, als hauptsächlich innerhalb des Weichbildes von
Berlin und Charlottenburg, in zunehmendem Maasse eine Veränderung
der Regenwasserabführung insofern bemerkbar gemacht, als in Folge der
dichteren Bebauung und der Zunahme des wasserdichten Pflasters das Regen¬
wasser bedeutend schneller und in grösseren Mengen den Leitungen zu-
fliesst, als früher, wo die mit rauhem, durchlässigem Pflaster versehenen
Strassen, die vielfach ungepflasterten Höfe und die noch zahlreichen Gärten
im Inneren der Stadt, die Hob recht’schen Annahmen eher rechtfertigten.
In Berlin betrug das wasserdichte Pflaster (Asphalt-, Holz- und Steinpflaster
mit ausgegossenen Fugen u. s. w.) in den Jahren
1885 1890 1892 1895 1897 1899
30*6 53*0 59*9 70*7 75*5 82*8 Proc.
der gesammten Dammfläche. Heute, wo fast alle Strassen der inneren
Radialbezirke wasserdicht gepflastert sind, kann auch unter Berücksichtigung
der Schmuckanlagen und des auf den Bürgersteigen noch vorhandenen
durchlässigen Mosaikpflasters mit Sicherheit angenommen werden, dass
selbst bei mässigen Regenfällen der grössere Theil der Niederschläge dem
Rohrnetze zufliesst, von dem sie zunächst zu den Sandfängen der Pump¬
stationen, bei stärkeren Regenfällen aber unmittelbar durch die Nothaus-
lässe in die öffentlichen Gewässer gelangen.
Leider ist es bei der Höhenlage der Nothauslässe zur Zeit nicht mög¬
lich, über die Häufigkeit und die Dauer ihrer Thätigkeit zuverlässige An¬
gaben zu erhalten. Zumeist (bei 82 Proc.) liegt ihre Sohle und bei vielen
die ganze Mündung unter Wasser und nur sechs der Hauptnothauslässe
(vom Radialbezirk I bis III, V, IX und XII) werden als Schützenwehre mit
der Hand geöffnet; alle übrigen (114) sind selbstthätige Ueberfälle, deren
Schwelle zum Theil so niedrig liegt, dass sie schon in voller Thätigkeit
sind, wenn erst der schnell steigende Pegelstand in den Sandfängen das
Oeffnen der Hauptnothauslässe fordert. Von einem Missbrauch der Noth¬
auslässe, wie vielfach angenommen wird, kann daher wohl nur in den selten¬
sten Fällen die Rede sein. Ihre Thätigkeit ist zumeist an einem leichten
Kräuseln des Wasserspiegels kenntlich; bei starken, plötzlichen Regen¬
fällen werden gröbere Verunreinigungen in breitem Strome ausgespieen,
die, auf der Oberfläche schwimmend, nach längerer Zeit beobachtet werden
können.
Zwar werden die Pegelstände in dön Sandfängen allstündlich abgelesen,
aber da auch die selbstthätigen Hauptnothauslässe zum Theil durch Einlegen
von Dammbalken während des Betriebes „nach Bedarf“, d. h. willkürlich
in ihrer Thätigkeit beeinflusst werden, so sind sichere Schlüsse aus diesen
Aufzeichnungen nicht zu ziehen, zumal sie durch genaue Angaben über
Dauer und Höhe der Regenfälle ergänzt werden müssten, die nicht vor¬
handen Bind.
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Die Verunreinigung der öffentlichen Gewässer zu Berlin. 233
Von anderer Seite*) gemachte Versuche, aus den Pegelhöhen der Sand¬
fänge Schlüsse auf die Thätigkeit der Nothauslässe zu ziehen, sind eben¬
falls gescheitert.
Während bei der Canalisation in Ripdorf in ähnlicher Weise zwar
über die Thätigkeit des einen, mit Schützen verschlossenen Nothauslasses
sorgfältige Aufzeichnungen gemacht werden, aber die des anderen, festen
Nothauslasses nicht beaufsichtigt werden kann, liegen die Verhältnisse in
Gharlottenburg bei Weitem klarer. Hier sind alle Nothauslässe als feste
Ueberfälle ausgebildet, deren niedrigster der Hauptnothauslass der Pump¬
station ist. Durch zuverlässige Aufzeichnungen des selbstschreibenden
Pegels im Sandfang einerseits und dem ebenda aufgestellten selbst-
schreibenden Regenmesser anderseits ist es möglich, über den
Zusammenhang zwischen den Regenfallen und dem Speien des Hauptnoth¬
auslasses Beziehungen zu finden.
Zur Verfügung standen die Beobachtungen dieser beiden Apparate aus
den Jahren 1899 und 1900. Zwar ergab die mittlere Regenhöhe der drei
Berliner Stationen (Invalidenstrasse, Friedenstrasse und Teltowerstrasse)
505 und 522 mm, während der Selbstschreiber in Charlottenburg nur 444 und
508 mm anzeigte, weil er bei Frostwetter versagt; nichtsdestoweniger können
die weiter unten angegebenen Verhältnisszahlen als zutreffend angesehen
werden.
Die mittlere Regenhöhe der letzten 40 Jahre betrug 584 mm, wäh¬
rend am häufigsten mässig nasse Jahre mit 600 bis 640 mm Niederschlags¬
höhe gemessen wurden 2 ). Demnach waren die beiden Beobachtungsjahre
trocken, obschon die Anzahl der Regentage in Charlottenburg 372 und
45*5 Proc. betrug. (Das Mittel der letzten 40 Jahre ist 151*9 Regentage
im Jahre = 41*5 Proc.) Die Nothauslässe spieen 45 bezw. 55 Mal, zu¬
sammen 288*2 und 290*3 Stunden lang, d. h. jedesmal im Mittel 6*4 und
5*3 Stunden; sie liefen in den beiden Jahren in 15 und 10 Fällen länger
als 7, und in 6 und 4 Fällen länger als 12 Stunden; die grösste durch
Regen veranlasste Thätigkeit betrug sogar 14 Stunden. Der Grund dieser
auffallend langen Dauer waren die Regen fälle, die ausserhalb des
Radialbezirkes in Schöneberg, Wilmersdorf u. s. w. niedergingen und
die, wie schon erwähnt, ebenfalls durch den Charlottenburger Hauptnoth¬
auslass der Spree zufiossen. ln den Pegelcurven ist die Schöneberger
Welle meist deutlich sichtbar; sie gelangt gewöhnlich 2 bis 4 Stunden
später in den Sandfang und veranlasst eine entsprechend längere Thätig¬
keit der Nothauslässe, wie aus den auf S. 235 dargestellten Beispielen
ersichtlich.
Ferner kann aus der Zeit vom Beginne des Regens bis zum Beginne
der Thätigkeit des Hauptnothauslasses ein sicheres Urtheil gefällt werden,
welche Regenfälle die Nothauslässe zum Speien bringen. Aus einer grösseren
Reihe (56) einwandfreier Beobachtungen von gleichmässigen und genügend
langen Regenfällen ist die nachstehende Curve gemittelt worden (S. 234),
nach welcher der Nothauslass in Folge eines Regens von bestimmter
Stärke nach einer gewissen und wie erkennbar recht kurzen Zeit zu laufen
l ) Dircksen und Spitta, Arch. f. Hygiene, Bd. 35, S. 111.
*) Berlin und seine Bauten. I, S. IX.
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Stündliche Regenhöhe in Millimetern
234
Wasserbauinspector Schümann,
Curve der Regenfälle,
welche den Charlottenburger Hauptnothauslass in Thätigkeit
setzten, gemittelt aus 56 Beobachtungen.
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Die Verunreinigung der öffentlichen Gewässer zu Berlin.
20./27. Juni 1900.
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Bern.: Der Nothauslass begann seine Tliätigkeit 2 Stunden nach Beginn
3*86
des —- = 1*84 mm/St. starken Regen bei einem Pegelstande im Sand fang von
2*1
0*8 m. Die Schöneberger Welle setzte 3 l / a Stunden später ein, unterstützt von
einem in Charlottenburg gefallenen Regen von 2*99 mm Stärke*
22. Juli 1900.
s 00
des — = 30 mm/8t. starken Gewitterregens, der 0*4 Stunden dauerte, gefolgt von
0*4
3*9
einem schwächeren Nachregen von = 2*6 mm/St bei einem Pegelstande im
1*5
Sandfange von -f- 1*45 m. Die Schönebergei* Welle setzte 3 l / a Stunden später ein.
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236
Wasserbauinspector Schümann.
beginnt, unter der Voraussetzung, dass dieser so lange anhält. Also nur
diejenigen Regenfälle, welche kürzere Zeit andauern, als die Curve angiebt,
sind für die öffentlichen Wasserläufe unschädlich.
In den beiden Jahren veranlassten 35*4 Proc. und 41/3 Proc. aller
Regen s tun den, ferner 60*5 Proc. und 67*3 Proc. der gesammten Regen¬
höhe ein Ueberlaufen der Nothauslässe; das letzte Drittel umfasste die
zahlreichen, aber sehr schwachen Regenfalle, deren Niederschlagsmengen
zum geringeren Theile durch die Pumpen gefördert wurden, während der
grössere Theil verdunstet oder versickert, daher gar nicht in das Rohrnetz
gelangt.
Je nach dem Füllungsgrade des Rohrnetzes, das ist nach der Jahres¬
und Tageszeit, nach dem Wetter (Wind, Feuchtigkeitsgehalt u. s. w.) und
aus sonstigen Zufälligkeiten werden diese Zeiten bis zu etwa 10 Proc.
unter- oder überschritten. An beiden Enden der Curve sind jedoch grössere
Abweichungen ersichtlich, die einerseits auf die nicht über das ganze Gebiet
des Radialbezirkes niedergehenden starken Strich- (Gewitter-) regen, ander¬
seits bei den schwachen Regenfällen auf den grösseren oder geringeren
Wasserverbrauch in den heissen oder kühleren Monaten zurückzuführen sind.
Die wichtige Frage, welcher Theil der Gesammtwassermenge dem Rohr¬
netze zufliesst, war aus den Beobachtungen nicht zu ermitteln. Einigen
Aufschluss geben die Grenzfälle bei andauerndem schwachen Regen, wo die
Pumpen soeben im Stande waren, den Pegelstand der Ueberfallschwelle zu
halten. Auf den 723*87 ha grossen Radialbezirk fallen bei einem Regen
von z. B. 0*5 mm
723*87.10000.0*0005
= 1*02 cbm/sec,
die von den Pumpen gefördert werden müssten, wenn kein Tropfen zurück¬
bliebe oder verdunstete. Hierzu kommen noch im Mittel 0*25 cbm/sec an
zufliessendem Hauswasser; da die Pumpen aber nur 0*715 cbm fördern
können, so würde
1*02 + 0*25 — 0*715 = 0*535 cbm/sec,
das heisst 52*4 Proc. des Regenwassers verdunsten und nur 47*4 Proc. dem
Rohrnetze zufliessen. Dies deckt sich auch mit den Beobachtungen, indem
es z. B. am 8. April 1900 18*3 Stunden lang mit 0*51 mm Höhe regnete
und erst nach 14*8 Stunden die Nothauslässe zu laufen begannen. An
heissen Sommertagen konnten die Pumpen nur einen Regen von 0*4 mm halten.
Man kann demnach annehmen, dass bei schwachem Regen von 0*5 mm
Höhe etwa 50 Proc. der Regenmenge dem Rohrnetze zufliesst, während
sein Antheil bei starken Regenfällen erheblich wächst und bei Wolken¬
brüchen auf 80 bis 90 Proc. und mehr geschätzt wird.
Die gefundenen Zahlen, die durch weitere Beobachtungen bestätigt
und ergänzt werden müssten, sind dem Charlottenburger Radialbezirk eigen-
thümlich. Der Fassungsraum (siehe Tabelle Seite 230) beträgt
27 500 _ , /f
= 38 cbm/ha
und die Pumpen leisten
723*87
= 0*08 1/ha.
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Die Verunreinigung der öffentlichen Gewässer zu Berlin.
237
Vergleicht man hiermit die Zahlen der 11 Berliner Bezirke, so beträgt
deren Leitungsraum im Mittel (siehe S. 230)
216 000
5 494
39*3 cbm/ha,
während die Pumpwerke zusammen
4 950
5 494
= 0*901/ha
leisten. Der nicht erhebliche Unterschied wird jedoch dadurch zu Ungunsten
von Berlin herabgedrückt, dass die inneren Bezirke bei Weitem enger be¬
baut und fast durchgängig mit wasserdichtem Pflaster versehen sind im
Vergleiche zum luftiger bebauten Charlottenburg.
Es wäre für die Beurtheilung der Verhältnisse sehr wünschenswert^
auch für jeden Berliner Bezirk eine solche Curve zu bestimmen, zu deren
Ermittelung jedoch nur zuverlässige, mittelst Pegel- und Regenselbstschreiber
gefundene Beobachtungen brauchbar sind. Es würde sich alsdann ergeben,
dass diese Curven, je nach den Gefallverhältnissen, der Bebauung und
Pflasterung des Geländes, nach der Grösse seiner Park- und Gartenanlagen,
ferner nach dem Fassungsraum des Rohrnetzes, der Leistungsfähigkeit
der Pumpen und Druckrohre u. s. w. in den einzelnen Radialbezirken nicht
nur örtlich verschieden, sondern auch zeitlich veränderlich sind, da die
genannten Elemente sich im Laufe oft nur weniger Jahre nicht unwesent¬
lich verschieben. Diese Curven würden eine einwandfreie und zuverlässige
Ueberwachung der Wirksamkeit der ganzen Canalisationsanlage darstellen.
— Obgleich sie heute noch fehlen, so kann aus einem Vergleiche der
beiden Canalisationsanlagen selbst doch soviel geschlossen werden, dass
die Berliner Nothauslässe, insbesondere der inneren Bezirke, zwar früher,
aber ihrer grossen Zahl wegen nicht so lange speien, als die Charlotten¬
burger.
Wie gewaltige Wassermengen auch schon bei massig starkem Regen
den öffentlichen Wasserläufen zugeführt werden, erhellt ein Beispiel: bei
einem 5mm starken Regen, der in den regnerischen Monaten Mai 1899
und Juni 1900 sechs- und elfmal überschritten wurde, wie aus den Auf¬
zeichnungen der drei Regenstationen des Meteorologischen Instituts hervor¬
geht, wurde den 11 im Betriebe befindlichen Radialbezirken mit zusammen
5 494 ha eine Regenmenge von
5 494 . 10000 . 0*005 t ,
-—- = 76*2 cbm/sec
zugeführt. Nehmen wir mit Rücksicht auf die noch nicht ausgebauten
Theile der Radialbezirke VIII bis XII an, dass nur 60 Proc. abfliessen, so
würden unter Vernachlässigung der Hauswässer
0*6 . 76*2 = 45*7 cbm/sec
dem Rohrnetze zufliessen, von denen nur rund 5 cbm durch die Pumpen
der 11 Bezirke gefördert würden (s. Tabelle Seite 230). Die übrigen
45*7 — 5*0 = 40*7 cbm/sec
würden zunächst in
a / 3 . 39*3 . 5 494
40*7 . 60
= 59 Minuten
(im Inneren der Stadt wahrscheinlich noch schneller) von dem Rohrnetze
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238
Wasserbauinspector Schümann,
aufgenommen und, sobald dieses zu zwei Drittel gefüllt ist, durch die 120
Nothauslässe den öffentlichen Wasserläufen Zuströmen.
Nun liegt die Frage nahe, ist es wahrscheinlich, dass den Gewässern
plötzlich 40 cbm/sec zufliessen, während die Spree selbst, z. B. bei Niedrig¬
wasser, nur 10 cbm führt? — Um die 145*5 ha grosse Fläche aller Wasser¬
läufe innerhalb des Weichbildes um 1 cm zu erhöhen, sind 14 550 cbm er¬
forderlich, die in
14 550
—-—— = o Minuten
40.60
zufliessen. Nun ist bei starken Regenfallen ein erhebliches Steigen des
Wasserspiegels des öfteren bemerkt worden (im Landwehrcanal bis 15 cm
und mehr), der jedoch nach Oeffnen der Wehre alsbald wieder fiel. Auch
hier wären zuverlässige Beobachtungen an der Mühlendamm-, Stadt-, Unter-
und Charlottenburger Schleuse durch selbstschreibende Pegel wünschens-
werth, da die Wasserstände zur Zeit täglich nur einmal abgelesen werden.
Es unterliegt nach den vorstehenden Ausführungen, die sich auf die
Beobachtungen der beiden letzten trockenen Jahre stützen, wohl keinem
Zweifel, dass die Hauptursache der Verschmutzung der Wasserläufe, die
in regenreichen Jahren bedeutend grösser sein wird, in den Nothauslässen
zu suchen ist, dass erst in zweiter Linie die Entwässerung der nur un¬
vollkommen oder gar nicht canalisirten Gemeinden, gewerblichen Anlagen,
Wirthschaften u. 8. w. besonders an der Oberspree und sodann der Schiffs¬
und Ladeverkehr stehen, entgegen der anderseitig 1 ) ausgesprochenen
Annahme, dass dem Schiffsverkehr die Hauptschuld beizumessen ist, wenn¬
gleich diese letzte Quelle der Verunreinigung bei einer Seuchenverschleppung,
in erster Linie zu nennen ist.
Was nun die Beschaffenheit der Verunreinigung anbetriffb, so besteht
sie, abgesehen von den gröberen schwimmenden Stoffen, wie Papier, Holz¬
stückchen, Stroh, Korke, Blätter u. s. w., zunächst aus Sand und ähnlichen
schweren Stoffen, die alsbald unterhalb der Einwurfstelle sich ablagern
sodann aus den im Wasser schwebenden, zumeist organischen, todten und
belebten Massen, dem eigentlichen Plankton, und endlich aus den nur
mit bewaffnetem Auge sichtbaren Gebilden, unter denen die kleinsten
Lebewesen die wichtigsten sind. In chemischer Beziehung ist die Ver¬
unreinigung erkennbar einerseits durch die Anwesenheit von Chlor, Ammo¬
niak, salpetriger Säure u. s. w., anderseits durch den Grad der Abwesen¬
heit von Sauerstoff im Wasser, der wiederum von der Menge der in
Zersetzung befindlichen organischen Stoffe abhängt. Der Sauerstoffgehalt
der im Wasser gelösten Luft ist erheblich grösser (35*1 Proc.), als der
der gewöhnlichen Luft (20*84 bis 20*97 Proc.), da das Aufsaugvermögen
des Wassers für Sauerstoff grösser ist als für Stickstoff.
Von wesentlichstem Einfluss auf die Verunreinigung und Selbst¬
reinigung desWassers ist die Beschaffenheit und Menge seines Planktons
Während das Plankton der Spree- und Havelseen fast nur aus Algen
und Diatomeen besteht 2 ), findet man in den Berliner Wasserläufen ausser
l ) Dircksen und Spitta, Archiv f. Hygiene, Bd. 35, S. 123.
*) Spitta, Archiv für Hygiene, Bd. 38, 8. 165 ff.
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Die Verunreinigung der öffentlichen Gewässer zu Berlin. 239
diesen und anderen niederen Pflanzen als Hauptbestandteil viele ab¬
gestorbene organische Reste unbestimmbarer Herkunft und an den besonders
verschmutzten Stellen viele niedere Thierarten (Amöben, Geissei- und Wimper-
thierchen u. s. w.).
Die Zersetzung der organischen Stoffe geht nun mit Hülfe der Bacterien
unter Zehrung von Sauerstoff vor sich, die im Sommer, bei lebhafter Licht-
und Wärmezufuhr, bedeutend stärker ist, als im Winter, und die einen
zuverlässigen Maassstab für die Menge der organischen Stoffe bildet. Die
sehr feinen, in der Schwebe bleibenden Theilchen und die gelösten Stoffe
zerfallen allmählich auf dem Wege stromabwärts, und der letzte Theil der
Selbstreinigung spielt sich in den weiten Havelseen unterhalb Spandau ab,
die gewissermaassen das Klärbecken der Spree Wässer darstellen.
Die gröberen Stoffe aber, die für zahllose Lebewesen einen willkommenen
Nährboden abgeben, sinken als Flocken je nach ihrer Grösse und Schwere
und der Stromgeschwindigkeit langsam zu Boden und bilden an der
Sohle in lebhafter Fäulniss begriffene Schlammschichten von wechselnder
Mächtigkeit.
So lange nun genügend Sauerstoff im Wasser vorhanden ist, kommt es
nicht zur stinkenden Fäulniss und überreichen Schlammablagerung; findet
jedoch die Sohle den zur Selbstreinigung erforderlichen Sauerstoff nicht
mehr vor, weil das Wasser mit Bacterien und organischen Stoffen über¬
laden ist, so beginnt unter Einwirkung der anaeroben Bacterien die Gäh-
rung der Massen, die stinkende Zersetzung, die sich in der Gasbildung offen¬
bart. Grosse Fladen brodelnder Massen werden mit emporgerissen, die weit¬
hin das Wasser schwärzlich färben und die Luft verpesten. Die Gase bestehen
zumeist aus Methan (CH 4 ), Kohlensäure (C0 2 ), Kohlenoxyd (CO) u. s. w.,
sowie an einzelnen Stellen auch aus Schwefelwasserstoff (SH 2 ) 1 ).
Die Gasentwickelung ist das sicherste Anzeichen der versagenden
Selbstreinigung der Gewässer und geht Hand in Hand mit der Schlamm¬
bildung, die als langlebige Quelle einer dauernden Verschmutzung die
Hauptgefahr für die Wasserläufe bildet.
In allen Stufen und Abarten sind die geschilderten Verunreinigungen
in den Berliner Gewässern vertreten. Noch am günstigsten liegen die Ver¬
hältnisse in der Spree selbst, zunächst wegen ihrer im Vergleich zu den
Canälen erheblichen Wasserführung, die im Hauptarm bei mittlerem bis
höchstem Hochwasser 80 bis 120 cbm/sec mit etwa 50 bis 75 cm Ge¬
schwindigkeit, bei Mittelwasser 40 cbm und bei Niedrigwasser nur 10 cbm
und weniger beträgt. Als kleinste Wassermenge der Gesammtspree ist bei
Fürsfcenbrunn unterhalb Charlottenburg im Jahre 1892 7 bis 8 cbm
gemessen worden.
Ferner ist die Sohle der Spree bei Gelegenheit der Verbesserung des
Spreelaufs innerhalb der Stadt Berlin in den Jahren 1888 bis 1894 von
Jannowitz- bis Ebertsbrücke durchgreifend geräumt worden, und im Schiff¬
fahrtsinteresse werden alljährlich erhebliche Baggerungen einzelner Barren,
zumeist unterhalb von Nothauslässen, vorgenommen, deren Umfang in den
Jahren 1895 bis 1898 allein innerhalb des Weichbildes im Mittel 14800 cbm
*) Spitta, Archiv für Hygiene, Bd. 38, S. 276.
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240
Wasserbäuinspector Schümann,
jährlich betrug. Auch ausserhalb desselben bis Spandau wurden während
der letzten fünf Jahre im Mittel je 5500 cbm gebaggert.
Trotzdem ist die Verunreinigung der Spree ganz beträchtlich. Die
Menge des Planktons, ferner der Gehalt von Trockenrückstand u. s. w.
nehmen beim Laufe durch die Stadt in gewaltigem, mit der Jahreszeit
schwankendem Maasse zu. Die höchsten Werthe liegen zumeist an der
Eberts-, Marschall- und Moltkebrücke *). Ebenso auch der Keimgehalt,
der beim Eintritt der Spree in das Weichbild nahezu 100000 auf das Cubik-
centimet^r beträgt. Wasser aus dem Kuhgraben, in dem die „geklärten“
Abwässer von Lichtenberg und die der Rummelsburger Fabriken abgeführt
werden, enthielt im Juli und August 1897 16 bis 28 Millionen entwickelungs¬
fähiger Keime im Cubikcentimeter 2 ).
Auf der Sohle befindet sich fast durchgängig eine mehr oder weniger
starke Schicht von schwärzlichem Aussehen, die stellenweise von Sand, den
die Strömung beim Baggern weiter führte, überlagert ist. Schlammbänke
bis zu erheblichem Umfange finden sich im Rummelsburger See vor der
Mündung des Kuh- und Grenzgrabens, ferner in dem breiten Oberlauf von
der Treptower Eisenbahn- bis zur Schillingsbrücke, wo zu beiden Seiten
des Stromes mit einigen Unterbrechungen eine fast durchlaufende Bank
von 10 bis 20 m Breite und 20 bis 40cm Mächtigkeit vorhanden ist, die
an einzelnen Stellen bis 70 cm steigt, wie örtliche Untersuchungen ergeben
haben. Ferner ist der Raum zwischen den Stadtbahnbögen 50 bis 80 cm
hoch aufgeschlammt. Auch an den schmaleren Stellen des Unterlaufes,
besonders an den Verbreiterungen und an den vollen Seiten der Krüm¬
mungen liegen kleinere Bänke. An Gasmengen wurden gewonnen von der
Bank am Grenzgraben in 1 Minute 200 ccm, an der Ebertsbrücke in 16
Minuten 300 ccm, am Oberbaum in 27 Minuten 260 ccm u. s. w. 3 ).
Noch ungünstiger als in der Spree liegen die Dinge im Landwehr¬
und Luisenstädtischon Canal. Zwar ist auch die Sohle des ersteren
bei seiner Uferbekleidung in den Jahren 1882 bis 1885, also nach Betriebs¬
eröffnung der benachbarten Radialbezirke I bis III, VI und VII, durch-
gehends geräumt worden, so dass die von früher herrührende Ver¬
schlammung beseitigt worden ist, aber die verhältnissmässig grosse Zahl
der Nothauslässe (51) und Ladestellen (312) und die geringe Wasserführung
machen die vorhandene Verschlammung, insbesondere der zweiten Hälfte,
etwa vom Schöneberger Hafen abwärts, erklärlich.
Der Querschnitt ist nur ein Drittel bis ein Viertel so gross, wie der
der Spree und die Wasserführung, die zumeist nur 3 bis 5 cbm bei etwa 10
bis 15 cm Geschwindigkeit beträgt, sinkt in den Sommermonaten oft auf
1 cbm und weniger herab. Die des Luisenstädtischen Canals ist noch ge¬
ringer; sie wird durch ein in der Seitenmauer der Köpenicker Schleuse
liegendes verschliessbares Rohr von l’2m Durchmesser mit dem zur Ver¬
fügung stehenden Gefälle von 10 bis 20 cm besorgt. Schon hinsichtlich der
äusseren Eigenschaften steht das Landwehrcanalwasser hinter dem der Spree
zurück; letzteres ist zwar innerhalb der Stadt schmutzig gelb, trübe und
l ) Spitta und Dircksen, Archiv f. Hygiene, Bd. 35, ß. 112.
*) Ebenda, 8. 116.
3 ) Spitta, Archiv für Hygiene, Bd. 38, S. 277.
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Die Verunreinigung der öffentlichen Gewässer zu Berlin.
241
setzt mäs8igen Bodensatz ab, im Landwehrcanal ist es aber dunkelgelb,
stark getrübt und zeigt eine schmutzige Bodenschicht mit gröberen Ver¬
unreinigungen l ). Das Plankton zeigt dichtere, dunklere Beschaffenheit,
stärkeren Gehalt von abgestorbenen Stoffen und Reichthum an niederen
Thieren. Die Zahlen für Trockenrückstand sind durchgängig bedeutend
höher als in der Spree 2 ).
Grössere Schlammbänke fanden sich oberhalb des unteren Stauwerkes
mit einer Mächtigkeit von 60 bis 70 cm, die in der Fluth und Fahrrinne
auf 20 bis 40cm sank; ferner an der Wendestelle, an dem sogenannten
Studentenbad und den sonstigen Verbreiterungen, sowie in der Nähe der
grösseren Nothauslässe, wo 0*5 bis 0*8 m Schlamm gepeilt wurde. Im
Uebrigen fand sich, mit Ausnahme weniger Stellen, an denen in letzter Zeit
gebaggert war, eine durchgehende Schlammschicht vor, die im mittleren
Drittel nur dünn, an den Rändern jedoch, besonders in der vollen Uferseite
der Krümmungen, 20 bis 30 cm stark war. Die in der Mitte durch die
Schrauben der Dampfer und Staken der Schiffer immer wieder aufgerührten
Massen häufen sich an den Rändern und im Schutze der Brücken an; sie
verleihen dem Wasser jene schwärzliche Färbung, die namentlich während
der Mittagsstunden durch die Wirkung des Lichtes verstärkt wird, indem
Massen von Algen, Diatomeen und anderen chlorophyllhaltigen Pflanzen,
die bei gedämpftem Lichte scheinbar leblos auf dem Boden ruhen, vom
Sonnenlichte getroffen, plötzlich an die Oberfläche emporsteigen, getragen
von einer reichlichen Entwickelung von Sauerstoff 3 ).
Die dunkelste Stelle der beiden Canäle ist jedoch die Mündung des
Wiesengrabens, der das Rixdorfer Gebiet entwässert und dessen Noth¬
auslässe aufnimmt. Die Sohle des an seiner Mündung belegenen Hafen¬
beckens ist mit einer 0*6 bis 1*2 m starken Schlammschicht bedeckt, die
zwar von Zeit zu Zeit geräumt wird, aber bald wieder verschlammt ist.
Die in erster Linie für die Schifffahrt ausgeführten Baggerungen im
Landwehrcanal betrugen während der Jahre 1895 bis 1899 durchschnittlich
6 600 cbm. Da dem Canal von der Spree keine Geschiebe zugeführt werden,
so können diese Massen nur von hineingewehtem Strassenstaub, den Ver¬
unreinigungen des Schiffsverkehrs und vor Allem aus den Nothauslässen
herrühren.
Der Spandauer Schifffahrtscanal ist in den letzten Jahren ver¬
breitert worden, auch münden dort bisher noch wenige Nothauslässe, weil
seine Umgebung erst seit wenigen Jahren baulich aufgeschlossen wird.
Nur der Nordhafen mit dem Schönhauser Becken macht eine bedenkliche
Ausnahme. Die dort mündende Panke mit ihrer geringen Wasserführung
von rund 0*8 cbm/sec nimmt von Bernau ab die Abwässer mehrerer Ge¬
meinden, sodann die der dorthin entwässernden Rieselfelder, die „geklärten“
Abwässer von Pankow nebst zahlreichen Gerbereien, und endlich noch
innerhalb des Weichbildes sechs Nothauslässe auf. Die Verschlammungen
im Schönhauser Becken haben daher trotz der mehrfachen jährlichen Räu-
l ) Dircksen und Spitt.a, Archiv für Hygiene, Bd. 33. S. 124.
*) Ebenda, S. 167.
3 ) Spitta. Archiv für Hygiene. Bd. 38, S. lv»f.
ViertcljahrBschrilt für (»esumllieitspHcge, l‘J02.
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242 Wasserbauiaspector Schümann,
mungen einen erheblich grösseren Umfang angenommen, als im Becken des
Wiesengrabens.
Während des Winters 1899/1900 wurde die Verschlammung der
Canäle noch durch Einwerfen von schmutzigen Sch nee massen vergrössert.
Innerhalb des Weichbildes sind rund 71 000cbm eingeworfen worden, von
denen auf die Spree 22 000 cbm, auf den Landwehrcanal 34 000cbm und
auf den Luisenstädtischen Canal 25 000 cbm entfielen. Da hierin die Rück¬
stände von Pferdedung, Sand, Asche, Sägespänen zu 8 bis 10 Proc. ermittelt
wurden, so sind allein durch den Schneeeinwurf ganz erhebliche Schlamm¬
massen in die Wasserläufe gekommen.
Endlich sei noch eine im Allgemeinen seltene, aber in den letzten
Jahren häufigere Art der Verunreinigung erwähnt, die mit schweren wirth-
schaftlichen Schäden für die Betroffenen verbunden ist: das Fischsterben
nach heftigem Gewitterregen. Die Ursache wird darauf zurückgeführt,
dass die plötzliche Thätigkeit der Nothauslässe zu viel organische, in Zer¬
setzung befindliche Stoffe den Wasserläufen zuführt, so dass der ganze
Sauerstoffgehalt des Wassers verzehrt wird, und die Fische ersticken. Da
aber bei Regengüssen ohne Gewittererscheinung ein Fischsterben noch
nicht beobachtet worden ist, so scheinen noch gewisse elektrolytische Vor¬
gänge 1 ) eine Rolle zu spielen, die den Sauerstoffgehalt des Wassers un¬
günstig beeinflussen. Vielleicht tragen auch gewisse gewerbliche Abwässer,
die zwar an die Canalisation angeschlossen sind, aber bei den Regenfällen
durch die Nothauslässe den Wasserläufen Zuströmen, zum Fischsterben bei.
Jedenfalls ist weder das Wasser der Spree und noch weniger des
Landwehr- und Luisenstädtischen Canals für die meisten gewerblichen
Zwecke, mit Ausnahme etwa der Gerbereien, Färbereien u. s. w. zu gebrauchen;
für Badezwecke erklären es Dircksen und Spitta für „untauglich“ 2 ).
Trotzdem befinden sich in der Spree 29 Badeanstalten, von denen 19 städ¬
tisch sind, und in den Canälen weitere drei Privatanstalten. In den städ¬
tischen Anstalten wurden im letzten Sommer 1 456 431 Bäder genommen,
während der Besuch der privaten Anstalten aus geschäftlichen Gründen
nicht bekannt gegeben wird; er kann jedoch auf mindestens 500 000 Bäder
geschätzt werden. Wenngleich bei sehr bescheidenen Ansprüchen gegen die
Lage der städtischen Spreeanstalten nicht viel ein zu wenden ist, muss
die Lage einzelner Privatanstalten, wie zwischen den Stadtbahnbögen, im
Wasserthor- und Engelbecken und die der städtischen Anstalt im Nordhafen,
als bedenklich angesehen werden, namentlich wenn an heissen Sommer¬
tagen, wo der Besuch seine höchste Ziffer erreicht, die Wassergeschwindigkeit
der Spree nach einzelnen Centimetern, und die im Luisenstädtischen Canal
kaum nach Millimetern zu bemessen ist.
Somit zeigt die Verunreinigung der Berliner Wasserstrassen ein recht
trübes Bild. Auch ein Vergleich mit anderen Grossstädten und den Wasser¬
mengen ihrer Flüsse fällt zu Ungunsten von Berlin aus.
Nachstehende Tabelle zeigt, dass ausser Leipzig, Nürnberg und Lille alle
anderen über 200 000 Einwohner zählenden Städte in Deutschland, Oester-
l ) Spitta, Archiv für Hygiene, Bd. 38, 8. 250.
*) Dircksen und Spitta, Archiv für Hygiene, Bd. 35, 8. 125.
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Die Verunreinigung der öffentlichen Gewässer zu Berlin.
243
u
i
a
0
Namen
Ein¬
wohner
Anzahl
Fluss
Wassermenge bei
tu
a
0
J4
U
\ ©
s
©
Hoch¬
wasser
cbm
Mittel¬
wasser
cbm
Niedrig¬
wasser
cbm
1
Berlin . . .
1 884 345
Spree . . .
160
40
7—8
2
Hamburg .
704 669
Elbe . . .
—
—
—
Tidegebiet
3
München
498 503
Isar....
1 500
120
41
4
Leipzig . .
455 089
Pleisse u. s.w.
5(?)
5
Breslau . .
422 415
Oder . . .
2 450
138
60
6
Dresden . .
395 349
Elbe . . .
4 600
270
79
7
Köln . . .
370 685
Rhein . . .
7 000
2 100
465
8
Frankfurt .
287 813
Main . . .
3 400
180
47
9
Nürnberg .
260 743
Pegnitz . .
400
7
10
Hannover .
234 986
Leine . . .
1 200
33
6
11 1
Magdeburg
229 732
Elbe . . .
4 300
521
; 120
12 |
Düsseldorf .
212 949
Rhein . . .
7 000
2 100
465
13
Stettin . .
209 988 (
Oder . . . |
3 160
160
14
Wien . . .
1 648 000 1! Donau . .
185
15
Budapest .
509 000
Donau . .
I
700
16
Paris . . .
2 530 000
Seine . . .
2 000
400
90—60
17
Lyon . . .
466 000
Rhöne . .
7 000
800
150
18
Marseille .
442 000
Mittelmeer
—
—
—
Mittelmeer
19
Bordeaux .
257 000
Garonne.
—
—
—
Tidegebiet
20
Lille . . .
216 000
Deulecanal
9
?
*
!
reich und Frankreich in Bezug auf die Wassermenge ihrer Flüsse bedeutend
besser gestellt sind, als Berlin, und dass im Verhältnis zur Einwohnerzahl
auch jene genannten Städte voranstehen.
Es giebt viele Städte, die nicht so sauber gehalten sind, wie Berlin,
und doch gesunder sind, vornehmlich desshalb, weil sie an einem Gewässer von
lebhafterem Yerdauungsvermögen, von grösserer Selbstreinigungskraft liegen.
Berlin hat daher alle Ursache, die trägen und schwachen
Spreegewässer nicht zu überladen. Als tröstliche Thatsache kann
dem kaum entgegengehalten werden, dass in Berlin trotz der ungünstigen
Wasserverhältnisse bisher noch keine Seuche Verbreitung gefunden hat.
Die Grösse der oben geschilderten Verunreinigungen hat, soweit die
nur in geringem Umfange vorliegenden Untersuchungen x ) erkennen lassen,
in deutlicher Weise zugenommen. Die in den Jahren 1886 und 1896 ent¬
nommenen Wasserproben ergaben als untere und obere Grenzzahlen an der¬
selben Stelle der Spree:
Für das Jahr |
i:
Trocken¬
rückstand I
Organische
Stoffe
Chlor
Kalk
1886 .
16*5 und 22*0
1*49 und 2*50
| 1*80 und 3*00
4*1
und
10*5
1896 .|
18*6 „ 27*0
2*10 „ 4*00 !
2*2 „ 3*5
i
■
8*7
l ) Dircksen und Spitta, Archiv für Hygiene, Bd. 35, S. 121.
16 *
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244 Wasserbauinspector Schümann,
Demnach ist die Menge der im Spreewasser mitgeschleppten Stoffe
(mit Ausnahme von Kalk) in dem zehnjährigen Zeiträume nicht unerheblich
gestiegen. In ähnlicher Weise hat auch der Keimgehalt zugenommen.
Da nun die Entwickelung von Gross-Berlin mit gewaltigen Schritten
weiter fortschreitet: innerhalb des Weichbildes werden immer neue Stadt-
theile (am Tempelhoferfeld die militärfiscalischen Baulichkeiten, in Moabit
Radialbezirk VIII, die Judenwiesen und andere Gebiete, ebenso im Radial¬
bezirk IX, X und XII, endlich im Osten der Radialbezirk XI) an die Cana-
lisation angeschlossen, in den Vororten, namentlich in den westlichen, ent¬
stehen immer neue Häuserviertel, an der Ober- und Unterspree immer
neue Fabrikanlagen, die alle nach der Spree entwässern, so dürfte es an
der Zeit sein, zu erörtern, wie ist der mit Naturnotwendigkeit
fortschreitenden Verschlammung der Gewässer Einhalt zu
t h u n ?
Da drängt sich zunächst die Frage auf, sind die Gründe, die vor
25 Jahren bei der Canalisation von Berlin für das Mischsystem ausschlag¬
gebend waren, auch heute, unter den veränderten und vergrösserten Ver¬
hältnissen noch zutreffend? Beim Entwurf sprachen seiner Zeit für das
Mischsystem a ) im Wesentlichen:
1. dass der Regen, welcher Höfe und Strassen abwäscht, dem gewöhn¬
lichen Hauswasser an Unreinheit fast gleichkommt, sonach bei Ein¬
führung aller Regenfälle die Wasserläufe noch bedeutend mehr ver¬
unreinigt würden, als bei dem Mischsysteme, dass nur die selten
auftretenden starken Regen zuführt,
2. dass durch die gelegentlichen, kräftigen Spülungen mittelst des
Regenwassers die Leitungen des Mischsystemes so gründlich gereinigt
werden, wie in keiner anderen Weise,
3. dass die Grösse der Leitungen des Mischsystemes ihre Beaufsichtigung
und Reinigung erleichtert und jede Verstopfung ausschliesst,
4. dass die ebene Lage von Berlin den langsamen Abfluss des Regen¬
wassers begünstigt, andererseits aber auch nur geringes Gefälle für
die Leitungen darbietet.
Gewiss trafen die Gründe seiner Zeit zu, aber heute, wo die fast durch¬
gängig wasserdichte und glatte Pflasterung der Strassen und Höfe etwa
eine ähnliche Beschleunigung auf die Abführung des Regenwassers ausübt,
wie die Abholzung der Wälder im Gebirge, wo die Hauptursache des
Strassenschrautzes, das Pferd, langsam von dem Pflaster verschwindet —
zur Zeit sind in Berlin mehr als 2000 Selbstfahrer im Betriebe — und wo
der Strassenreinigung eine viel grössere Sorgfalt gewidmet wird als früher,
ist der von den Strassen und Höfen herrührende Theil des Regenwassers,
insbesondere bei stärkeren Niederschlägen, nachdem sie durch die erste
kräftige Benetzung abgespült sind, verhältnissmässig sauber, während der
den Dächern entstammende Theil — bei der dichten Bebauung und dem
starken Gefälle mehr als die Hälfte — wohl von einwandfreier Beschaffen¬
heit ist und unbedenklich den Wasserläufen zugeführt werden könnte.
Auch die übrigen Bedenken gegen das Trennsystem dürften unschwer
l ) Hobrecht, Canalisation von Berlin, S. 82.
t
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Die Verunreinigung der. öffentlichen Gewässer zu Berlin.
245
durch zweckentsprechende Maassnahmen beseitigt werden können, zumal
auch für dasselbe eine Reihe gewichtiger Gründe (billige Anlage, billiger,
weil gleichmässiger Betrieb, geringere Grösse der Rieselfelder u. s. w.)
sprechen, die noch mehr ins Gewicht fallen, sobald demnächst das biologische
Klärsystem der Abwasserreinigung in betriebssicherer Weise durchgebildet
sein wird, was durch das sogenannte Oxydationsverfahren erreicht zu sein
scheint l ).
Von solchen Erwägungen ausgehend, beabsichtigt neuerdings Char¬
lottenburg beim Ausbau seines Radialbezirkes III das Mischsystem zu ver¬
lassen und die unreinen Regenwässer nach soi'gfältiger Klärung in Schlamm¬
fängen u. s. w. durch eine besondere Regenleitung der Spree zuzuführen,
während die Hauswässer nach dem Rieselfelde gepumpt werden. Die gün¬
stige Lage des betreffenden Stadttheiles auf dem rechten Spreeufer, an drei
Seiten von Wasserläufen umgeben, eignet sich ausserordentlich für den
Versuch und legt den Wunsch nahe, auch Berlin möchte sich entschliessen,
die im Radialbezirk VIII bis XII noch der Bebauung harrenden Gebiete,
soweit angängig, in ähnlicher Weise zu entwässern. Ob auch in anderen,
schon ausgebauten Radialbezirken, die zu den öffentlichen Wasserläufen
günstig liegen (Hansaviertel u. ä.), nachträglich der Bau von Regenleitungen
bei der Ueberlastung vieler Strassen mit Röhren, Kabeln u. s. w. noch an¬
hängig ist, muss besonderen Untersuchungen Vorbehalten bleiben; jedoch
dürfte die Kostenfrage hier, wo es sich um die wichtigste Lebensbedingung
der Stadt, um die Gesundheit ihrer Bewohner handelt, hintenan zu stellen sein.
Vielleicht giebt die weitere Erbauung der Unterpflasterbahnen, die ja
in einschneidender Weise die Versorgungsnetze ganzer Stadttheile in andere
Bahnen drängt, im Verein mit der zunehmenden Verschmutzung der öffent¬
lichen Wasserläufe den gewünschten Anlass, das Mischsystem allmählich zu
verlassen.
Unter den heutigen Verhältnissen werden allerdings nur eine Reihe
von Einzelmaassnahmen zu treffen sein. So müssten zur sicheren Beauf¬
sichtigung der Nothausläs8e ihre Schwellen so umgebaut werden, dass —
ein gleichmässiger Regen vorausgesetzt — zunächst die Hauptnothauslässe
und dann erst die übrigen selbstthätig und gleichzeitig speien. Während
die ersteren durch selbstschreibende Pegel in den Sandfängen beaufsichtigt
werden, müssten elektrische Meldeschwimmer an der letzten Schwelle die
Thätigkeit der Nebenauslässe auf den Pumpwerken anzeigen. Hierdurch
wäre ein Maassstab für die den Wasserläufen zugeführten Abwassermengen
und damit auch für diesen Theil ihrer Verunreinigung gegeben.
Sodann könnte die Zuführung der gröberen, schwimmenden Schmutz¬
stoffe in die öffentlichen Wasserläufe durch Rechen und ähnliche Vor¬
richtungen verhindert werden, etwa wie in Wiesbaden und Marburg, wo
diese Stoffe schon im Rohrnetze nach dem System Riensch 2 ) selbstthätig
seit längerer Zeit zur vollen Zufriedenheit aufgefischt werden.
Ferner müsste durch eine Vergrösserung des Fassungsraumes des
l ) Dunbar, Vierteljahrsschrift f. öffentl. Gesundheitspflege, Bd. 31, S. 136
und 625.
*) Dunbar, Vierteljahrsschrift f. öffentl. Gesundheitspflege, Bd. 31, S. 14 o.
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246
Wasserbauinspector Schümann,
Rohrnetzes, sowie dadurch, dass in den zahlreichen mit Bäumen bepflanzten
Strassen der äusseren Bezirke die Bürgersteige zunächst nach den zu Vor-
gullies ausgebildeten Pflasteraussparungen der Bäume entwässern und durch
etwaige sonstige Maassnahmen eine grössere Verzögerung des abfliessenden
Regens erzielt und endlich durch Vermehrung der Pumpen und vor Allem
der Druckrohre den veränderten Verhältnissen in höherem Maasse als bis¬
her Rechnung getragen werden. Hierin liegt aber wohl eine der Haupt¬
schwierigkeiten , indem aus Rücksicht für die Betriebssicherheit die Ge¬
schwindigkeit in den Hauptsammlern und Druckrohren eine gewisse Grenze
nicht überschreiten darf, die oft schon erreicht ist. Andererseits müssten
die Schwierigkeiten ausserhalb des Weichbildes, die der Stadt z. B. bei
der Neuverlegung von Druckrohren im Gebiete der berührten Gemeinden
in Folge ungemessener Forderungen erwachsen, durch Erweiterung des
Enteignungsrechtes u. s. w. thunlichst beseitigt werden.
In viel nachdrücklicherer Weise sollten aber die kleineren Vororte, bei
denen die Verhältnisse einfacher liegen/ und ferner die zahlreichen gewerb¬
lichen Anlagen an der Spree angehalten werden, ihre Abwässer nur in
durchaus einwandfreiem Zustande der Spree zuzuführen. Allerdings dürften
hierzu die gesetzlichen Handhaben nicht überall ausreichen. Zwar genügen
wohl die Vorschriften für die gewerblichen Anlagen an öffentlichen
Flüssen, soweit sie in §. 26 ff. der Reichsgewerbeordnung vom 1. Juli 1883
gegeben und mit Hülfe des Zuständigkeitsgesetzes vom 1. August 1883 ver¬
vollständigt werden können; auch das Fischereigesetz vom 30. Mai 1874
beschränkt die Verunreinigung der Gewässer durch landwirtschaftliche
und gewerbliche Betriebe, aber über die freie Benutzung der Privatflüsse
wird nur in §. 3 des Gesetzes vom 28. Februar 1843 eine Ausnahme hin¬
sichtlich der Färbereien, Gerbereien, Walken und ähnlichen Anlageu ge¬
macht, während im Uebrigen jeder Uferbesitzer berechtigt ist, das an seinem
Grundstücke vorüberfliessende Wasser „zu seinem besonderen Vorteil zu
benutzen“.
Ueber die Einführung von Abwässern aus städtischen Canalisations-
anlageu liegen drei Ministerialerlasse*) vor, durch welche die Genehmigung
zu neuen Canalisationsanlagen vorgeschrieben wird.
Demnach können die bestehenden gesetzlichen Vorschriften, wie auch
der Entwurf eines Wassergesetzes vom Jahre 1894 ausspricht, nicht als
zureichend angesehen werden. Aber die jüngste Allgemeine Ministerial-
Verfügung vom 20. Februar 1901 stellt eine Neuordnung der gesetzlichen
Bestimmungen für später in Aussicht, die wegen der Verschiedenartigkeit
der örtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Monarchie
bei den noch nicht hinreichend geklärten Kenntnissen über den zulässigen
Grad der Verunreinigung der Vorfluter zur Zeit noch nicht angängig er¬
scheint. Sie giebt aber andererseits schon heute in Ergänzung der bestehen¬
den Bestimmungen eine willkommene Handhabe, um dort, wo unzweifelhaft
Missstände vorhanden sind, unter tunlichster Abwägung aller berechtigten
Interessen eine Besserung anzubahnen, ohne jedoch einer schematischen
l ) Min. d. öffentl. Arbeiten, des Inneren, für Land Wirtschaft, Domänen und
Forsten, der geistlichen, Unterrichts- und Medicinai-Angelegenheiten und für
Handel und Gewerbe vom 1. Sept. 1877, 8. 8ept. 1888 und 30. März 1896.
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247
Die Verunreinigung der öffentlichen Gewässer zu Berlin.
Behandlung des verwickelten Gegenstandes, die vielfach zu Härten fuhren
würde, Vorschub zu leisten.
Demnach dürfte in vielen Punkten eine schärfere Aufsicht, als bisher,
auch jetzt schon möglich sein. In Breslau z. B. werden die Abwässer einer
beständigen Prüfung durch besondere sachverständige Beamte unterzogen,
die in verdächtigen Fällen das städtische Gesundheitsamt zu Rathe ziehen*).
Die Quellen der Verunreinigung sind so zahlreich, dass
jede Möglichkeit der Verbesserung des Spreewassers Beachtung
verdient.
So z. B. eröffnet die Erbauung des Teltowcanals für die Reinhaltung
der Unterspree die Aussicht, dass grösseren Gebietstheilen von Schöneberg,
Wilmersdorf u. s. w. sogar über die Grenze der natürlichen Vorfluth hin¬
aus eine bessere Vorfluth als jetzt eröffnet wird. Die Gemeinden, die mit
Rücksicht auf den baldigen Ablauf des schon erwähnten Vertrages mit
Oharlottenburg zur Zeit eigene Entwässerungsanlagen bearbeiten, hätten
nunmehr Gelegenheit, zur vollkommenen Entlastung des Landwehrcanals
und der Spree ihre Auslässe dem Teltowcanal zuzuführen. Diese ander¬
weitige Regelung der gesammten Vorfluth jener Gebiete, auch des Theiles,
der nach der Spree hinweist, könnte von der Strombehörde gefordert und
dadurch erzwungen werden, dass die Genehmigung zur Ausmündung der
neuen Auslässe in den Landwehrcanal und Spree, die den Ersatz für die
bestehende Vorfluth durch den überwölbten „Schwarzen Graben“ bilden
würden, versagt wird, sogar für den Fall, dass die Gemeinden das Trenn¬
system durchführen, also die Auslässe nur Regenwasser abführen.
Die gesetzlichen Vorfluthbestimmungen haben nur Gültigkeit für land¬
wirtschaftlich bebaute Grundstücke, aber nicht für solche, die mit Strassen
und Häusern bebaut sind, durch die die Substanz des Rechts ge¬
ändert wird.
Eine andere Maassnahme, der übermässigen Verunreinigung der öffent¬
lichen Wasserläufe entgegenzutreten, wäre die Einführung einer planmässigen,
kräftigen Spülung der Gewässer, nachdem zuvor durch umfangreiche
Baggerungen die Schlammablagerungen beseitigt worden sind. Bei der zur
Zeit üblichen Art der Wasserabführung können durchgreifende Spülungen,
die den Schlamm der Sohle aufrühren und fortführen, nicht gemacht werden,
hierzu genügen für gewöhnlich die Wassermengen nicht; nur in den wenigen
Wochen des Hochwassers reicht die Geschwindigkeit zu; sobald es aber
im Mai oder Juni abgeflossen ist, stellt sich der alte Zustand bald
wieder ein.
In den Sommermonaten müssen die Wehre am Mühlendamm und an
der Unterschleuse oft längere Zeit vollständig dicht gesetzt werden, um
für die Schifffahrt den nöthigen Wasserstand zu halten. Zwar sind die
Schleusenmeister angehalten, bei starken Regenfällen und auf Meldung der
Pumpstationen die Schützen zu ziehen, aber dies kann der Fahrwassertiefe
wegen nur so lange geschehen, bis der durch Regen und Nothauslässe ver¬
ursachte Aufstau abgeflo8sen ist.
So wünschenswerth nun in mancher Beziehung für den Schiffsverkehr
*) Dunbar, Vierteljahrsschrift f. öffentl. Gesundheitspflege, Bd. 31, S. 169.
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248
Wasserbauinspector SchümaDn,
und einzelne gewerbliche Anlagen ein gleich hoher Wasserst and und gleich-
mässige Wasserabführung auch ist, so müsste doch, zu Gunsten der All¬
gemeinheit die Rücksicht zurücktreten.
Es ist schon bei anderer Gelegenheit l ) darauf hingewiesen worden, wie
wünschenswerth eine Senkung des Oberwasserspiegels für die Schifffahrt
sein würde, eine Forderung, die sich mit der vorliegenden vereinigen lässt.
Wenn die Oberspree, die zur Zeit gleichmässig auf -f- 32*28 gehalten wird,
bis auf 32*08 abgelassen und nur behufs Spülung bis -|- 32*28 aufgestaut
würde, so könnte, da die rund 3500 ha grosse obere Haltung mit ihren breiten
Seenbecken zur Verfügung steht, die für eine kräftige Spülung erforderliche
Wassergeschwindigkeit wohl erzielt werden. Die Schifffahrt und der Lösch-
und Ladeverkehr würde etwa mittelst Läutewerke längs der Wasserläufe
von dem Beginn der Spülung zu unterrichten sein.
Allerdings finden die Spülungen in der Natur der Spree ihre Grenzen.
Am wirksamsten sind sie zur Zeit des Hochwassers bis herab zum Mittel¬
wasser. Wenn z. B. noch 40 cbm/sec. nach Abzug des Schleusenwassers
zur Verfügung stehen, so könnte bei der Grösse der oberen Haltung von
rund 3500 ha eine Spülung nur an jedem
3500.100 2 .0*20 _
24 . 60 2 . 40 “ — 2
zweiten Tage stattfinden. Mit der weiter abnehmenden Wassermenge werden
sie immer schwächer und seltener erfolgen können, um gerade dann, wenn
sie am nöthigsten sind, im Hochsommer, zu versagen.
Immerhin sind sie während der grösseren Zeit des Jahres möglich;
ihre Zweckmässigkeit müsste durch Versuche bewiesen werden.
Auf die Durchführung dieser Spülungen ist jedoch die Erbauung
des Teltowcanals nicht ohne Einfluss. Obschon die gegenwärtige Hoch¬
wasserabführung der Spree durch die vorhandenen Wehre mit voller Sicher¬
heit geleistet wird, so kann auf seine Mitwirkung nach der in absehbarer
Zeit wohl nicht zu umgehenden Erbauung einer zweiten Mühlendamm¬
schleuse 2 ) sogar für den tfall einer Senkung des Oberwassers, wenn die
zweite Schleuse unmittelbar neben der vorhandenen angeordnet wird, nicht
völlig verzichtet werden, sobald die Hochwassermenge den Betrag von
etwa 140 cbm übersteigt; denn das bei Machnow geplante Wehr soll nach
Regulirung des Oberlaufes der Spree vorzugsweise zur Abführung der
Hochwasserwelle aus dem Spreewald dienen. Wenn demnach ausnahms¬
weise die Mitwirkung des Teltowcanals späterhin nicht wird entbehrt werden
können, so dürfte sie für gewöhnlich nicht willkommen sein. Zwar nimmt
der Kreis Teltow 3 ) an, dass der gewöhnlicheWasserbedarf des Canals auch
in den Sommermonaten ohne Entnahme aus der Spree, allein aus dem Zu¬
flusse des Niederschlaggebietes gedeckt werden kann, während nur für Spül¬
zwecke eine zeitweilige Entnahme von 12 bis 24 cbm beabsichtigt ist. —
Inwieweit aber diese Annahme bei der landespolizeilichen Genehmigung als
zutreffend angesehen wird, steht noch dahin; ihr Zugeständniss dürfte die
Spülkraft der Spree nicht unwesentlich beeinträchtigen.
l ) Centralblatt der Bauverwaltung 1899, S. 287.
*) Centralblatt, der Bauverwaltung 1899, S. 249.
3 ) Havestadt und Contag, Allgem. Entwurf zum Teltowcanal, 8. 32.
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Die Verunreinigung der öffentlichen Gewässer zu Berlin. 249
Eine dritte Maassnahme wäre, die Selbstreinigung der Gewässer
zu unterstützen und zu beschleunigen. Dies ist aber bei dem heutigen
Stande der Wissenschaft wohl noch nicht möglich; zunächst ist die Frage
noch nicht entschieden, ob es überhaupt erforderlich ist, alle organischen
Verunreinigungen zu beseitigen, ob nicht einige derselben und welche
im Wasser unbedenklich verbleiben können. — So lange die zulässige Grenze
der Verunreinigung nicht bekannt ist, erscheint ihre völlige Beseitigung
durch Vergasung und Mineralisirung der organischen Stoffe als erstrebens-
werth. Aber unter welchen Bedingungen diese Veränderung erfolgt, welche
Organismen die wesentlichste Rolle spielen u. s. w., das sind noch alles
mehr oder weniger offene Fragen.
Die Erfahrung lehrt, dass ein schnell fliessender Strom aus der Luft
mehr Sauerstoff aufzunehmen vermag, als ein träge dahin fliessendes Ge¬
wässer und dass durch die Ausdehnung der Ablagerung über eine längere
Strecke die Masse der organischen Abfallstoffe mehr vertheilt und besser
verdaut werden kann. Die Spree vermag offenbar bei der Menge der zu¬
geführten Abfallstoffe das Sauerstoffbedürfniss nicht zu befriedigen, dessen
Aufnahme an vielen Stellen durch den schwer beweglichen, weil zumeist
mit einer dünnen, fettigen Schmutzschicht, wie mit einer Haut bedeckten
Wasserspiegel unmöglich ist. Ob und inwieweit durch Spülungen der
Wasserläufe die Sauerstoffzuführung vermehrt wird, ob dies noch in anderer,
unmittelbarerer Weise möglich ist, endlich, ob es vielleicht gelingt, be¬
sondere Arten von Lebewesen zu züchten und das Wasser im Oberlauf zu
impfen, um die Flussreinigung zu beschleunigen, das sind alles Aufgaben,
die noch der Lösung harren.
Das Ergebniss des Gesagten ist folgendes: Die Berliner Gewässer, ins¬
besondere der Landwehr- und Luisenstädtische Canal, befinden sich in einem
Zustande starker Verunreinigung, der gesundheitlich zu Bedenken Ver¬
anlassung gicbt. Dieser Zustand wird sich bei der Entwickelung von Gross-
Berlin mit Naturnotwendigkeit verschlimmern, wenn nicht alsbald durch¬
greifende Maassnahmen getroffen werden. Diene liegen theils auf tech¬
nischem, theils auf gesundheitlichem, theils auf verwaltungs¬
rechtlichem Gebiete.
Die zur Zeit bestehende Aufsicht über die Berliner Wasserläufe er¬
streckt sich von Seiten der Wasserbauinspectionen auf die Erhaltung
des freien Querschnittes für die Schifffahrt und die Vorfluth, auf die Rein¬
haltung von Seiten der unmittelbar in die Wasserläufe entwässernden
gewerblichen Anlagen, soweit diese äusserlich erkennbar ist und beguügt
sich mit einer blossen Kenntnissnahme der durch die Nothauslässe er¬
folgenden Verunreinigungen, soweit diese angezeigt werden; sie wird ferner
von Seiten des Polizei-Schifffahrts-Bureaus im Wesentlichen nur in
Bezug auf die Reinhaltung der Wasserläufe von Seiten der Schiffer aus¬
geübt, während eine Beaufsichtigung der Entwässerungen und Prüfung der
Beschaffenheit des Spreewassers und seiner Sohle in chemischer und bacte-
riologischer Beziehung, d. h. in der Hauptsache fehlt.
Es wäre nun, meines Erachtens, ein dringendes Gebot, die vielseitigen
und umfangreichen Aufgaben, die eine sachverständige Aufsicht der Ber-
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250 Wasserbauinspector Schümann, Die Verunreinigung der öffentl. Gewässer.
liner Wasserläufe bei ihrer ungeheuren Tragweite für das Allgemeinwohl
fordert, in eine Hand zu legen, die, unterstützt von technischen, biologischen
und chemischen Hülfskräften, ihr Augenmerk zu richten hätte:
1. auf die Abwasserbeseitigung von ßerlin und seinen Vororten inner¬
halb der Spreewasserscheiden, insbesondere auf die Thätigkeit der
Nothauslässe im Zusammenhänge mit den Regenfällen,
2. auf die Grösse, Art und Ursprung der Verunreinigung durch chemische
und bacteriologische Untersuchungen, die regelmässig und dauernd
an bestimmten Stellen der Wasserläufe ausgeführt werden,
3. auf die Vervollständigung und einheitliche Gestaltung der gesetz¬
lichen Bestimmungen und auf die Ueberwachung der Verhütungs¬
maassnahmen.
Hierin die Aufsichtsbehörde zu unterstützen und unter Berücksichtigung
der Eigenschaften der Spree und der wirtschaftlichen und technischen Be¬
dürfnisse ihrer Anlieger nicht nur die Grenze festzustellen, bis zu welcher
die Grösse der Verunreinigung zulässig ist, sondern auch Mittel ausfindig
zu machen, um diese Grenze nicht zu überschreiten, dürfte eine der vielen
Aufgaben sein, die die am 1. April 1901 ins Leben getretene „Landes¬
anstalt für Abwasserbeseitigung und Wasserversorgung“ zu
Berlin zu lösen haben wird.
Berlin hat nach Durchführung der Ho brecht’sehen Canalisation lange
Jahre das wohl erworbene Vorrecht genossen, eine der gesündesten Städte
zu sein; es gilt alle Kräfte anzuspannen, dass trotz des gewaltigen Wachs¬
thums der Riesenstadt und trotz der ungünstigen VorfluthVerhältnisse dieses
höchste Lob der Reichshauptstadt nicht verloren geht.
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Dr. A. Notier, Gesundheitsverhältnisse in Gressstädten and auf dem Lande. 251
Wodurch unterscheiden sich
die Gesundheitsyerhältnisse in Grossstädten
yon denen auf dem Lande?
Eine hygienische Studie.
Von Dr. A. Noder, Türkheim.
Um zu der vorliegenden Frage Stellung zu nehmen, ist es nöthig, zu¬
nächst festzulegen, was unter Gesundheitsverhältnissen im wissenschaftlichen
Sinne verstanden wird. Nach Pettenkofer x ) nennt man Gesundheit
„jenen körperlichen und seelischen Zustand, welcher durch eine Summe von
organisch zusammenwirkenden Functionen uns erleichtert, den Kampf ums
Dasein zu bestehen“. Wir werden also die Verhältnisse ins Auge zu fassen
haben, welche diesen Zustand in Stadt und Land beeinflussen, ohne Rück¬
sicht darauf, ob diese Verhältnisse ihn günstig (eigentliche Gesundheits¬
verhältnisse) oder ungünstig (krankmachend) beeinflussen. Denn obwohl
der Begriff „Gesundheit“ im wörtlichen Sinne nur das Wohlergehen, das
Normale des körperlichen Lebens bedeutet, so ist doch im erweiterten Sinne
auch alles das darunter zusammengefasst, was überhaupt auf unser Befinden
einwirkt, demnach ebensowohl das Schädliche als das Nützliche.
Da ferner die Begriffe Stadt und Land eine Summe von Individuen
bedeuten, welche theilweise nach ihren Berufsarten, theilweise nach ihrer
Lebensart verschieden sind, anderseits aber wieder in Beruf und Lebens¬
art vollkommen gleiche Individuen, bei denen nur die umgebenden Verhält¬
nisse der Natur das unterscheidende Moment bieten, so würde die weitere
Behandlung der Frage nach zweierlei Richtungen gehen müssen, nämlich
a) nach den allgemeinen Verhältnissen, deren Verschiedenheit ohne
Rücksicht auf das Individuum sich aus dem Unterschied der von uns unab¬
hängigen natürlichen Factoren ergiebt, und
b) nach den speciellen, bezw. individuellen Gesundheitsverhältnissen,
welche durch die vom Menschen selbst ausgehenden oder auf ihn zurück¬
zuführenden Zustände bedingt werden, und deren Unterschiede sich noch
mit denen der natürlichen Factoren combiniren.
Da endlich in dem Begriff des Unterscheidens nothwendig auch der
des Vergleichens enthalten ist, indem nur durch Feststellung der Ab¬
weichungen von einer gemeinsamen Linie das Unterscheidende sich ergiebt,
so enthält das vorliegende Thema damit auch die Aufgabe, nicht nur die¬
jenigen Factoren, welche erfahrungsgemäss zwischen Stadt und Land ver¬
schieden sind, zu berücksichtigen, sondern die moderne Hygiene überhaupt
l ) Pettenkofer, Handbuch d. Hyg. I, 1. Einleitung.
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252
Dr. A. Noder.
kurz zu überblicken und dann aus dem Facit dieses Ueberblickes die
differenzirenden Momente bervorzuheben.
Aus diesen Feststellungen heraus ergiebt sich nachstehende Gliederung,
welche ich der Abhandlung zu Grunde legen will:
I. Allgemeine Gesundheitsfactoren:
1. Luft. 2. Wasser. 3. Boden. 4. Licht.
II. Besondere Gesundheitsfactoren:
1. Wohnung. 2. Nahrung. 3. Kleidung. 4. Reinlichkeitspflege.
5. Sociale Stellung.
III. Wirkung dieser Factoren:
1. Morbidität. 2. Mortalität.
Die strenge Durchführung des Princips, zuerst nur die Factoren an
sich und dann erst deren Unterschiede in Bezug auf Land und Stadt zu
betrachten, würde indessen zu manchen Wiederholungen führen. Es soll
daher im Ferneren nach oder theilweise während der Besprechung ihrer
Eigenschaften auch schon der Hinweis auf ihre Verschiedenheiten und
Analogieen im Sinne des gestellten Themas bewirkt werden. Soweit aber
diese Verschiedenheiten auf speciellen Verhältnissen (Wohnung u. s. w.) be¬
ruhen, sollen sie erst bei Besprechung dieser Verhältnisse näher berührt
werden.
I. Allgemeine Gesundheitsfactoren.
1. Die Luft.
Sie hat bekanntlich ein Gewicht von 1*2932 g (pro Liter bei 0° und
760 mm Druckhöhe) und stellt eine Mischung von Sauerstoff, Stickstoff und
einigen anderen Gasen dar, deren Mischungsverhältniss ausserordentlich
geringen Schwankungen unterliegt J ).
Das Verhältnis beträgt im Mittel 20*9 Sauerstoff zu 79*1 Stickstoff
(Bunsen, Reiset, Regnault), doch wurden von Jolly, Macagno und
Morley etwas grössere Differenzen gefunden. Rubner 2 ) giebt nach
Magnus das Verhältnis an auf 0 = 20*7 Proc., N = 78*8 Proc. (0H 2
= 0*47 Proc., C0 2 = 0*03 Proc.). Obwohl beständig eine Verminderung
des Sauerstoffes durch die Athmungsbedürfnise der Menschen, Thiere und
chlorophylllosen Pflanzen, sowie die Verbrennungsprocesse erfolgt, so ändert
sich also doch dieses Verhältnis in kaum uennenswerther Weise, da in der
freien Luft ein beständiger und rascher Austausch der Gase erfolgt und von
den chlorophyllbaltigen Pflanzen unter Tags Sauerstoff ausgeschieden,
Kohlensäure absorbirt wird. Man sollte meinen, dass dennoch in den
Städten, wo viele Menschen zusammen leben und der Ranch zahlloser Kamine
die Luft „verschlechtert“, das Verhältnis ein wesentlich anderes sein müsste
als auf dem Lande, wo weuiger Sauerstoff von der geringeren Menge
athmender Lungen absorbirt und noch dazu durch die vegetationsreichen
Bodenflächen Sauerstoff an die Luft abgegeben wird; wir werden aber bei
der Erwähnung des C0 Ä *Gehaltes sehen, wie wenig diese Annahme zutrifft,
soweit sie die „freie Luft“ angeht. Anders verhält es sich dagegen mit
l ) Renk, Handbuch d. Hyg. I, 2. b.
*) Rubner, Hygiene 18i*2.
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Die Ge8undheit8verliältnisse in Grossstädten und auf dem Lande. 253
dem Mischungsverhältnis der Luft unter abnormen Verhältnissen, z. B. in
Bergwerken, in den Häusern, nach Explosionen u. s. w., sowie auch in
manchen natürlichen Schachten und Höhlen, wobei von verschiedenen
Forschern Schwankungen bis zu 4*88 Proc. herab gefunden wurden J ). Der
Stickstoffgehalt der Luft ist nur insofern von Bedeutung, als er gewisser-
maassen das „Auffüllungsmittel“ darstellt, welches die Mischung in einer
gewissen Einheit zu erhalten hat. Daher hängt seine Menge stets ab von
der Menge der übrigen Bestandtheile der Luft, namentlich des Sauerstoffes,
dann aber auch der C0 2 und anderer Gase. Ein Unterschied, welcher Stadt¬
oder Landluft hierin eigentümlich wäre, ist also nicht vorhanden. Trotz
seiner grossen Menge ist er auch hygienisch ohne weitere Bedeutung
(Rubner, Renk u. s. w.).
Von geradezu entgegengesetzter Bedeutung ist die Kohlensäure, welche,
obgleich im Allgemeinen nur in geringster Menge in der Luft vorhanden,
doch zu deren einflussreichsten und differentesten Bestandteilen gehört.
Normal schwankt ihre Menge zwischen 0*3 (von einigen Forschern wurden
auch 0*25 pro Mille gefunden) bis 0*4 Voluinpromille, und dieses Verhält¬
nis ändert sich trotz der gewaltigen Ausscheidung von C0 2 aus ca.
1510 Millionen Menschenlungen, aus zahllosen Thierlungen und Pflanzen
(allen chlorophylllosen und den chlorophyllhaltigen auch Nachts) und aus
den Feuerherden der Grossstädte um kaum mehr als 0*015 pro Mille (Renk).
Dass demnach auch zwischen Stadt- und Landluft eine Differenz nicht be¬
stehen werde, ist zu erwarten und Rubner sagt auch ausdrücklich: „Nicht
einmal zwischen Stadt- und Landluft ist eine nennenswerte Differenz im
C0 2 -Gehalt gefunden worden; erstere enthält im Mittel 0‘385, letztere
0*318 C0 2 pro Mille.“ Wie schon oben erwähnt, beruht dieser Ausgleich
auf der Gasdiffusion und der Luftbewegung und wird natürlich dort um so
geringer, wo diese beiden physikalischen Factoren mehr oder weniger aus¬
geschaltet werden, nämlich in geschlossenen Räumen und unmittelbar über
Kohlensäure abgebenden Stätten, z. B. kohlensauren Quellen (Pettenkofer
fand in Marienbad, 5 cm über der Wasseroberfläche, 31 Proc.), Dungstätten,
Cloaken, Kohlenlagern (Bunsen, über einem Braunkohlenlager 75 Proc.!),
Vulkanen u. s. w. a ). Wir werden auf die Verhältnisse in den Wohnungen
noch zurückkommen; aber auch in Bergwerken und Höhlen finden sich ab¬
norme Mengen, welche zum Theil wohl zu den natürlichen Verhältnissen zu
rechnen sind, indem sie durch die Athmungsthätigkeit der chlorophylllosen
Pflanzen in der Bodenluft sich entwickeln und durch diese an die Oberfläche
des Bodens der Höhlen oder Minen gelangen.
Von anderen noch in der Luft jederzeit vorhandenen Gasen haben
zur vorliegenden Frage Ozon- und Wasserstoffsuperoxyd in so fern eine
erhöhte Bedeutung, als thatsächlich hier ein Unterschied zwischen Stadt und
Land von verschiedenen Forschern angenommen wird. So sagt Rubner 8 ):
„Ozon findet sich überall im Freien, in Städten weniger, in der Stubenluft
gar nicht“, ebenso Renk 4 ), welcher annimmt, „dass die Luft im Innern der
l ) Polek, Die chemische Natur der Minengase, 1867.
*) Renk, Seite 39.
*) Rubner, Seite 48.
4 ) Renk, Seite 50.
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254
Dr. A. Noder,
Städte durch die Unreinigkeit in den Strassen, durch Staub, Kuss und Aus«
dünstungen sich zersetzender Stoffe ihr Ozon, d. h. das Plus-Molecül ihres
Sauerstoffes verliere". Die Bedeutung des Ozons für die Gesundheit ist
aber in neuerer Zeit erheblich gesunken, nachdem die frühere Theorie von
der Entstehung der Krankheiten durch die „gute oder schlechte Luft“ hin¬
fällig geworden, und auch objectiv nachgewiesen ist, dass trotz gleichen
Ozongehaltes der Luft ein Ort seuchenfrei sein kann, ein anderer nicht.
Endlich gehört noch zu dieser Zusammensetzung der Luft der Wasser¬
dampf, welcher nächst dem Sauerstoff wohl der für die Gesundheit wichtigste
Bestandteil derselben ist. Seine Menge richtet sich aber nach der
Temperatur der Luft und ist daher bedeutenden täglichen und jahreszeit¬
lichen Schwankungen unterworfen. Eine Differenz in Bezug auf die Luft¬
feuchtigkeit findet zwischen Stadt und Land nur in so fern statt, als durch
die Bauart der Städte die Luftcirculation und Abkühlung mehr gehemmt ist
als in freiem Felde und offenen Dörfern u. s. w., so dass auch das Sättigungs¬
vermögen der Luft dadurch alterirt wird. Da durch den Wasserdampf die
Sonnenstrahlen in einer gewissen Weise abgelenkt, aber auch gebunden
werden, so ist der Wasserdampf ebenso für die Wärmeregulirung des Körpers
von Wichtigkeit (Schweissproduction, Erkältung, nach Rubner). Endlich
ist die Wasserdampfsättigung der Luft mit ihren Schwankungen die Quelle
aller atmosphärischen Niederschläge und damit eines wichtigen Factors der
allgemeinen Gesundheit (Klima). Eine Differenzirung der Reichlichkeit und
Bedeutung dieser Niederschläge für Stadt und Land habe ich jedoch in der
zugänglichen Literatur nicht finden können.
An anderen Gasen findet sich in der Luft noch Ammoniak, freilich in
geringer und schwankender Menge (0*01 bis 0*05) und salpetrige und
Salpetersäure, welche, soweit sie nicht zu den Verunreinigungen der Luft
an bestimmten Stellen zu zählen sind, in der freien Atmosphäre nicht in
Betracht kommen. Dagegen bilden sie in geschlossenen Räumen, ausgehend
von Excrementen und Abfallstoflfen, ein wichtiges Kriterium ungesunder
Zustände und werden bei den speciellen Verhältnissen zu besprechen sein.
Von auffallenderem Unterschiede ist aber der Gehalt an verunreinigenden
Bestandteilen, sowohl gasförmiger als geformter (schwebender) Stoffe,
zwischen der Stadt- und der Landluft. Dies gilt allerdings nur für nicht
zu grosse Schichten und nicht zu lange Dauer, denn durch die Winde, die
Diffusion und die Athmungsthätigkeit der Pflanzen werden die einen, durch
Wind und atmosphärische Niederschläge die anderen stets bald wieder
aus der Luft entfernt. In Fabrikstädten mit vielen Steinkohlenfeuerungen
ist es hauptsächlich die Schwefelsäure, welche die Luft verunreinigt und
durch Sauerstoffzufuhr zu der (eigentlich ausgeschiedenen) schwefligen Säure
entsteht. Auch Fäulnissgase, namentlich Schwefelwasserstoff, Ammoniak,
Grubengas und dergl. finden sich über Städten, namentlich solchen, in welchen
die thierischen Abfallstoffe an der Luft verwesen, oder in denen der Inhalt
der Canäle und Cloaken, der Fabriken und Abdeckereien, durch Einleiten
in Flussbette zu Tage gefördert wird, z. B. London und Paris. Ein Theil
dieser Gase macht sich aber mehr durch seine Wirkung auf die Geruchs-
organe, als durch nachweisbare Schädigung der Gesundheit bemerkbar.
Daher häufig von der schlechten Luft in den Städten die Rede ist, während,
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Die Gesundheitsverhältnisse in Gressstädten und auf dem Lande. 255
wie Renk *) sagt, trotz der colossalen Mengen von Gasen, welche unter
Umständen der Luft übergeben werden, es nur in den seltensten Fällen
möglich ist, in der Luft der nächsten Umgebung messbare Mengen derselben
aufzufinden. Trotzdem sagt Renk, dass die höhere Sterblichkeit der
Städtebewohner gegenüber der Landbevölkerung auf die durch den mensch¬
lichen Athmungsprocess und verschiedene andere Ursachen bedingte Luft-
verderbniss zurückzuführen sei, welche vor Allem im Inneren bewohnter
Räume in grossen Städten gefunden wird. Man sei berechtigt, anzunehmen,
dass diese Stoffe, auch wenn sie nicht direct ins Blut eindringen, durch Ver¬
mittelung des Geruchsorganes auf den Gesammtorganismus einwirken. Es
giebt wie für die Nahrung, so auch für die Luft Genussmittel, welche den
Athmungsprocess zu einem angenehmeren machen; der Städter sucht die
freie Landluft auf nicht wegen des Ozongehaltes, sondern wegen der Riech¬
stoffe, die sie enthält, der Balsame (1. c. 174, 175).
Die geformten Bestandteile der Luft sind der Rauch und der Staub,
welcher in drei Arten vorkommt: als grober, bei jeder Beleuchtung sicht¬
barer, als Sonnenstäubchen, welcher nur bei durchfallendem Licht zur Er¬
scheinung kommt, und als unsichtbarer, nur mit dem Mikroskop nachweis¬
barer, zu welchem aber der für die Gesundheit wichtigste Staubbestandtheil,
die Pilze, gehören 9 ).
Der Staub entsteht theils durch natürliche Vorgänge (Abschilferung
der Haut der Thiere und Pflanzen, Verwitterung der Gesteine, vulcanische
Asche, Aufnahme von Blüthenstaub und dergl.), theils und zwar grössten¬
teils durch die Thätigkeit der Erdbewohner (Verbrennungsproducte und
Staub aus den gewerblichen Betrieben). Die Menge des Staubes hängt
demnach sehr von der Stelle ab, an welcher, und den Umständen, unter
welchen er gesammelt wird; in trockener Luft hält er sich schwebend,
während er durch den Regen (aber nicht ganz) aus der Luft ausgewaschen
wird. In der Stadtluft fand Tissandier Staubmengen zwischen 6 und
23 mg, in der gleichen Luftmenge auf dem Lande 0*25 bis 3 mg, Tisch¬
born in der Höhe von 43 m über der Stadt 29*7 Proc., in den Strassen
selbst 45*2 Proc. brennbare Staubbestandtheile 3 ), so dass also erstere „reinere“
Luftschicht wohl mit der des freien Landes identificirt werden und damit
der Nachweis des Unterschiedes beider Verhältnisse ebenfalls als erbracht
angesehen werden kann. Ueber das Vorhandensein der pflanzlichen Keime
sind erst in neuerer Zeit Untersuchungen angestellt und der Nachweis er¬
bracht worden, dass eine grosse Menge solcher in der Luft enthalten sind.
Von direct gesundheitsschädlichen aber sind vorerst nur der Favuspilz, der
Streptococcus erysipelatis (Hartmann und Emmerich) und der Staphylo-
coccus pyogenes aureus nachgewiesen, während gerade der Tuberkelbacillus
in der freien Luft noch nicht aufgefunden wurde (Cornet). In den Städten
aber enthält die Luft mehr Keime (einige 1000 im m 3 ) als auf dem Lande
(einige 100 im m 3 ) 4 ) und ist daher gesundheitsschädlicher, wie immer die Ver-
theilung der Keime in der Luft sich gestalten mag*
l ) Renk, 8eite 50.
*) Nägeli, Sitzungsbericht der Acad. d. Wiss. 7, VII, 79.
8 ) Rubner, 1. c. 43.
4 ) Rubner, 1. c. 45.
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256
Dr. A. Koder,
2. Das Wasser.
Das in der Natur vorkommende Wasser ist nie chemisch rein (= 2.H
l.O), sondern enthält verschiedene Bestandtheile, die es theils aus der
Luft, theils aus dem Boden aufgenommen hat. Schon Regenwasser enthält
ausser H 2 0 noch pro Liter 20 bis 30 ccm Gase, welche bestehen aus 25 bis
32 Proc. Sauerstoff, 62 bis 65 Proc. Stickstoff, 7 bis 13 Proc. Kohlensäure
und anderen (Ammoniak, Schwefelsäure, Salpetersäure), ferner gelöste und
ungelöste Stoffe (Kochsalz, Kalksalze, Eisen, Kohle und Bacterien).
Zur Erde gelangt, nimmt es Stoffe auf und giebt es Bestandtheile ab,
welche theils mechanisch vom Boden zurückgehalten, theils wirklich absorbirt
und assimilirt werden, ebenso wie die vom Wasser aufgenommenen Stoffe.
Zu den mechanisch im Boden abfiltrirten und andererseits wieder auf¬
genommenen gehören die Mikroorganismen und alle süspendirten Theilchen
(Staub, Erde), zu den vom Boden absorbirten vor Allem die Ammoniak¬
verbindungen, die Phosphorsäure und die Kalisalze (Düngwerth des Wassers!);
dann der Sauerstoff, an dessen Stelle Kohlensäure tritt, die dann ihrerseits
dem Wasser hilft, weitere Körper (kohlensaure Erden, Eisen und Mangan-
oxydul, Alkalien und Kieselerde) zu lösen oder in lösliche Verbindungen
überzuführen. Ausserdem treten im Boden die von der Bewohnung her¬
rührenden Abfallstoffe in das Wasser ein, namentlich Ammoniak, Salpeter
und salpetrige Säure und Chlornatrium *).
Je nach seiner Stellung zum Boden unterscheidet man das Wasser nun
als Quell- oder Grundwasser, Flusswasser, Seen- und Meerwasser, obwohl
ja eigentlich alle aus einem und demselben, dem in den Boden eingedrungenen
Meteorwasser stammen. Quell- und Grundwasser ist solches, welches, im
Boden an einer undurchlässigen Schicht angelangt, unterirdisch weiterfliesst,
nur dass ersteres dann an irgend einer Stelle freiwillig zu Tage tritt (Quelle),
während letzteres erschlossen wird (Brunnen). Bei Bächen, Flüssen und
Meeren läuft das Wasser nicht unterirdisch, sondern in offenen Rinnsalen
oder Vertiefungen hin, entstammt aber meist selbst wieder Quellen, seltener
wird es durch den Regen direct gebildet.
Als Quell-, Brunnen- und Flusswasser tritt das Wasser in Beziehung
zur menschlichen Thätigkeit und Gesundheit und zwar als Genuss- und
Nahrungsmittel einerseits (Trinkwasser), als Reinigungs- und Gebrauchs¬
mittel anderseits (Nutzwasser). Die Beschaffenheit dieses Wassers ist also
vor Allem wichtig für die Gesundheitsverhältnisse und muss in Stadt und
Land bestimmten Anforderungen entsprechen.
Es muss klar, geruchlos, frisch und reichlich sein und darf keine Ver¬
unreinigungen gasförmiger und mikroskopischer Natur haben. Das alles
hängt aber grösstentheils vom Boden ab, aus dem es stammt. Schon das
Regen wasser der Städte ist anders als das des wenig bewohnten Landes; so
fand Boussingault den Ammoniakgehalt desselben in Paris zu 3 mg, in
den Vogesen zu 0*79 mg. Aehnlich verhält es sich mit der Salpetersäure,
welche hauptsächlich durch Oxydation von Ammoniak und stickstoffhaltigen
Körpern gebildet wird. Der Gehalt an Schwefelsäure in Städten mit Fabrik-
l ) Kul>n er, Hygiene 279 ff.
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Die Gesundheitaverhältniaae in GroB88tädten und auf dem Lande. 267
anlagen, wie Manchester, beträgt nach Smith 50 bis 70 mg im Liter Regen¬
wasser, während in der Landluft S0 3 überhaupt nicht yorkommt.
Da die Bodenbeschaffenheit mit der Verunreinigung durch die Wohn¬
stätten im engsten Zusammenhänge steht, so wird das den Boden von
Städten durchsickernde Wasser auch ungleich mehr verunreinigt als das
Grundwasser auf dem Lande. Man muss indessen hier immer im Auge
behalten, dass nicht alles einer Stelle entnommene Grundwasser auch der
Umgebung seine Entstehung verdankt, sondern von weither zugeflossen sein
kann, da die Formation der wasserundurchlässigen Bodenschicht von be¬
sonderer Wichtigkeit für das Grundwasser ist. Schon die natürliche Boden¬
beschaffenheit ändert die Qualität des Wassers. Nach den Untersuchungen
der Btvers Pollution Commission kommt im Dolomit das unreinste Wasser vor,
im Granit das weichste (das am wenigsten Calcium- und Magnesiumbicarbonat
enthält). Wo, wie in Städten, der Boden mit den menschlichen, thierischen
und gewerblichen Abfallstoffen imprägnirt ist, nimmt das Wasser indessen
noch ganz andere Elemente in sich auf, daher Wasser im Untergrund von
Städten stärker verunreinigt ist, als im bebauten Lande 1 ). Nach Wolff
und Lehmann liefern 100000 Einwohner einer Stadt jährlich über
45 000 000 kg Excremente (Harn und Fäces); trotz der grossen Assimilations-
kraft des Bodens nimmt das Wasser hieraus doch nothwendig gewisse Zer-
setzung8producte auf, namentlich Ammoniak und Kochsalz als Endproducte,
so dass deren Vorkommen stets als Kriterium für eine Zersetzung von
organischen Stoffen im Bezugsort des Wassers betrachtet werden kann, ln
der Nähe von gewerblichen Anlagen finden sich dann im Wasser auch noch
andere, dem betreffenden Betriebe eigenthümliche Stoffe, z. B. Arsen, Salz¬
säure, saure Manganflüssigkeiten, Chlorcalcium, Kupfer, Zinkvitriol, oft auf
weite Strecken, aus Sodafabriken stammend, Rhodanverbindungen und Theer-
bestandtheile aus Gasanstalten, Anilin, Arsenik aus Farbenfabriken, Soda,
Seife, Walkerde, Blutfarbstoff, Alaun und Weinstein aus Textilfabriken,
organische Zersetzungsproducte, Mikroorganismen und übelriechende Gase
aus Gerbereien, Schlächtereien, Stärke-, Zucker- und Schnapsfabriken und
dergl. Besonderes Augenmerk verdienen ausserdem die bacteriellen Bei¬
mengungen, einmal die Wasser- und Fäulnissbacterien, welche die Eigen¬
schaft besitzen, sich im Wasser zu vermehren, und von denen die ersteren
in keinem, auch nicht im reinsten Quellwasser fehlen; vor allem aber die
pathogenen Bacterien, deren schon einige Arten, nämlich Cholera-, Milz¬
brand- und Typhusbacillus, darin gefunden worden sind, und für deren
manche die Wahrscheinlichkeit besteht, ebenfalls im Grundwasser vorhanden
zu sein und durch dasselbe verbreitet zu werden. Der Keimgehalt des
Grundwassers der Städte schwankt im Allgemeinen um 500 pro Cubikcenti-
meter, erhebt sich aber unter Umständen bis zu 17 000 und 20 000, ja im Spree¬
leitungswasser (unfiltrirt) der Stralauer Werke wurden von Plagge und
Proskauer 50 000 bis 100 000 Keime gefunden, während in reinem Quell¬
wasser selten mehr als 50 pro Cubikcentimeter enthalten sind *). Der Unter¬
schied zwischen dem der Stadt und dem Lande zur Verfügung stehenden
1 ) Wolffhügel, Wasser, S. 22.
2 ) Jäger iu Dämmer, Handwörterbuch der Gesundheitspflege.
Vierteljahrsschrift fftr Gesundheitspflege, 1902.
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258
Dr. A. Noder,
Wasser wäre also enorm, wenn nicht, wie wir später sehen werden, ver¬
schiedene Factoren in Betracht kämen, welche das Verhältnis zu verbessern,
ja sogar häufig umzukehren in der Lage sind.
3. Das Licht.
Am wenigsten Unterschied zwischen Land und Stadt bietet dieser dritte
Factor, da die Sonne dessen einzige gemeinsame Quelle für den Tag ist, und
die Leuchtkraftausnutzung des Mond- und Sternenlichtes wohl ausgeschlossen
werden kann; diese letzteren Lichtquellen werden eben in beiden Vergleichs¬
gebieten durch künstliche Beleuchtung ersetzt.
Das Sonnenlicht ist auf die menschliche Gesundheit von hervorragendem
Einfluss, indem es, abgesehen von der Thatsache, dass unsere gesammte
Lebensthätigkeit schliesslich auf die Thätigkeit des Lichtes (Bildung der
Vegetation, dadurch der Nahrungsstoffe u. s. w.) zurückzuführen ist, auch
directe Einflüsse auf das Individuum besitzt. Dieser Einfluss erstreckt sich
auf die Psyche, auf den Stoffwechsel und auf die Reinlichkeit. Je mehr
Licht, je freier, wohler fühlt sich der Mensch, je lebhafter arbeiten Gehirn
und Muskeln, je eher kommt Schmutz und Unrath zur Erscheinung 1 ) und
drängt auf Entfernung.
Dass die Abschliessung des Lichtes demnach entgegengesetzte Wirkung
haben wird, liegt daher auf der Hand. Es ist aber gleicherweise klar, dass
ein derartiger Abschluss im Allgemeinen eher in den Grossstädten als auf
dem Lande stattfindet. Hohe Häuser und enge Strassen entziehen hier dem
Bewohner sehr häufig die ihm nöthige Menge des Tageslichtes, und sitzende,
in Bureau, Läden, Kellern und Fabrikräumen sich abspielende Berufsthätig-
keit verhindert auch, ausserhalb der Wohnung das Licht zu suchen und zu
gemessen, wie es dem Landbewohner schon in Folge seiner vielfachen Be¬
schäftigung im Freien in reicherem Maasse zu Theil wird. Wir werden
zwar auch hier wahrnehmen, dass durch manche ungünstige Zustände ein
Theil dieser Vortheile abgeschwächt, bezw. aufgehoben wird. Dies gilt be¬
sonders auch von der künstlichen Beleuchtung.
4. Der Boden.
Gemeinsam ist dem Boden der Stadt ubd des Landes die Fähigkeit,
Wasser und Luft aufzunehmen und damit alle jene auf den Gesundheits¬
zustand günstig oder ungünstig einwirkenden Bestandtheile, welche wir bei
der Besprechung dieser Factoren bereits gesehen haben. Diese Aufnahme¬
fähigkeit beruht auf den physikalischen Eigenschaften der Porosität, der
Permeabilität und der Wassercapacität und hängt von der Beschaffenheit
des Bodens ab, welche ihrerseits an geologische und geographische Unter¬
schiede geknüpft ist. Die Lage der Städte kommt hierbei manchmal der
des Landes gleich, manchmal ist sie von derselben himmelweit verschieden,
so dass ganz andere Verhältnisse für die Beurtheilung des einen wie des
anderen in Betracht kommen.
Die Luft des Bodens enthält ausser Sauerstoff und Stickstoff ebenfalls
jene Beimengungen, welche schon in der Aussenluft erwähnt wurden:
l ) Rubner, 1. c. 199.
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Die Geaundheitsverhältnisse in Gressstädten und auf dem Lande. 259
Kohlensäure, Ammoniak, Salpeter, salpetrige Säure und Wasserdampf, sowie
Mikroorganismen. Die Zusammensetzung der nicht anormalen drei Gas¬
arten erleidet aber gegenüber der Aussenlnft eine wesentliche Aenderung,
indem der Sauerstoff in der Grundluft ab-, die Kohlensäure zunimmt. Seit
den Untersuchungen von Boussingault und Levy wissen wir, dass die
Ackerkrume z. B. einen weit grösseren Gehalt an CO a aufweist als die
atmosphärische Luft 1 ), nämlich 9 bis 22 pro Mille gegen 0'3 bis 0*4 pro
Mille der Atmosphäre. Diese Kohlensäure ist das Endproduct der Zer¬
setzung organischer Verbindungen, welche neben der Nitrification jene zwei
Processe darstellt, in welchen die Mineralisirung der organischen Substanzen
culminirt 2 ) und welche also als „Selbstreinigung des Bodens“ angesehen
werden muss. Diese Selbstreinigung bewirkt eben auch die Ueberführung des
Ammoniaks in Salpeter und salpetrige Säure, sie hat aber insofern ihre
Grenzen, als bei zu grosser Masse der organischen Verunreinigung (nament¬
lich der städtischen Jauche und Abwässer) eine Uebersättigung des Bodens
mit Ammoniak eintritt, so dass dieses in der Grundluft und im Grundwasser
nachgewiesen werden kann (so fand Fodor in Budapest bis zu 0*0471 mg
im Cubikmeter). Es ergiebt sich, dass der Gasgehalt der Grundluft in
Städten sich also von dem des Landes in wesentlichen Punkten unterscheidet.
Besonders different aber ist die Zusammensetzung des Grundwassers in dem
Maasse, als die Verunreinigung desselben eine grössere ist als auf dem
Lande. Ueber die Beschaffenheit desselben ist schon bei der Besprechung
des Wassers das Hauptsächlichste erwähnt worden, dadurch aber, dass der
Boden je nach seiner Porosität und Capacität im Stande ist, das Wasser in
verschiedenen Höhen festzuhalten, bezw. nach dem Gesetz der Capillarität
auch zu heben, sowie die darin enthaltenen Stoffe zurückzubehalten, wird
seine Beschaffenheit von der des eindringenden und durchsickernden
Wassers wesentlich beeinflusst. In den oberen Schichten des Bodens und
je nach der Porosität bis zu verschiedenen Tiefen finden sich daher die
Abfallstoffe, welche wir schon erwähnten, in theils unverändertem, theils in
Veränderung begriffenem Zustande; von besonderer Bedeutung sind aber hier
vor allem die Mikroorganismen, welche in reicher Anzahl überall im Boden
gefunden werden. Die Menge derselben schwankt bis zu 100 000 im
Cubikcentimeter, ist aber nach R. Koch schon in der Tiefe von 1 m nur
mehr sehr gering, bei l 1 /* m, namentlich in unbebautem Boden, beinahe ver¬
schwunden. Durch den Gehalt an pathogenen Keimen steht der Boden in
bedeutender Beziehung zur Gesundheit, und es wird später gezeigt werden,
dass gerade in Bezug auf die Infectionskrankheiten miasmatisch contagiöser
Natur, wie Cholera, Typhus u. s. w., das Land durchaus nicht gegenüber
den Grossstädten besonders begünstigt ist.
Von einigem Unterschied endlich ist die Temperatur des Bodens auf dem
Lande und in den Städten, indem die Vegetation des ersteren sowohl durch
die Behinderung der Bodenverdunstung, durch grössere Feuchterhaltung,
eine Aenderung derselben erzeugt, als auch durch die Art der Bodenfärbung
das Absorptions- und Emissionsvermögen des Bodens beeinflusst 3 ). Dunkle
l ) Soyka, Boden, S. 187.
*) Pettenkofer, Zeitschr. f. Biologie VII, IX.
*) Soyka, Boden, S. 128 bis 135.
17*
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260
Dr. A. Noder,
Böden (Aecker) erwärmen sich mehr als helle, dagegen wird ein nackter
Boden heisser als ein von Pflanzen (Wald) bedeckter. Auch der Grad der
Bodenfeuchtigkeit richtet sich — abgesehen von den täglichen und jahres¬
zeitlichen Einflüssen — nach diesen Verhältnissen, indem die Verdunstungs¬
grösse (nach Es er) um so höher ist, je höher der Gehalt an organischen
Substanzen, so dass Torf und Erde (Humus) die grösste Verdunstung auf¬
weisen, welche ausserdem noch durch den Pflanzenwuchs (Vermehrung der
Verdunstungsoberfläche) besonders begünstigt wird. So war die Ver¬
dunstungsmenge pro 1000 qcm innerhalb 31 Tagen nach Es er: bei mit
lebenden Pflanzen bedecktem Boden 13 902g, bei mit Steinen in nur 1cm
Höhe bedecktem 1862g, eine Differenz, welche wohl einfach als Differenz
des Stadtbodens gegenüber freiem Lande betrachtet werden darf.
Wir haben also die allgemeinen natürlichen Factoren in dem Sinne be¬
trachtet, in welchem sie ohne Rücksicht auf den speciellen Charakter der
Grossstädte und des Landes, d. h. deren Bewohner und Einrichtungen, sich
verschieden erweisen können, und wollen nunmehr auf die Unterschiede ein-
gehen, die sich aus den verschiedenartigen Lebens- und Wirkungsverhält¬
nissen der beiden Typen ergeben.
Betrachten wir zuerst
11. Besondere Gesundheitsfactoren.
1. Die Wohnung.
Hier treten wohl schon die durchgreifendsten Unterschiede zwischen
Stadt und Land in die Erscheinung. Denn die Stadt ist eine Anhäufung
der verschiedensten Wohnungen und innerhalb dieser und in dem von ihnen
umschlossenen Gebiete spielt sich das ganze Leben des Stadtbewohners ab.
Wir werden also zunächst die allgemeinen Wohnungsverhältnisse betrachten
und dann auf die einzelnen differirenden Momente eingehen.
Jedes Haus wirkt nach Pettenkofer wie eine auf den Boden auf¬
gesetzte Säugpumpe, es saugt die Grundluft ein und wird von derselben
durchdrungen, so dass in Parterrelocalitäten die Luft bisweilen zur Hälfte
aus Bodenluft besteht (Förster). Der Boden ist also vor Allem in der
sorgfältigsten Weise auf seine Zweckdienlichkeit zur Bebauung zu unter¬
suchen, ob er nämlich rein, d. h. nicht bereits mit schädlichen Stoffen ge¬
sättigt und trocken, d. h. durchlässig für Luft und von genügend tiefem
Grundwasserstand ist. Den letzteren Bedingungen wird in Stadt und Land
vielfach nicht entsprochen, die Art aber, wie der eventuellen Feuchtigkeit
des Untergrundes entgegengetreten wird, ist in der Stadt gewöhnlich eine
rationellere als auf dem Lande (Anlegung von Luftschächten, Betonunterbau,
Drainage des Baugrundes). Anders steht es mit der Bodenreinheit. An¬
genommen, ein Haus sei auf vollkommen jungfräulichem Boden errichtet, so
wird binnen Kurzem durch die Bewohner selbst eine Verunreinigung ein-
treten, indem die durch sie auftretenden Abfallstoffe dem Boden übermittelt
werden. Diese betragen ungefähr pro Jahr und Kopf*) 34 kg Koth, 428 kg
Harn, 90kg Küchenabfälle und Kehricht, 15 kg Asche, zusammen 567kg.
') llubner, Seite 349.
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Die Gesundheitsverhältnisse in Grossstädten und auf dem Lande. 2C1
Ausserdem entsteht noch eine nicht unbedeutende Menge Haus - und
Gebrauchs wasser, welches den Staub und Schmutz der Wohnung, der
Geschirre, der Wäsche u. s. w. mitzuführen hat und pro Tag und Person
nach Pettenkofer 301 beträgt, so dass also der pro Kopf und Jahr ge¬
lieferte Abfall eines Hausbewohners auf 7867 kg zu schätzen ist. Diese
Mengen werden nun in den Städten über Grundflächen erzeugt, welche viel
zu klein sind, um dieselben verarbeiten zu können, wenn auch die Ver-
arbeitungskraft des Bodens noch so sehr in Anschlag gebracht wird. Denkt
man sich *) die Menschen so vertheilt, wie es zu einer guten landwirt¬
schaftlichen Düngung wünschenswerth wäre, so ist es mehr als ausreichend,
wenn 80 Personen auf 1 ha Bodenfläche hausen und letzterem ihre Abfälle
als Dünger zuführen. Diese Verhältnisse sind aber in den Städten weit
überschritten. Auf 1 ha wohnen bis zu 800 Personen und darüber; dabei
ist ganz abgesehen davon, dass in den meisten Städten drei Viertel der
Bodenfläche mit Häusern bedeckt und dass kein Pflanzenwachsthum vor¬
handen ist, um die rasche Zersetzung der Düngstoffe zu begünstigen.
Zweifellos würden also die Städte gegenüber dem Lande in kürzester
Zeit die reinsten Pesthöhlen sein, wenn nicht Mittel vorhanden wären, den
Abfällen einen anderen Abweg zu verschaffen. Auf dem Lande geschieht
dies durch Senk- und Versitzgruben in allerdings höchst mangelhafter Weise.
Denn durch diese Gruben wird lediglich der Unrath, statt überall im Boden,
auf einem Platz desselben deponirt. Die Verunreinigung des Bodens bleibt
aber auch bei cementirten Gruben die gleiche, da die Jauche auf den Cement
lösend einwirkt. Setzt man den Gehalt an in Wasser löslichen und unlös¬
lichen Stoffen gleich 100 in einem normalen Boden, so befinden sich nach
Wolffhügel 2 ): unter der Siele 221, unter Abtrittgruben 363, unter Duug-
gruben 2652, ein Beweis für die colossale Verunreinigung, welche durch
diese auf dem Lande Übliche Abzugsart der Boden erfährt. In den Städten
werden diese Stoffe dagegen theils nach verschiedenen Systemen gesammelt
und fortgeführt, theils in Canäle abgeleitet, welche den gesammten Unrath
einem Flusse und dergl. zuführen (Schwemmcanalisation). Entschieden wird
auf diese Weise einer Verunreinigung des Bodens besser vorgebeugt als auf
dem Lande, andererseits ist damit der Missstand verbunden, dass statt dessen
Flüsse auf weite Strecken hin verunreinigt werden, oft in einer derartigen
Weise, dass ihre Ausdünstungen die Luft 3 ) für einige Zeit vollkommen
ungeniessbar machen (Themse, Seine). In den Städten, welche Schwemm¬
canalisation besitzen, ist aber nothwendig auch die ganze Anlage der Aborte
dem System angepasst, indem dieselben meistens Closets mit Wasserspülung
besitzen und dadurch, sowie durch die Syphonverschlüsse und genügende
Luftabzugsvorrichtungen einem Eintritt der Abortgase in das Innere des
Hauses Vorbeugen. Gegenüber den zuweilen höchst primitiven Einrichtungen
in den ländlichen Wohnungen fällt auch dies zu Gunsten der Stadt ins Gewicht.
Einen weiteren wichtigen Factor für die Wohnung liefert die Wasser¬
zufuhr, welche in Stadt und Land ebenfalls höchst bedeutende Diffe-
*) Bubner, 8. 349.
*) Wolffhügel, 1. c.
®) Renk, Luft, S. 57.
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renzen aufweist. Der Landbewohner hält sich zur Gewinnung des Trink-
und Nutzwassers meist an seinen. in der Nähe des Hauses, selten im
Inneren, gegrabenen oder geschlagenen Nortonhrunnen, seltener an eine
Quelle oder an in Deichen weiter hergeleitetes Quellwasser. In letzteren
beiden Fällen wird das Wasser im Allgemeinen rein, höchstens durch zu¬
fällige aus dem Ursprungsort der Quelle oder der Leitungsröhre herrührende
Beimengungen verunreinigt sein. Bei den Brunnen aber kommt es ganz
darauf an, auf welchem Platze sie stehen, und ob das Grundwasser dieses
Platzes es ist, welches sie speist. Nicht selten werden nämlich auf dem
Lande die Abfallstoffe, wie wir oben gesehen, einfach dem Boden anvertraut
und durch das eindringende Regenwasser dem Grundwasser zugeführt,
ebenso häufig aber stehen sogar die Brunnen in solcher Nähe der Dung¬
stätten, dass diese Stoffe, ohne erst zum Grundwasser zu gelangen, direct
in die Brunnen kommen und damit eine schwere Verunreinigung des Trink¬
wassers J ) bewirken können. Litthauer hat z. B. gelegentlich der Cholera¬
epidemie im Jahre 1873 amtlich festgestellt, dass der Inhalt von auf den
Düngerhaufen entleerten Eimern direct in den Brunnen geflossen war. Ist
also im Allgemeinen dadurch, dass der Landbewohner frischeres und reineres
Grundwas8er besitzt als der Städter, dieser letztere im Nachtheil, so wird
anderseits dieser Nachtheil häufig durch die unzweckmässige Brunnen¬
anlage auf dem Lande aufgehoben, wozu noch kommt 2 ), dass in den meisten
Grossstädten die Wasserfrage gewöhnlich in hinreichender und hygienisch
befriedigender Weise gelöst ist. Jede Stadtwohnung ist zumeist an eine
Wasserleitung angescblossen, welche so angelegt ist, dass pro Kopf und Tag
eine genügende Quantität (in Berlin 80 Liter, Breslau 81 Liter, Frankfurt
138 Liter, München 120 Liter) Wasser zur Verfügung steht. (Für kleinere
Ortschaften und das Land nimmt B. Salbach 45 bis 50 Liter an für die
menschlichen Gebrauchszwecke, für den Viehstand pro Pferd 50 Liter,
Rind 40 Liter, Schwein 20 Liter, Fuhrwerke 65 Liter) 3 ). Die Quantitäten
genügen also meist den Bedürfnissen, die Qualität lässt aber in vielen Fällen
zu wünschen übrig, namentlich was die Frische (lange Leitung) als auch die
Beimengungen betrifft. Häufig nimmt, namentlich bei Zutritt von Luft
(Pettenkofer), das Wasser aus den Leitungsröhren metallische Stoffe auf,
was besonders bei Bleiröhren zu Intoxicationen führen kann (Massenver¬
giftung in Dessau 1886); manchmal auch ist es die natürliche Beschaffenheit
des Wassers selbst, welche unzuträglich wirkt (Gypsgehalt des Wassers in
Paris) 4 ).
Betrachten wir nun das Material und die Construction der Häuser, wie
sie auf dem Lande und in der Grossstadt sich darbieten, so dürfte, wenigstens
was bayerische Verhältnisse anlangt, ein recht wesentlicher Unterschied nicht
vorhanden sein. Die meisten Wohnhäuser des Landes werden wohl aus
Backsteinen erbaut sein, die Dachdeckung besteht aus Ziegeln, nur in
wenigen Fällen mehr aus Stroh, Schindeln und dergl., und die Construction
l ) K 1 os8, Vierteljahrschrift für Gesundheitspflege XXXII, 3.
*) Officieller Bericht über die IX. Hauptversammlung des Preussischen
Medicinal-Beamten-Vereins in Berlin, S. 94.
8 ) Wolffhügel, 1. c. 193.
4 ) Wolffhügel, Seite 97.
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Die Gesundheitsverhältnisse in Gressstädten und auf dem Lande. 263
ist im Allgemeinen, bis auf die Unterschiede in Zimmerhöhe und Fenster¬
grösse, dieselbe wie bei gleich grossen Häusern der Stadt.
Anders scheinen in manchen Bezirken Norddeutschlands die Verhält¬
nisse zu liegen, von denen Litthauer 1 ) sich folgendermaassen äussert:
„Sie kennen ja Alle jene kleinen, aus Lehmstacken gebauten Hütten, die
nicht unterkellert, nicht gedielt sind, und jene kleinen nicht oder sehr schwer
zu öffnenden Fenster haben. Diese Hütten bilden für vier, sechs, acht
Familien, je nach ihrer Grösse, die Wohnung, gleichviel ob jede noch zwei,
vier oder mehr Kinder hat und für die vom landwirtschaftlichen Tagelöhner
zu haltende Dienstmagd ein besonderer Schlafraum existirt oder nicht. tf
Hier wären also die Landbewohner in einem bedeutenden Nachtheil gegen¬
über den überfülltesten Mietskasernen der Städte, auch hinsichtlich des
Baumateriales und der Bauführung.
In Einem aber unterscheidet sich das ländliche Haus zweifellos von
der Stadtwohnung, in der Lage. In den Grossstädten herrscht grösstenteils
das geschlossene Bausystem, während die ländlichen Ortschaften fast durch¬
weg in freien, von Gärten und grossen Hofräumen umgebenen Einzelhäusern
erhaut sind. Dadurch werden vor Allem die Luftcirculation (Ventilation)
und Lichtzufuhr in bedeutender Weise begünstigt, es wird aber auch die
Reinlichkeit sowohl des Untergrundes (geringere Ausnutzung des Bau¬
grundes durch weniger Bewohner pro Bodenfläche) als auch des Hauses
selbst (weniger Staub, feuchtere Aussenluft) a ) in derselben Weise erhalten
wie bei dem sogenannten Pavillonsystem.
Wir kommen damit auf diejenigen Factoren, welche nach allen Forschern
den Hauptunterschied zwischen den vorliegenden Vergleichsobjecten aus¬
machen, die Bebauungsweise und die (Stadt-) Luft. Durch die enge und in
mehreren Stockwerken über einander angelegte Zahl von Wohnungen wird,
wie wir schon gesehen haben, zunächst die Beschaffenheit des Bodens in
schädlichem Sinne geändert. Durch die Unzugänglichkeit zweier Seiten
des Hauses für die Luft und den Windstoss muss ferner die Ventilation
leiden, wie durch den Massenbau Luft und Licht den Innenräumen entzogen
wird. Die compacten Häuser hindern endlich auch die freie Luftbewegung
in den Höfen und Strassen, und es entstehen alle Folgen der Luftstagnation,
die Luftverschlechterung und die Hitze in den Sommermonaten (Rubner, 1. c.).
Zunächst erfährt dabei die Innenluft des Hauses eine Temperaturerhöhung,
welche aber nicht überall gleich, sondern in verschiedenen Stockwerken ver¬
schieden ist. In den Kellerwohnungen ist die Temperatur meist sogar
niedriger als die Lufttemperatur im Freien, theilweise auch im Erdgeschosse,
weil es dickere Mauern hat und durch viele Monate seine Wärme an den
Boden abgiebt. Die Dachwohnungen dagegen erhalten wegen der intensiven
Sonnenbestrahlung der meist flachen Dächer noch Wärme von oben zu¬
geleitet, während im Inneren ohnedies die Wärme nach den oberen Stock¬
werken zieht (E. Voit und Förster). Gerade diejenigen Wohnungen also,
welche von den zahlreicheren Parteien, den armen Leuten, bewohnt sind,
bieten zur Bewohnung oft untaugliche Temperaturextreme dar. Auch nach
l ) Litthauer, 1. c. 93.
*) Rubner, Hygiene 264.
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Dr. A. Noder,
aussen wird durch die Häuser die Temperatur in erhöhendem Sinne beein¬
flusst. Die mittlere Wintertemperatur ist z. B. in Wien (Stadt) um 0*3°,
die Sommertemperatur um 0*9° höher als in der Umgebung Wiens (Hann),
für welche Thatsache wohl die Wärmestrahlung der Häuser ausser der
geringeren Luftbewegung verantwortlich ist. Durch das Anhäufen der
Bevölkerung wird ferner die Wohnungsdichte bedeutend erhöht und damit der
Luftconsum und die durch das Ausathmen geschaffene Luftverschlechterung
in den Häusern. Es ist oben bereits erwähnt, dass in den Grossstädten
ungefähr 800 Personen auf den Hektar Bodenfläche treffen, und aus den
nachfolgenden Zahlen geht diese Thatsache noch deutlicher hervor: Nach
Adickes kamen 1890: Auf ein bewohntes Grundstück in Berlin 73*0, Bres¬
lau 49*7, Hamburg 34*1, München 31*9, Dresden 35*6 u. s. w., im Durch¬
schnitt 34*5 — ohne Berlin 27*4 Bewohner, während in England bei dem
System freier Bebauungsweise (Familienhaus) selbst in London nur 7*9 —
ohne London sogar nur 5*4 Bewohner auf ein Grundstück treffen *)•
Nach Farr, welcher die Wohndichtigkeit durch die Berechnung der
durchschnittlichen Nähe der Bewohner zu einander (proximity of population)
ausdrückte, ergab sich für London eine Menschennähe von 11*8 Ellen,
Liverpool 7 gegen eine solche von 99 in ganz England und sogar nur 147
in den hedlthy districts (Ackerbau treibenden nördlichen Grafschaften) 2 ). Da
ein erwachsener Mensch in 24 Stunden etwa 542 Liter C0 2 ausathmet, so
erhellt aus diesen Zahlen allein die Verschlechterung, welche die Luft der
städtischen Wohnungen durch das Zusammenleben vieler Menschen erfährt;
durch die in unserem Klima aber während eines grossen Theiles des Jahres
nothwendige Beheizung, durch die in Folge der intensiven Arbeitsausnutzung
nothwendige langdauernde Beleuchtung und durch die den Stadtbewohnern
in weit höherem Maasse als den Landbewohnern zufallende Beschäftigung
in geschlossenen Räumen wird diese Verschlechterung noch in weiterem
Maasse vermehrt. Oldendorff führt daher die grössere Mortalität der
städtischen Bevölkerung auf zwei Ursachen zurück: 1. Auf die Verschieden¬
heit der Beschäftigung, 2. auf das gedrängte Zusammenleben der niederen
socialen Schichten der Bevölkerung in unzureichenden, mangelhaften Woh¬
nungen und der damit gegebenen bald grösseren, bald geringeren Ver¬
unreinigung von Luft, Boden und Wasser s ).
Wir werden am Schlüsse auf diese Ausführungen noch näher zurück¬
kommen und wollen die Uebersicht über die ferneren Licht- und Schatten¬
seiten des städtischen Bebauungssystems zu Ende führen. Hierher gehören
noch vor Allem die Lichtverhältnisse, die Gefahren der Contactinfectionen
und die Gefahren bezw. Nachtheile des Verkehrs. Die Beleuchtung der
Wohnung durch directes Sonnenlicht wird wohl nur wenigen, hier am ersten
noch den höchstgelegenen Stockwerken zu Theil werden. Der grösste Theil
der Tagesbeleuchtung muss durch diffuses und das von gegenüberliegenden
Häuserflächen reflectirte Licht gedeckt werden, da, je höher die Gebäude,
l ) Adikes, in der XIX. Versammlung des Vereins für öffentliche Gesund¬
heitspflege in Magdeburg.
*) Finkelnburg, Centralbl. für allgemeine Gesundheitspflege, I. Jahrg., 1, 2.
8 ) Oldendorff, Einfluss der Wohnung auf die Gesundheit, im Handbuch der
Hygiene von Weyl, IV, 1.
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Die GesundheitsVerhältnisse in Grossstädten und auf dem Laude. 265
desto tiefer die Beschattung wird, und eine den Verhältnissen entsprechende
Strassenbreite nicht zu beschaffen ist. Stellt man (Rubner) die Anforderung,
dass Parterrelocalitäten noch bei tiefstem Sonnenstände von gegenüber¬
liegenden Gebäuden nicht beschattet werden, so müsste der Abstand der¬
selben das Drei- bis Vierfache ihrer Höhe betragen, eine Forderung, welche
selbstverständlich nicht durchführbar ist. Man begnügt sich daher zu ver¬
langen, dass in Parterreräumen wenigstens in einer Entfernung von 2 m vom
Fenster während des grössten Theiles des Tages noch Licht zum Lesen und
Schreiben vorhanden sei, und dies giebt bei richtiger Anlage und Grösse der
Fenster eine Strassenbreite, die der Häuserhöhe entspricht oder sie um
etwas übertrifft, H : B = 1:1 (Vorschläge des Deutschen Vereins für
öffentliche Gesundheitspflege) oder 1 :1*3 (Clement) oder 1:1*5 (Prelat).
Wie häufig indessen dieses Maass in den Gässchen und Gassen einer
Stadt, dann für alle Kellerwohnungen und Hintergebäude nicht zutrifft,
braucht gegenüber den hierin entschieden günstigeren Verhältnissen auf
dem Lande kaum betont zu werden, wenngleich ein Theil dieser freieren
Lichtzufuhr auf dem Lande durch kleine und unzweckmässige Construction
der Fenster wieder aufgehoben wird.
Von schwererem Einfluss auf die allgemeinen Gesundheitsverhältnisse
gestaltet sich das enge Zusammenwohnen bei Krankheiten, namentlich in-
fectiösen und epidemischen Charakters. Hierher gehören zunächst jene theils
dem Boden, theils der Contactübertragung entstammenden Volkskrankheiten,
wie Typhus und Cholera, theils und vor Allem die drei exquisiten, in der
schlechten Luft und Ernährung ihre Quellen findenden Krankheiten:
Kinderdiarrhoe, Lungenschwindsucht und Flecktyphus. Diese Krankheiten
bilden, wie wir später sehen werden, das Hauptmoment der höheren Morta¬
lität der Städte und erklären sich unschwer bei den oft tief darniederliegenden
Zuständen der städtischen Massenquartiere und Miethskasernen.
Doch auch zu anderen Krankheiten tragen diese Wohnungsverhältnisse
noch bei, nämlich zu Herz- und Nierenleiden. Erstere werden vielfach
durch das häufige hastige Steigen hoher Stiegen bei im Allgemeinen schlecht
genährtem Herzmuskel und entarteten Thoraxverhältnissen, letztere durch
den vermehrten Wirths- und Schnapshausbesuch erzeugt, welch letzterer
indirect eine Folge des Massenwohnens in so fern ist, als der Sinn für
Häuslichkeit dem städtischen Kleinwohner, dem Arbeiter, sehr häufig ver¬
loren geht (Finkelnburg, Oldendorff, 1. c.).
Zu den Schädlichkeiten, die der Strassenverkehr erzeugt, ist in Bezug
auf die Wohnung vor Allem der Staub zu zählen, welcher nicht nur durch
die an den Strassen liegenden Fenster und Thüren in Folge der Luft¬
bewegung eintritt, sondern auch durch die Stiefel und Kleider der Bewohner
täglich und stündlich hereingetragen wird. In diesem Staube aber sind
gerade die Pilze und Keime jenes Bodens zu einem grossen Theil enthalten,
dessen Verunreinigung durch die Städte so hervorragend und der hierdurch
auch noch auf einem zweiten Wege seine Schädlichkeiten an die Bewohner
abzugeben in der Lage ist. Der Lärm, welcher die nächtliche Ruhe in un¬
gleich höherem Maasse als auf dem Lande stört und in die Wohnungen
dringt, trägt nicht minder zu einer anderen Gesundheitsschädigung,
der Nervosität, bei.
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Dr. A. Noder,
Endlich wirken noch die directen Gefahren des intensiven Verkehrs
der Städte, welche indessen später besprochen werden sollen.
2. Die Ernährung.
Um das Stickstoffgleichgewicht des Körpers zu erhalten, benöthigt der
erwachsene, nicht zu schwer arbeitende, aber auch nicht ruhende Maun nach
den Untersuchungen Voits: 118g Eiweiss, 40g Fett, 400g Kohlehydrate;
die unter den gleichen Bedingungen untersuchte Frau: 90g Eiweiss, 40g
Fett, 400 g Kohlehydrate.
In neuerer Zeit sind aber gegen diese Höhe des Eiweissbedarfes mehr¬
fache Einsprüche erhoben worden. So fanden Pflüger, Bohland und
Bleibtreu bei kräftigen Männern nur einen Eiweissumsatz von 90bis 107 g,
Nakahama nur 70 bis 83g, Scheube und Eppmann 83 biB 90g,
Hirschfeld, Kumagawa und Andere sogar bei genügend reichlicher Zu¬
fuhr von Fett und Kohlehydraten nur 50 g, so dass es nach Munk 1 ) nicht
mehr zulässig erscheint, an den Voit’schen Grundsätzen festzuhalten. Nach
den Zusammenstellungen der Autoren sind vielmehr als Mittelmaass für den
erwachsenen kräftigen Mann bei leichter Arbeit zu fordern: 100g Eiweiss,
56 g Fett, 400 bis 450 g Kohlehydrate und bei mittlerer, nicht zu an¬
gestrengter Arbeit 110 g Eiweiss, 56 g Fett, 500 g Kohlehydrate. Von diesen
100 bis 110g sollten 90 bis 100g verdaut sein, was vorteilhaft dadurch
geschieht, dass ein Drittel des Eiweissbedarfes in animalischen Mitteln
(Fleisch, Milch, Käse) gegeben wird. Im ersteren Falle ist das Verhältniss
der N-haltigen zu den N-freien Stoffen 1:5, im zweiten 1: 5*3; für die er¬
wachsene, arbeitende Frau genügen die von Voit angegebenen Mengen.
Legt man diese Normalnährstoffmengen zu Grunde, so ergeben sich
zwischen Stadt und Land keine bedeutenden Unterschiede in Bezug auf den
Gesammtverbrauch der genannten Nährfactoren, wohl aber in dem Verhält¬
niss der einzelnen Gruppen zu einander.
Diese Unterschiede beziehen sich auf zwei verschiedene Klassen, die
wohlhabende und die Arbeiterbevölkerung. Auch der wohlhabende Bauer
deckt seinen Stoffumsatz zum grössten Theil aus vegetabilischen Nahrungs-
stoffen, während der gut situirte Städter die animalische Kost vorzieht. Der
Bauer consumirt eben im Grossen und Ganzen das von ihm selbst Producirte
und ist für Genussmittel und andere hier in Frage kommende Gebrauchs¬
gegenstände 2 ) ein geringer Abnehmer. Vor Allem verwendet er, wenigstens
hier in Süddeutschland, das von seinem eigenen Mehl hergestellte Brot und
zwar meist kleienhaltiges Roggenbrot, welches nach Rubner weit cellulose¬
reicher als Brot aus ganzem Korn ist, und von dem bei der Ausnutzung
15 Proc. Trockensubstanz, 32 Proc. Eiweiss, 10*9 Proc. Kohlehydrate ver¬
loren gehen. Schlimmere Zustände mag es in Norddeutschland geben, wenn
Dr. Dietrich 3 ) berichten kann: „— wo die Anspruchslosigkeit der Bevölkerung
in so vieler Hinsicht bis an die Grenze des Menschenwürdigen hinunterreicht,
und wo die Armuth eine so grosse ist, dass ein bedeutender Theil dieser
l ) Munk und Uffelmann, Ernährung, I, S. 205.
a ) Kloss, Vierteljahreschrift für Gesundheitspflege, XXIII, S. 3.
8 ) Dietrich, Das öffentliche Gesundheitswesen iu Posen in den Jahren 1886
bis 1888, 8. 158.
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Die Gesundheitsverhältnisse in Gressstädten und auf dem Lande. 267
Bevölkerung sich kaum an Festtagen den Brotgenuss erlauben kann, da
kann auch“ — u. s. w. Dieses Brot ist also ungleich weniger nahrhaft, es
regt aber zu energischerer Darmthätigkeit an, was wohl für die übrige
voluminöse und ebenfalls nicht sehr gut ausnutzbare bäuerliche Kost von
Bedeutung ist.
Zu dieser letzteren gehören als zweites Hauptnahrungsmittel die
Kartoffeln, deren Eiweissgehalt ein sehr geringer ist (sie enthalten nur ein
Drittel bis ein Viertel der Eiweissstoffe des Weizenmehls), welche aber
wegen der geringen Anpflanzungs- und Culturarbeit und des meist reichen
Ernteerträgnisses, sowie der leichten Zubereitungsart sich zum beliebtesten
Volksnährmittel entwickelt haben. Freilich bedarf es zur Erhaltung des
Stickstoffgleichgewichtes dabei colossaler Quantitäten, bei drückenden socialen
Zuständen werden aber dieselben in manchen Länderstrichen doch consumirt,
so z. B. in Irland, wo nach den Angaben von Edw. Smith ein Erwachsener
täglich über zehn englische Pfund Kartoffeln verzehrte 1 ).
Erst in dritter Linie kommen dann von animalischen Nahrungsmitteln
die Eier und die Milch, sowie deren Derivate in Betracht. Beide Stoffe
würden den Ei weissbedarf in der compendiösesten und resorbirbarsten Form
decken, neben den Kohlehydraten und der Flüssigkeitszufuhr — leider aber
wird, wenigstens nach meinen hier zu Lande gemachten Erfahrungen, der
überwiegende Theil derselben lieber verkauft als zum eigenen Bedarf zurück¬
behalten. Einen sehr schädlichen Einfluss üben hier vor Allem die in den
letzten Jahren überall entstandenen Genossenschaftskäsereien, welche von den
Bauern eines Ortes gegründet und erbaut und an einen Grosskäser verpachtet
werden, um den stetigen Absatz ihrer Milch zu sichern. Um 8 bis 9 Pfg.
wandert in Folge dessen der letzte Liter Milch zum Käser, welcher pünktlich
jeden Monat abrechnet und ausbezahlt, so dass häufig dann in plötzlichen
Nothfällen (Erkrankung u. s. w.) selbst in den grössten Bauernhöfen die
Milch zu 12 Pfg. gekauft werden muss, manchmal aber nicht einmal um
theures Geld zu haben ist. Selbstverständlich ist mit diesem Ausgeben der
Milch auch der völlige Mangel eigener Butter, eigenen Schmalzes verbunden.
An ihre Stelle treten die Surrogate, welche vom Krämer oder aus der Stadt
bezogen werden: Speisefett und Margarine, wie an Stelle der kühlen Milch
als Getränk dann das Bier tritt, meist das billigere und schlechte Tropfbier
(Schöps, hier zu Lande Weissbier genannt).
Fleisch kommt nur in seltenen Fällen auf den Tisch, an grossen Fest¬
tagen, nicht einmal an jedem Sonntag 3 ), wird aber dann ebenfalls in grossen
Quantitäten verzehrt. Ueber den Nährwerth desselben ist ja nichts weiter
zu erörtern, sehr häufig aber über die Provenienz. Nicht selten wird näm¬
lich das Fleisch nothgeschlachteten Thieren entnommen, welche kurz vor
dem Tode eine schwere Krankheit oder Verletzung erlitten und, wenn Hülfe
aussichtslos ist, noch im letzten Moment, um das Fleisch genussfähig zu
erhalten, getödtet wurden. Leicht ist hier der Anlass zu bedeutenden
hygienischen Missbräuchen gegeben, wenn, wie es auf dem Lande mehrfach
der Fall, nur bäuerliche Fleischbeschauer angestellt sind, welche, um dem
') Förster, Ernährung, 8. 105.
*) Scholtz, Vierteljahrsschrift für öffentl. Gesundheitspflege, XXVII, S. 4 .
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Dr. A. Noder,
Nachbarn hinauszuhelfen, gern ein oder mehr Augen zudrücken. In dieser
Beziehung werden oft besorgnisserregende Zustände wahrgenommen; so wird
von einer plötzlich yorgenommenen Nachprüfung der Fleischbeschauer des
Kreises Liegnitz 1888 berichtet: 21 legten unmittelbar nach der Prüfung
ihr Amt nieder oder wurden desselben enthoben, mehr als 80 bestanden die
Prüfung nicht und mussten theils einer Nachprüfung unterworfen, theils
neu unterrichtet werden; von den untersuchten Mikroskopen wurden 90
stark verunreinigt oder sonst unbrauchbar gefunden *). Dessgleichen geben
die grossen Fleischvergiftungs-Epidemieen (von Emmersleben, Andelfingen,
Kloten und Birmenstorf) Anregung zur Beurtheilung der oft arg darnieder¬
liegenden bezüglichen Prophylaxe; und Scholtz (1. c.) weist mit Recht
darauf hin, dass, wenn so zahlreiche Thiere in städtischen Centralviehhöfen
als unbrauchbar zurückgewiesen werden — z. B. waren in den preussischen
Schlachthäusern 1891/92 von 529 792 Rindern 3992, von 784 046 Kälbern
1148, von 1827 866 Schweine 7376 ganz und Theile von 58 979 Rindern,
1868 Kälbern und 43 388 Schweinen verworfen worden —, dann gewiss
auch in den ländlichen Metzgereien viele Hunderte von Thieren angekauft
und verkauft werden, deren Fleisch als gesundheitswidrig zu erachten ist a ).
Hier also besonders liegen hygienische Unterschiede zwischen Stadt und
Land zu Tage.
Was die Kost des ländlichen Arbeiters gegenüber dem städtischen be¬
trifft, so macht sich der Pauperismus bei Beiden meist in gleichem Sinne
geltend. Nach Scholtz (1. c., S. 331) „beschränkt allerdings sich der
Landarbeiter der Hauptsache nach auf vegetabilische Kost, Brot, Kartoffeln,
Graupen und Kraut, beim industriellen aber macht sich das Bedürfniss nach
animalischer Kost geltend — besonders die Wurst ist als Zukost begehrt“.
Nach Litthauer aber „fristet die Arbeiterbevölkerung auf dem Lande und
in kleinen Städten ihr Dasein vorzugsweise mit Kraut und Kartoffeln und
kennt als alleiniges Mittel zur Anregung und Tröstung über die Misere
ihres Daseins nur den Schnaps“. Dass dieser letztere auch dem landwirt¬
schaftlichen Arbeiter allmählich zuzusetzen beginnt, ist leider mit dem oben
erwähnten Rückgang der Milch in den bäuerlichen Haushaltungen verbunden
und findet seinen ziffernmässigen Ausdruck in der Morbidität und Mortalität
der Nierenkrankheiten, welche in beiden Kategorieen ziemlich hoch, allerdings
bei den Städtern bedeutend höher ist, und auf welche wir am Schlüsse noch
zurückkommen werden, ebenso wie auf die Kindermortalität, deren ätio¬
logisches Moment in Stadt und Land vielfach in den Ernährungsfehlern zu
suchen ist und hauptsächlich die kleine und arme Bevölkerung mit zahlreichem
Kindersegen und schlechten Wohnungs- und Nahrungsverhältnissen betrifft.
3. Die Kleidung.
Eine richtige Kleidung soll nach Rubner 3 ) ausreichend zur Wärme¬
regulirung, im Sommer dünn, locker und hell, im Winter dick, gut schliessend
und dunkel sein; in Rücksicht auf die Schweisssecretion das Wasser gut
J ) Kloss, 1. c., S. 445.
*) Scholtz, Vierteljahrsschrift f. öffentl. Gesundheitspflege, XXVII, 4, 8. 333.
a ) Rubner, Kleidung, S. 72 ff.
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Die Gesundheitsverhältnisse in Gressstädten und auf dem Laude. 269
aufnehmen und in benutztem Zustande leicht austrocknen; im Schnitt vor
Allem zu enge und drückende Maasse vermeiden, endlich gut zu reinigen,
leicht und dauerhaft «sein.
Im Allgemeinen können diese Anforderungen durch die verschiedensten
Stoffe erfüllt werden, so ungleich dieselben in Bezug auf Wärmeleitungs¬
fähigkeit, Aufsaugungavermögen und Durchlässigkeit für Luft und Wasser¬
dampf sind. Was die erstere betrifft, so ist nach Krieger die Wärme¬
abgabe gehemmt von Seide um 3 Proc., Leinwand um 5 Proc., Flanell um
14 Proc., Winterbuckskin um 16 bis 26 Proc.; nach Schuster von Lein¬
wand (einfache Lage) um 3*9 Proc., Seide 7*9 Proc., Flanell 18*4 Proc.,
Winterbuckskin 27 Proc. Das Aufsaugungsvermögen beträgt nach Nocht:
a) für hygroskopisch aufgenommenes Wasser (aus der Feuchtigkeit der Atmo¬
sphäre): Leinwand 20*6 g, Flanell 28 g, Barchent 16*4 g, Jägertricot 25*5 g
für 100 g Stoff in 48 Stunden; b) als Volldurchnässung (vollsaugen und ab¬
tropfen lassen) Leinwand 1263 g, Flanell 1833 g, Barchent 1626 g, Jäger¬
tricot 2850 g für 100 g Stoff, woraus erhellt, dass Leinwand hygroskopisch
in der Mitte zwischen wollenen und baumwollenen Stoffen steht, jedoch voll¬
gesaugt am wenigsten Wasser aufzunehmen vermag; Pettenkofer und
Nocht haben auch nachgewiesen, dass sie das Wasser am schnellsten wieder
abgiebt, indem Leinwand pro durchnässten Quadratmeter schon nach acht
Stunden, Barchent und Flanell nach zehn Stunden, Jägertricot noch nicht nach
13 Stunden trocken war. Die Durchlässigkeit endlich für Luft hat Petten¬
kofer bei 4*5 cbm Druck auf 1 qcm Stoff pro Minute folgendermaassen be¬
stimmt: Leinwand 6 03 Liter, Seide 4*14 Liter, Buckskin 6*07 Liter, Flanell
10*41 Liter. Nachdem aber der Druck in der menschlichen Kleidung (durch
die Athem- und andere Bewegungen) nicht mehr als 0*04 cbm Wasserdruck
entspricht, berechnen siöh die Durchgangsmengen der Luft durch Leinwand
mit 16 Liter, Barchent 25 bis 98 Liter, Flanell 100 bis 128 Liter, Jäger¬
tricot 150 Liter, Lahmann’s Stoff 249 Liter x ). Die Wärmeleitung und
Strahlung der Kleider dagegen ist für alle Stoffe ziemlich gleich, die erstere
hängt von der Dicke der Schicht ab, die letztere von der Art der Oberfläche,
wobei zu bemerken ist, dass der Unterschied zwischen glatten und rauhen
Geweben 25 Proc. betragen kann (Rubner).
Betrachtet man nun in Rücksicht auf vorstehende Normalsätze die
Kleidung des Landbewohners und Grossstädters, so ergeben sich für die
jetzige Zeit keine so bedeutenden Unterschiede wie früher, als noch die
Volkstrachten in Gebrauch waren, bei denen meist viel schwerere, dichtere,
oft sehr unhygienisch geschnittene Kleider getragen wurden. Im Allgemeinen
unterliegen die Kleider auf dem Lande noch nicht so sehr der Mode als in
den Städten und sind gewöhnlich — der freien und schweren Arbeit ent¬
sprechend — freier und gesünder, namentlich fehlt fast immer die Ein¬
engung des Halses durch Kragen und die Behinderung der Hautrespiration
durch appretirte oder gestärkte Stoffe beim männlichen Geschlecht und die
Beengung durch das Corset bei den Weibern. In der Wahl der Stoffe
(Leinwand, Shirting, Baumwollen- und Wollenstoffe) sowie in der Anordnung
der Kleidungsstücke (Hemd und Unterbeinkleid, Weste und Hose, Rock und
*) Nocht, Zeitschrift für Hygiene, Bd. V.
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Dr. A. Noder,
Ueberrock) besteht dagegen kein nennenswertber Unterschied, da beide
Kategorieen selten mehr selbstverarbeitete Producte benutzen, sondern meist
den Einkauf in städtischen Geschäften besorgen. Ueber die Kopf- und Fuss-
bedeckung ist wenig zu bemerken, wenn nicht das, dass auch hier der Land¬
bewohner, namentlich die Kinder, lieber und öfter frei und unbeengt (bar¬
haupt und barfuss) bleibt, als der Städter.
Endlich noch das Bett! Die „gute alte Zeit“, in welcher die hohen
und schweren Bauernbetten sprichwörtlich waren, ist hinfällig geworden
durch den Verkehr, der den Bäuerinnen einen lohnenderen Absatz für ihre
Gans- und Entendaunen eröffnet als in den häuslichen Ober- und Unter¬
betten. Nichts desto weniger besteht auf dem Lande noch überall, wo über¬
haupt nicht die Armuth auf Stroh und Decken nächtigt, die Sitte, das Bett
möglichst warm zu halten — Unterbett, baumwollenes oder wollenes Laken,
Oberbett und Decke, während der Städter sich im Allgemeinen auf die
Rosshaar-, Seegras- oder Springfedermatratze und auf ein leinenes Laken
eingerichtet hat.
Sehen wir indessen von der Rolle der Kleidung als wärmeregulirendes
Mittel ab, so besitzt dieselbe ausserdem noch eine allgemeine hygienische
Bedeutung als Schutzmittel gegen die äusseren Einflüsse des Staubes und
der atmosphärischen Niederschläge, anderseits aber auch als Träger des
Staubes, des Schmutzes der Körperoberfläche und damit als reinhaltendes
und reinmachendes Mittel oder, wie Nussbaum es ausgedrückt hat, als
„trockenes Bad“.
Wir kommen damit zu dem Capitel
4. Reinlichkeit und Hautpflege
und wollen dasselbe nach zwei Richtungen in Vergleich ziehen, nämlich als
allgemeine öffentliche und als individuelle Reinlichkeit.
Der öffentlichen obliegt die Reinhaltung der Luft, des Bodens und des
Wassers, der Häuser und Strassen, der privaten die Reinhaltung der
Wohnung und des Körpers.
In Bezug auf die Luftverunreinigung übt, wie im allgemeinen Theil
dieser Arbeit nachgewiesen, die Grossstadt einen erheblicheren Einfluss als
das Land, wesshalb ihr auch die Reinlichkeitsmaassregeln in erhöhtem Maasse
obliegen. Fabrikbetrieb und Leichenbestattung sind sowohl durch reichs¬
gesetzliche als auch locale Bestimmungen geregelt, ersterer durch die Ge¬
werbeordnung für das Deutsche Reich vom 21. Juni 1869 in der Fassung
vom 26. Juli 1900 und das Gesetz betreffend gewerbliche Anlagen vom
2. März 1874, letztere durch die verschiedenen Verordnungen über Leichen¬
schau, Anlage von Friedhöfen, Leichentransporte u. s. w. 1 ). Auf dem Lande
herrschen hier aber manchmal noch sehr besserungsbedürftige Zustände.
Zucker-, Holzstoff- und Papierfabriken, welche häufig auf dem Lande etablirt
sind, bewirken zuweilen starke Verunreinigung der Grundluft durch Ab¬
wässer, ohne dass, wie Dr. Kloss (1. c. S. 448) mittheilt, die Ortspolizei¬
behörde die Initiative ergreifen und dagegen einschreiten würde.
ln Hinsicht auf das Begräbnisswesen beklagt der gleiche Autor: 1. den
l ) Kuby, Medicinal-Gesetzgebung für Bayern 1883.
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Die Gesundheitsverhältnisse in Gressstädten und auf dem Lande. 271
Mangel an Leichenhallen, 2. die Unsitte, die Leichen zu Hause lange Zeit
(in Ostfriesland acht Tage, so dass durch eine Verordnung vom 3. Juli 1888
die Begräbnissfrist auf 96 bis 120 Stunden festgesetzt wurde!) stehen zu
lassen oder die geschlossenen Särge nochmals zu öffnen (Kloss, 1. c., S’. 455).
Dr. Süsskand 1 ) betont, dass Emanation von Leichengasen eintritt, wenn
die oberhalb der Verwesungszone gelegene Erdschicht sehr seicht, wenn der
Boden mit Leichenmaterial übersättigt, wenn die Verwesung durch zu grosse
Feuchtigkeit oder Trockenheit, zu enge Poren hintangehalten wird (Schön-
feld, Eulenburg) und dass es hauptsächlich die Kohlensäure sei, welche
gesundheitsgefahrlich hier wirke (namentlich beim Betreten von Grab¬
gewölben). Nach preussischen Bestimmungen ist daher die Entfernung des
Kirchhofes von Ortschaften, also nicht bloss Städten, auf 50 Ruthen = 200 m
vorgeschrieben (M. E. v. 18. März 1852), nach bayerischen war diesseits
des Rheines kein bestimmtes Maass angegeben, jenseits bestimmte der Code
Napoleon dasselbe zu 30 bis 40 m ausserhalb der Enceinte der Städte und
Ortschaften (Ges. v. 23. Prärial XII, Kuby). In den Dörfern befindet sich
jedoch häufig noch der Friedhof um die Kirche herum inmitten des Ortes.
Eine schwere Unsitte ist nach demselben Gewährsmann (1. c., S. 375)
die Behandlung der Thiercadaver. Bezüglich ihrer Beseitigung, sagt er, be¬
steht ein schreiender Gegensatz zwischen Stadt und Land. Während in
den grösseren Städten wohleingerichtete Abdeckereien existiren, welche alle
Leichentheile zu industriellen Zwecken verarbeiten, werden auf dem platten
Lande die Thiercadaver sammt und sonders der Erde zur Verarbeitung
überliefert. Wenn es auch nur selten Vorkommen dürfte, dass die Cadaver
unverscharrt der Vernichtung durch Fäulniss und aasfressende Thiere über¬
lassen werden (Esser, Abdeckereiwesen; Eulenberg’s Handbuch des Ge¬
sundheitswesens, Bd. I), so besteht doch vielfach noch die Unsitte, sie ober¬
flächlich in den Boden oder Composthaufen zu verscharren, so dass sie leicht
von Hunden und Füchsen herausgescharrt und an die Oberfläche befördert
werden. Auf manchen Gütern herrscht die nicht minder verwerfliche Sitte,
für etwaige Thierleichen eine Massengrube herzustellen, welche, schlecht
gedeckt, im Sommer von Maden und verschiedenen Fliegenarten umwimmelt
wird. Die hygienischen Schäden hieraus liegen auf der Hand: Emanation
von Leichengasen, Luft- und Grundwasserverderbniss, Gefahr der Erzeugung
septischer Krankheiten durch Mückenstich sowie durch Uebertragung von
Zoonosen durch die Thiere, welche die Cadaver ausscharren 3 ) (Rotz, Toll-
wuth, Trichinose, Milzbrand).
Eine grössere Verunreinigung als durch diese todten Stoffe entsteht aber
gewöhnlich durch die Thätigkeit der Lebendigen, durch die Abfallproducte
des Körpers und Haushaltes. Auch hier ist Massenverunreinigung seitens
der Städte grösser, hervorragender sind aber auch die Reinigungsvor-
kehrungen.
Zur Fortführung der Dejectionen sind in den Grossstädten die ver¬
schiedensten, theilweise sehr complicirten und kostspieligen Systeme in Ver¬
wendung; ich nenne das Tonnensystem (Heidelberg), das Liernur’sche
1 ) Süsskand, Vierteljalirsschrift für gerichtliche Medicin, XIV, 8. 2.
*) Soyka, Abdeckereien. Real-Encyklopädie, Bd. I.
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272
Dr. A. Noder,
Aspirationssystem (Amsterdam), die einfache Canalisation, die Schwemm-
canalisation (München) und die Schwemmcanalisation mit Rieselfeldern
(Danzig, Berlin). Alle laufen darauf hinaus, die menschlichen sowie haus-
wirtschaftlichen und gewerblichen Abfallstoffe möglichst rasch zu entfernen
und dadurch die Gesundheitsverhältnisse zu bessern, was ja zweifellos ge¬
lingt , wie die Typhusverdrängung aus München (Pettenkofer).
Anders liegen die Verhältnisse auf dem Lande. Hier werden sehr
häufig die primitivsten Vorkehrungen gegen die aus den menschlichen und
thierischen Dejectionen herrührende Luft- und Boden Verunreinigung unter¬
lassen. Dass die gewöhnlichen Aufnahmsorte der Fäcalien, die Senkgruben,
ganz durchlässig sind und in welchem Grade sie den Boden verunreinigen,
wurde schon im allgemeinen Theil besprochen. Die Abfuhr aber auch aus
solchen Gruben, welche nicht allen Inhalt versitzen lassen, geschieht am
hellen Tage in Fässern, welche oft durch Lecksein oder Ueberlaufen ganze
Strassenlängen mit ihrem Inhalt zeichnen und dient nur zur landwirt¬
schaftlichen Nutzbarmachung, nie zur Reinhaltung oder Salubrität des Bodens.
„Alle Sanitätsberichte“, sagt Dr. Eloss 1 ) (1. c., S. 442), „klagen, dass es
trotz aller Belehrungen nicht gelingen will, Reinlichkeit und Ordnung in
den ländlichen Ortschaften einzuführen. Ueberall finden sich noch Mist¬
haufen, Jauche und Spülwässer in den Höfen, die in Folge schlechter Lage
nicht selten in die Wohnungen eindringen.“ Und Scholtz 2 ) schreibt,
dass das Wort Abtritt auf dem Lande nur eine euphemistische Bedeutung
habe für die Aufstapelung der Fäces zu ebener Erde auf einem von drei
Seiten notdürftig verbreiterten Holzgestell. Häufig aber würden die
Dejectionen gar nicht hier, sondern an einer beliebigen Stelle des Hofes
deponirt und in derselben ungenirten Weise vollziehe sich die Entleerung
und Entfernung der Schmutzwässer. Oft würden dieselben auf den Dünger¬
haufen geschüttet und durch den Regen über den Hof mit der abfliessenden
Jauche vertheilt, wo sich dann stinkende, im Sommer mit Gasblasen bedeckte
Lachen bilden, oder sie würden, wenn ein Bach vorhanden, einfach in
diesen geleert, dem weiter unten ein Anderer wieder sein Gebrauchswasser
entnehme.
Wir sehen also, dass hier wiederum die ländlichen Verhältnisse sehr
hinter den städtischen zurückstehen und nur durch die relativ geringe und
auf weite Flächen vertheilte Zahl ihrer Schädlichkeitsherde den Vorzug
haben, trotz der geringen hygienischen Arbeit doch die bessere hygienische
Situation zu besitzen. Dies gilt auch von der weiteren Luftverunreinigung,
welche durch den Verkehr zu entstehen pflegt und als Strassenstaub im
Sommer, als Strassenkoth in den schlechten Monaten zur Schädigung der
Allgemeingesundheit beiträgt. Auch hier stehen in der Grossstadt die
Reinigungsmaassregeln, Besprengung der Strassen, Koth- und Schneeabfuhr
gewöhnlich auf der Höhe der Calamität, das Land aber steht diesen beiden
Factoren vollkommen unthätig gegenüber.
Gehen wir nun auf die Verunreinigungen von Luft und Boden in den
Häusern ein, so macht sich umgekehrt hier die Stadt in ungünstigerem
*) Kloss, Vierteljakrsschrift für Gesundheitspflege, XXIII, S. 3.
*) Scholtz, Dieselbe, XXVII, S. 4.
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Die Gesundheitsverhältnisse in Gressstädten und auf dem Lande. 273
Sinne als das Land bemerkbar. Zwar der wohlhabendste Theil der Be¬
wohner wird auch in der Stadt das freiere, schönere und hygienisch besser
eingerichtete Wohnhaus besitzen (Villenviertel, Familienhäuser, Cottages)
als der wohlhabende Landbewohner. Für den mittleren und Arbeiterstand
aber bildet die Dichtigkeit der Bewohnung eine nicht zu behebende Ver¬
unreinigung seines nothwendigsten Nahrungsmittels, der Luft. Diese Ver¬
unreinigung wird hur in seltenen Fällen behoben, am ehesten dann, wenn
die Verhältnisse ein directes Eingreifen der öffentlichen Gewalt gestatten,
wie in Casernen, Krankenhäusern, Erziehungsanstalten, Gefängnissen u. s. w.
Die Reinigung der Luft geschieht hier häufig durch eigene Ventilations¬
systeme, welche entweder nur die schlechte Luft abführen oder ausserdem
noch frische Luft zuführen; der ersteren Aufgabe dienen die Luftabzugs¬
schlote (Muir), die mit Luftheizung verbundenen Luftcanäle (Lockkamine),
der zweiten die Flügel Ventilatoren und Schleuderbläser. Im Allgemeinen
aber bleibt die Luftreinigung in den städtischen Wohnhäusern fast überall
illusorisch und wird dort, wo in Mietliscasernen und Kellern, in Seiten¬
gässchen und Hinterhäusern die Armuth und das Elend wohnen, zu einem
Ding der Unmöglichkeit, worauf wir bei der Erwähnung der socialen Unter-
scheidungsfactoren noch zurückkommen werden.
Gehen wir auf dasjenige Mittel ein, welches zur Reinlichkeit aber in
engster Beziehung steht, das Wasser, so finden wir, dass sowohl in Bezug
als in der Verwendung desselben zu Zwecken der Reinlichkeit zwischen
Land- und Grossstadt zwar keine grossen, aber doch bemerkbare Differenzen
bestehen. Schon bei der Gewinnung des Wassers aus Brunnen und Quellen
ist es nicht immer mehr so rein, wie es als Nutz- und Trinkwasser sein
sollte, es bedarf also oft, bevor es zur Reinigung dienlich wird, selbst einer
Reinigung und Verbesserung *). Dies geschieht entweder auf thermischem
(Kochen, Gefrieren, Destilliren) oder chemischem Wege, auf welch letzterem
namentlich zu hartes Wasser verbessert werden kann (Kalkmilch-, Natrium¬
baryt- oder Baryumchloridzusatz) oder endlich auf physikalisch-mechanischem
Wege, indem durch Sedimentiren und Filtriren die unreinen geformten Bei¬
mengungen von dem Wasser geschieden werden. Nach den meisten
Beobachtern sind aber diese Methoden nicht im Stande, was wohl am
wichtigsten wäre, bacterielle Beimengungen zurückzuhalten, häufig dienen
sogar die kleinen Hausfiltrirapparate, weil sie nicht genügend rein gehalten
werden, noch zur Verschlechterung des Wassers, während allerdings die
meist aus Kies und Sand in einer Gesammtmächtigkeit von 1*5 m bestehenden
Filteranlagen für Wasserwerke im Grossen bedeutend besser functioniren.
Es waren z. B. in dem der Stadt Mertys Tydfil gehörigen Filterwerke
folgende Resultate erzielt:
1
Gelöst |
Suspendirt
organ. | organ. 1
Kohlenstoff | Stickstoff
organisch
mineral
1
Summa
Vor dem Filtriren . . 1
Nach dem Filtriren . ,
12-82 '\ 9*52
1 1 23 0-31 '
| 656
78-8 144-4
Spuren
*) Wolffliügel, Wasserversorgung, S. 211 ff.
Vierteljalirsschrift fUr GesundhciUpflege, 1902. ]g
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274
Dr. A. Noder,
Derartige Reinigungsanlagen werden nun auf dem Lande wohl selten
verwendet, schon weil dieselben sehr kostspielig sind. Sie finden ihre
Hauptanwendung hei städtischen Wasserwerken, wenn es auf andere Weise
nicht möglich ist, genügend reines Wasser zur Versorgung zu gewinnen.
Auch im Gebrauche seihst unterscheiden sich Land und Grossstadt in
so fern, als auf der einen Seite ein Zuviel, auf der anderen ein Zuwenig zu
constatiren ist. Die persönliche Reinlichkeit und Hautpflege ist in den
Städten gewöhnlich eine bessere als auf dem Lande. Während in Russland,
im ganzen Orient das Baden eine allgemein verbreitete Volkssitte ist, gilt
es in Deutschland als eine Art Liebhaberei der bemittelten Kreise. Nach
Lassar x ) nimmt im westhavelländischen Kreise jeder Einwohner im Durch¬
schnitt alle 38 Jahre ein Bad! Aehnliche Verhältnisse herrschen aber fast
überall in den bäuerlichen Gegenden, besonders wird das Wannen- oder
Douchebad fast vollkommen vermisst, da es, wie Renk nachweist, hei den
in Deutschland bestehenden Wohnungsverhältnissen ungeheuer schwierig
ist, in den Wohnungen selbst Badecabinete zu errichten, deren Wände und
Boden nicht beständig feucht wären, und welche nicht ihre Feuchtigkeit so¬
wie die ihrer Luft anderen Wohnräumen mittheilten 2 ). Auch der Kosten¬
punkt der Heizanlagen ist im Allgemeinen für die Minderbemittelten uner¬
schwinglich, daher obliegt es nach Renk der öffentlichen Gesundheitspflege,
zur Ermöglichung einer ausgiebigeren Hautpflege, als sie von den meisten
Menschen geübt wird, Badeanstalten, welche Jedermann zugänglich sind,
zu errichten 8 ). Die einzigen derartigen Einrichtungen auf dem Lande be¬
stehen nun, wenn überhaupt solche bestehen, meistens nur in Erbauung
einer Bank oder eines Bretterverschlages an einer geeigneten Stelle eines
Flusses oder Baches, welcher im Sommer den Genuss eines Freibades er¬
möglicht. Häufig ist aber auch nicht einmal diese Bequemlichkeit vor¬
gesehen, sondern Wahl des Platzes und Wassers Jedem, der Lust hat —
und wie Wenige sind dies! —, überlassen. In den Grossstädten dagegen
sind öffentliche Bäder keine Seltenheit, der allgemeine Gebrauch derselben
ist aber in Folge der ziemlich hohen Preise für den kleinen Mann ebenfalls
meist ausgeschlossen gewesen. Erst in neuerer Zeit macht sich durch die
Errichtung von Volksbädern auch in dieser Hinsicht eine bessere hygienische
Stellungnahme zu dieser wichtigen Seite des Volkswohles bemerkbar.
Herrscht also hier ein reichliches Maass der Wasseranwendung in der Gross¬
stadt, so wird allerdings in anderer Weise dieselbe manchmal beschränkt
dadurch, dass das Wasser nicht, wie auf dem Lande, frank und frei ist und
von Jedem, sofern er es benutzen will, in unbegrenzter Menge verbraucht
werden kann, sondern Geld kostet und in gewissem Sinne zugemessen wird
(continuirliches und intermittirendes Abgabesystem, Verbrauchseinschätzung
und Wassermesser). Dies macht sich weniger für den Gebrauch des Trink-
und Kochwassers, welches ja überhaupt nur nach Bürkli 4 ) 1 Proc. des ge-
sammten Wasserbedarfes, nach König-Poppe ein Fünftel bis ein Sechstel
desselben ausmacht, bemerkbar, sondern für die Verwendung als Nutzwasser
1 ) Lassar, Die Culturaufgaben der Yolksbäder. 1889.
2 ) Renk, Volksbäder, Handbuch der Hygiene, II, S. 2.
3 ) Renk, 1. c., ß. 407.
A ) Wolffhiigel. 1. c., S. 193.
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Die Gesundheitsverhältnisse in Grossstädten und auf dem Lande. 275
zur Reinigung der Wäsche, Böden, Geschirre u. s. w. Ich glaube, dass hierin
auf dem Lande, soweit die gleichwerthigen Bevölkerungsschichten in Betracht
kommen, weniger gespart wird als in den Städten, woselbst häufig schon
durch die Hausordnungen jede Verwendung von heissem Wasser in der
Wohnung untersagt und damit manchem Reinigungstrieb die Entfaltung
genommen wird.
Ueber die Hautpflege, welche durch häufigen Wechsel der Wäsche und
Kleidung geübt wird, ist nicht viel zu sagen, da bei dem kleinen Mann hier
vielfach der Kostenpunkt (geringer Wäschevorrath, Ersparnis der Wäsche¬
kosten) in Betracht kommt, und dieser hei beiden Bevölkerungsschichten
gewöhnlich den Ausschlag giebt. Bei den wohlhabenden Klassen aber steht
wohl der Bauer in dieser Hinsicht dem Städter, welcher viel auf reine
Wäsche und wechselnde Kleidung giebt, bedeutend nach, wodurch auch in
hygienischer Beziehung ein wenn auch kaum zu allgemeinen somatischen
Störungen sich entwickelnder nachtheiliger Standpunkt bedingt wird.
Betrachten wir nun schliesslich noch die letzte Gruppe der Factoren,
welche den Unterschied zwischen den individuellen Verhältnissen der Stadt
und des Landes bewirken, nämlich
5. Die socialen Verhältnisse,
so finden wir deren gesundheitlichen Einfluss nach den verschiedensten
Richtungen hin bethätigt. Vorerst sind es die Unterschiede der Erziehung,
welche schon die jugendlichen Gesundheitszustände berühren und zwar die
körperlichen wie die psychischen. Man macht seit der von Lorinser im
Jahre 1836 erhobenen Anklage gegen die Schule dieselbe für die mannig¬
faltigsten Schädigungen verantwortlich, und es unterliegt nach Erismann 1 )
keinem Zweifel, dass in der That eine Reform des gesammten Schulwesens
ein unabweisbares Bedürfniss geworden sei, wenn nicht die lernende Jugend
geistig und körperlich arg geschädigt werden solle. Ueber das Wie und
Warum fehlen aber wissenschaftliche Anhaltspunkte noch so sehr, dass es
eines langen, weiteren Zusammenarbeitens von Aerzten und Lehrern bedarf,
um hier exacte Werthe zu schaffen. Schon was die körperlichen Nachtheile
des Schullebens betriflt, ist keine Uebereinstimmung und Exactheit vorhanden.
Ernährungs- und Circulationsstörungen sind zwar von manchen beobachtet,
aber nicht allgemein erwiesen; ebenso Disposition zu Lungen- und Geistes*
krankheiten und skoliotischen Verkrümmungen; dagegen ist für die Myopie
der Zusammenhang des Leidens mit der Schule zweifellos und überein¬
stimmend von zahlreichen Forschern festgestellt 2 ). Es war vor Allem
Herrmann Cohn, welcher hier die grundlegenden Untersuchungen vor¬
genommen hat und fand, dass die Augen aller Kinder eigentlich hyper-
metropisch sind und sich der Refractionszustand derselben erst im Lauf der
Schuljahre ändert. Die Richtigkeit dieser Annahme ergab sich namentlich
bei den ländlichen Schülern, welche sich (240) nach Atropinisirung ohne
Ausnahme als hypermetropisch erwiesen. Es wurde von Cohn aber fest¬
gestellt, dass in den Dorfschulen überhaupt die entstehende Myopie nicht
in der Häufigkeit vorhanden war als in den städtischen. Er fand in Dorf-
l ) ErUmann, Schulhygiene. Handbuch der Hygiene, II, 2, S. 81.
*) Erismann, 1. c. S. 25 u. ff.
18 *
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Dr. A. Noder,
schulen 1*4 Proc., städtischen Elementarschulen 6*7 Proc., höheren Töchter¬
schulen 7*7 Proc., Mittelschulen 10*3 Proc., Realschulen 19*7 Proc. und
Gymnasien 26*2 Proc. Myopen, so dass also ein Abstand von 5 Proc. zwischen
den ländlichen und grossstädtischen Schulen hier zu erkennen ist.
Eine andere Schädigung liegt nach Scholtz 1 ) für die ländlichen
Schüler in dem Umstande, dass sie in schwach bewohnten Bezirken durch
Zusammenlegen mehrerer Dörfer zu einer Schule oft sehr weite Wege bei
schlechtem Wetter und in einer den Unbilden desselben nicht widerstands¬
fähigen Kleidung zurücklegen müssen und sich dadurch vielen Erkältungs¬
krankheiten aussetzen. Endlich stimmen alle Autoren darin überein, dass
die Schulbauten auf dem Lande schlechter bedacht sind als in der Mittel¬
und Grossstadt, was theilweise (nach Kloss, 1. c., S. 450) auf die Mittellosig¬
keit der ärmeren Gemeinden, theilweise auf bäuerliche Unbelehrbarkeit und
Verbohrtheit in alte Ansichten zurückzuführen (Scholtz) sei. „Wer aus
einer grösseren Stadt“, bemerkt der letztgenannte Autor, „mit ihren schönen,
allen Anforderungen moderner Bauart entsprechenden Schulhäusern aufs
Land in ärmere Gegenden kommt, dem macht sich der Unterschied zwischen
diesem und der Dorfschule recht eindringlich bemerkbar. Vielerorts existiren
noch jene kleinen, ebenerdigen, zur Hälfte als Lehrerwohnung, zur anderen
zu Schulzwecken eingerichteten Häuser, denen man es von aussen nicht an-
sehen möchte, zu welchen Zwecken sie dienen. Zwar entfällt auf dem Lande
der anämisirende Einfluss der Schulstube, indem der Unterricht meist nur
wenige Stunden des Tages beansprucht, und die Kinder durch ausreichende
Bewegung in frischer Luft die schädlichen Einflüsse auszugleichen vermögen,
allein der Mangel an Raum, die unzulängliche Belichtung und der Aufent¬
halt in den namentlich im Winter schlecht oder gar nicht ventilirbaren
Zimmern sind genug Momente, um die Aufmerksamkeit des Hygienikers auf
sich zu lenken“ 2 ).
Mit diesen Worten ist beinahe das ganze Unterscheidungsresultat der
beiden Verhältnisse niedergelegt, und wenn auch nach Erismann an die
Schülerzahl und den Luftcubus der Dorfschulen geringere Maasse angelegt
werden dürfen als an städtische (erstere etwa 70 Schüler gegen 35 bis 50
und 3 cbm gegen 6 bis 7), so ist doch zweifellos, dass auch innerhalb dieser
Grenzen die Zustände noch schwanken und für das Land allgemein schlech¬
ter sind als für die Grossstadt 3 ).
Haben wir im Vorhergehenden die Schule, d.i. die tägliche Vereinigung
von so und so vielen Kindern auf einem Platze u. A. auch als ein gefähr¬
liches Moment erkannt in Bezug auf die Verbreitung ansteckender Krank¬
heiten, so trifft dies in gleichem Maasse die Stadt selbst als Vereinigungs¬
punkt vieler Menschen, als Gipfelpunkt des bürgerlichen Verkehrs. Durch
die Intensität desselben unterscheidet sich ja die Grossstadt wesentlich vom
platten Lande, und die gesundheitlichen Einflüsse desselben gestalten sich
daher auch wesentlich intensiver in Bezug auf die beiden Bevölkerungs¬
gruppen. Der Städter legt im Allgemeinen täglich viel längere Wege von
’) Scholtz, 1. c., S. 330.
*) Scholtz, 1. c., S. 330.
3 ) Erismann, 1. c., S. 41 u. 42.
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Die Gesundheitsverhältnisse in Gressstädten und auf dem Lande. 277
und nach Hanse zurück als der Landbewohner, weil die Entfernungen in
den Grossstädten bedeutender sind. Indem er diese Entfernungen möglichst
zu kürzen sucht, wird er hastiger, aufgeregter und zu dieser schon durch
den Satz: „Zeit ist Geld a bewirkten Aufregung gesellen sich die übrigen
Factoren des Verkehrs: Die stete Geistesgegenwart und gespannte Aufmerk¬
samkeit, welche das Straspenleben der Grossstadt erfordert, um den Gefahren
desselben auszuweichen, die Einathmung schlechter staubiger Luft und das
oftmalige Treppensteigen, welche wir bereits erwähnten, die vielfache Be¬
rührung mit Personen und Gegenständen, welche gesundheitsschädlich sein
können, hier vor Allem die Infection mit ansteckenden Krankheiten. Alle
diese schädigenden Einflüsse fehlen dem ländlichen Verkehr fast vollständig
und werden namentlich durch den steten Aufenthalt in der Luft noch in
weitere Ferne gerückt; sie werden aber in der Stadt theilweise durch die
Verkehrsmittel (Fuhrwerke, Tram- und Strassenbahnen, elektrische und an¬
dere Aufzüge, Strassenaufsicht und Aehnliches) aufgehoben, mehr allerdings
zu Gunsten der reicheren als der ärmeren Bevölkerung.
Was die Beschäftigung betrifft, so muss ebenfalls die ländliche im all¬
gemeinen Sinn als gesünder erachtet werden, als die grossstädtische. Sie
spielt sich während ihres grössten Theiles in der, noch dazu durch die Arome
der Vegetation genussreicheren, durch ihre Bewegung rascher erneuten
Aussenluft ab, während der Städter umgekehrt den grössten Theil seines
Lebens Stubenluft athmet und einer alle Muskeln und Sinnesorgane gleich
beschäftigenden Thätigkeit ermangelt. „Dieser Factor spielt zweifellos eine
ganz erhebliche Rolle 1 ). Man vergleiche die colossalen Unterschiede, welche
in England Industriestädte, wie Manchester, Liverpool, den ackerbautreiben¬
den Districten, den healthy districts , gegenüber aufweisen. So starben im
Durchschnitt der Jahre 1849 bis 1853 von je 1000 Lebenden:
In 51 healthy districts .... 17*5 Männer 16*2 Frauen
„ Manchester.35*4 „ 30*5 „
„ Liverpool.40*9 „ 36*3 „
Desshalb tritt dieser Unterschied namentlich im erwerbsfähigen Alter und
in erheblicherem Grade beim männlichen, als beim weiblichen Geschlecht
auf.“ Auch Finkelnburg weist bei der Besprechung der Mortalitätsunter¬
schiede zwischen Stadt und Land, auf welche wir zum Schlüsse noch ein-
gehen werden, daraufhin, „dass gerade die hohe Tuberculosesterblichkeit der
Städte ihren Grund in den bei der Stadtbevölkerung vorherrschenden Be¬
schäftigungsweisen findet und dass die aus dem blossen Aufenthalt in der
Stadt erwachsenden Einflüsse dabei nur eine untergeordnete, vielleicht gar
keine Rolle spielen“. Auch die Unfallstatistik und Gewerbehygiene erweist,
dass zahlreichere Gesundheitsbeschädigungen durch den Fabrik- und Ge¬
werbebetrieb als durch ländliche Arbeiten erfolgen. Betrachtet man z. B.
nur die von Hirt 2 ) zusammengestellten Fälle von Staubinhalationskrank¬
heiten — chronischen Bronchialkatarrh, Emphysem, Pneumonie und Phthise —,
so findet man das bedeutende Ueberwiegen fabrikstädtischer Berufsarten in
einem so horrenden Maasse, dass fast alle Erkrankungen auf diese, nur ein
geringer Procentsatz aber auf solche Arbeiter trifft, die als ländliche be-
') Oldendorff, im Handbuch der Hygiene v. Weyl, IV, 1, 8. 2.
*) Hirt und Merkel, Gewerbekrankheiten. Handbuch der Hygiene.
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278 Dr. A. Noder,
zeichnet werden könnten (Tagelöhner, Strassenkehrer). Rechnet man näm¬
lich zu den ersteren (Gruppe I) alle Staubarbeiter, welche nach Hirt von
metallischem, mineralischem, vegetabilischem und animalischem Staube, zur
letzteren (Gruppe II) alle, welche von Staubgemischen und keinem Staub
angegriffen waren, so ergeben sich folgende Unterschiede:
Es litten on:
Gruppe I Gruppe II
chronischem Bronchial-Katarrh . . 58*4 Proc. 18’4 Proc.
Emphysem.19*8 „ 5*1 „
Pneumonie.30*4 „ 6*0 „
Phthisis.87*3 „ 22*6 „
Eine weitere Schädigung der Gesundheit bewirken die grossstädtischen
Berufe auch durch das vielfache Hereinziehen der Frauen- und Kinder¬
arbeit, sowie der Nachtarbeit. Alle Gefahren, die schon für die Erwachsenen
GeBundheitsschädigungen herbeiführen, sind doppelt schädlich für das Kind.
Die Beschäftigung in monotoner Arbeitsstellung, die Ueberanstrengung,
hemmen und stören das normale Wachsthum. Knochenverbildungen, Scrophu-
lose, Lungenkrankheiten sind häufig. Die ungenügende Erfahrung der
Kinder führt viele traumatische Schädigungen herbei. Wird das Kind schon
frühzeitig zur Fabrikarbeit zugelassen, so leidet auch die Schulerziehung
desselben, die Jugend verwildert, wird roh 1 ). Auch Frauen, namentlich
schwangere, sind durch die Fabrikarbeit gefährdet. Frühgeburten und grosse
Kindersterblichkeit zeigen sich in vielen Betrieben häufig. Nicht nur die
Frau und ihre Nachkommenschaft leidet unter der Anstrengung und den
unsanitären Verhältnissen der Fabrik (Rubner, 1. c., S. 741). Eine weitere
Folge der Frauenarbeit ist sehr häufig auch die, dass denselben nicht ge¬
nügend Zeit zur Bereitung des Essens bleibt, dass also die Gesammternäh-
rung entweder verschlechtert, oder wenn der Arbeiter damit auf das Wirths-
haus angewiesen ist, die Lebenshaltung erschwert und der Sinn für
Häuslichkeit und Familie untergraben wird.
Wir kommen damit auf eine weitere Differenz zwischen Stadt und
Land — auf den Pauperismus, das Proletarierwesen und seine Folgen, den
bei dem Schlafstellen- und Aftermiethwesen überhand nehmenden Geschlechts¬
verkehr, die Prostitution, die unehelichen Geburten, kurz die moralischen
Gesundheitsschädigungen, welche zweifellos in den Städten überwiegender
sind als auf dem platten Lande. Begünstigt werden diese Verhältnisse
durch die Wohnungsdichtigkeit und Lebensweise, durch die Erwerbs- und
Lohnverhältnisse und endlich durch die sittlichen Anschauungen der be¬
treffenden Kreise. Was erstere betrifft, so haben wir schon bei dem Capitel
Wohnung auf diese Einflüsse in den Städten hingewiesen, andererseits aber
auch ähnliche Zustände auf dem Lande anzuführen Gelegenheit gehabt; es
ist auch fraglos, dass bei Wohnungsnoth und engem Zusammenwohnen die
Verhältnisse sich hier nicht viel anders gestalten werden als in der Grossstadt;
die Erwerbs- und Lohn Verhältnisse sind im Allgemeinen in den Städten
bessere als auf dem Lande; der dadurch hervorgerufene Massenzuzug von
Arbeitskräften wirkt aber dann im Besondern lohn- und erwerbsmindernd,
so dass namentlich bei den gesteigerten Lebensansprüchen und höheren
l ) Rubner, Hygiene, S. 740.
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Die Gesundheitsverhältnisse in Gressstädten und auf dem Lande. 279
Wohnungspreisen der Verdienst nicht mehr mit den Ausgaben in Einklang
steht, der Arbeiter in immer billigere und elendere Wohnungen (Mansarden,
Keller) und zu immer schlechterer Kost (Pferde-, Hundefleisch, Surrogaten,
Schnaps) gedrängt wird und schliesslich die Kraft und Lust zur Arbeit,
damit aber auch bald die Arbeit selbst einbüsst, physisch und psychisch
degenerirt. Die sittlichen Anschauungen endlich sind insofern anders, als
auf dem Lande mehr dem ausserehelichen, in der Stadt dem Prostitutions¬
geschlechtsverkehr gehuldigt wird. Durch ersteren wird die Zahl der un¬
ehelich Gehörnen, aber auch die Kindersterblichkeit vermehrt, denn je grösser
die Zahl der unehelichen Kinder, desto grösser ist auch die Kindersterblich¬
keit und auch unter sonst gleichen Verhältnissen die allgemeine Sterblich¬
keit, wie aus folgenden Ziffern ersichtlich.
Von je 100 in — bezw. 100 ausser der Ehe lebendgebornen Kindern
starben im 1. Lebensjahre in
Bayern . . . (1876 bis 1880) 28*52 eheliche 38*29 uneheliche
Sachsen. (1865 „ 1883) 26*60 „ 35*22 B
Württemberg . (1876 „ 1882) 30*33 „ 37*59 „
Besonders ersichtlich wird aber dies Verhältniss in Ländern mit vor¬
wiegend landwirtschaftlicher Beschäftigung wie
Ostpreussen .... mit 20*3 ehelichen 37*9 unehelichen
Westpreussen ... „ 20*8 „ 43*0 „
Posen .... „ 19*3 „ : 42*7 „
während Berlin ein Verhältniss von 21:28 aufwies 1 ).
Andererseits aber bewirkt die Prostitution, indem sie zwar den ausser¬
ehelichen Verkehr von den Frauen und Mädchen ablenkt, eine Zunahme
der syphilitischen Erkrankungen durch Weiterverbreitung, welche nicht
minder evident ist.
Nach Pistor 2 ) waren 1885 von 12450 Prostituirten syphilitisch 1101,
60 Syphilitische in Polzeigewahrsam,
1886 von 14 438 : 1129 und 55
1887 „ 13 358:1174 „ 30
1888 „ 16 258:1577 B 23
Von 195 724 Mitgliedern des Gewerkkrankenvereins waren 8327 = 4*2Proc.,
von den Soldaten der Berliner Garnison 508 = 2*3 Proc. syphilitisch.
Den angeführten Uebelständen stehen nun, wie schon mehrere Male
gelegentlich der Besprechung der einzelnen Abschnitte bemerkt werden
musste, Vorkehrungen und Verbesserungen hygienischer und polizeilicher
Natur gegenüber, welche im Allgemeinen den Städten mehr als dem Lande
zu Gute kommen. Wir haben die Bauordnungen und Bebauungspläne in
der Wohnungshygiene, die Trink- und Sielwasserverbesserungen, die Abfuhr
und Entfernung des Unraths, die grossen Abdeckereien, die Leichenhallen
und Friedhofsanlagen, die Einrichtung öffentlicher Bäder, die Schaffung ge¬
sunder Schullocale, die Erleichterungen im Verkehr u. dergl. bereits erwähnt,
wir dürfen aber auch den rein gesundheitlichen Schutz, der in der Errich¬
tung grosser Kranken- und Gebäranstalten, in der zahlreichen Niederlassung
l ) Bähts in Dammev’s Lexikon, Sterblichkeit.
*) Pistor, General-Bericht über das Medicinal- und Sauitätswesen der Stadt
Berlin 1883/1888.
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280
Dr. A. Noder,
von Aerzten, in der Stiftung von Waisen-, Findel- und Erziehungsanstalten
aller Art der Grossstadt zu Gute kommt, nicht vergessen. Mehr als auf dem
Lande wird gegen alle gesundheitlichen Schädigungen theilweise abwehrend,
theilweise vorkehrend Front gemacht, und eine Menge segensreicher Ein¬
richtungen sucht der ungünstigeren hygienischen Stellung der Stadt gegen¬
über dem Lande ihre Schärfe zu nehmen.
III. Morbidität und Mortalität.
Es erübrigt uns nunmehr noch, unserm Plane folgend, an der Hand
der statistischen Beweiserhebung die Summe alles dessen zu ziehen, was im
Vorhergegangenen über die gesundheitlichen Verhältnisse der beiden Ver¬
gleichsobjecte niedergelegt ist, und diese Beweiserhebung beruht auf zwei
statistischen Systemen: auf der Statistik der Morbidität und der Mortalität.
Die erstere, welche eigentlich den genauesten Aufschluss über Gesund¬
heitsverhältnisse geben würde, ist schwierig und ungenau, da sie nur in den
seltensten Fällen allgemein durchgeführt und keineswegs auf alle Krank¬
heiten ausgedehnt ist. Wir besitzen in Deutschland nur eine Pockenstatistik
und eine Statistik für ansteckende Krankheiten, zu welchen beiden jeder
Arzt, ja auch jeder Laie verpflichtet ist; beide sind aber für das allgemeine
Vergleichungsgebiet, um welches es sich handelt, ungenügend. Ebensowenig
eignen sich die Statistiken der Krankenhäuser, wie der Armee und Marine
zum vorliegenden Zweck. Dagegen habe ich versucht, aus den Morbiditäts¬
sammelberichten für Schwaben aus den Jahren 1895, 1896, 1897 und 1898
wenigstens über das Verhalten von Stadt und Land zu den Infectionskrank-
heiten Aufschluss zu erhalten und werde diesen Versuch, da er in einigen
wesentlichen Punkten von den Ergebnissen anderer Forschungen ab weicht,
erst am Schlüsse der Arbeit zur Verwerthung bringen. Diese anderen Er¬
gebnisse aber beziehen sich nicht auf die Morbidität, sondern auf die Morta¬
lität und sind insofern unantastbarer, als in den Leichenschauscheinen des
gesammten Reiches ein so sicheres und allgemein zugängliches Material zu
Grunde liegt, dass für alle vorkommenden Fragen (nach Alter, Beruf, Land,
Familienstand etc.) aus denselben Aufschluss zu erhalten ist.
Betrachten wir also die gestellte Frage: „Welchen Unterschied zeigeu
die Gesundheitsverhältnisse in Grossstädten gegenüber dem platten Lande?“
im Lichte der Mortalitätsstatistik, so ergeben sich folgende Aufschlüsse:
Die Sterbeziffern pro 10 000 Einwohner in Preussen (1849 bis 1880)
waren durchschnittlich auf dem Lande 280, in den Städten 304; in England
195 und 242; in Italien (1862 bis 1880) 287 und 327. Diese Zahlen sind
die Durchschnittsziffern aus den Sterbeziffern der einzelnen (32) Jahre, und
die Schwankungen dieser Einzelziffern betrugen im arithmetischen Mittel für
Staat
Stadt
| Land
i
Proc. |
d. mittleren
Sterbeziffer j
Proc.
d. mittleren
Sterbeziffer
Preussen.
27-8
91
18-3
6*5
England.
10*0
413
8’0
410
Italien.
21-8
6-7
13*8
i
4*8
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Die GesundheitBverhältnisBe in Gressstädten und auf dem Lande. 281
woraus hervorgeht, dass 1. die Sterblichkeit auf dem Lande im Durchschnitt
niederer ist als in den Städten; 2. die Sterblichkeitsschwankungen im Ganzen
und Grossen parallel sind 1 ). Der Procentsatz, um welchen die Städter¬
sterblichkeit höher ist als die ländliche, beträgt somit in Preussen 2*4 pro
Mille, in England 4*7 pro Mille und in Italien 4*0 pro Mille, und dieser
Unterschied gewinnt noch an Bedeutung, wenn man erwägt, dass in Folge
steten Zuströmens der lebenskräftigsten Bevölkerung in den Städten ein
wesentlich höherer Bestand von Leuten des mittleren Alters vorhanden ist,
als auf dem Lande. Für diese Thatsache ist aber weniger der Aufenthalt
allein ausschlaggebend, als vielmehr eine Reihe wirthschaftlicher und socialer
Einflüsse. Vor Allem die Beschäftigung. Nach Finkelnburg bildet den
bedeutsamsten Wendepunkt für den Gegensatz städtischer und ländlicher
Gesundheitsverhältnisse das Alter beginnender Berufsarbeit, das 16. bis 20.
Lebensjahr. Vom 16. Jahre an beginnt ein rasch zunehmendes Uebergewicht
der Sterblichkeit bei der Stadtbevölkerung, welches indess zum weitaus
grössten Theile auf Rechnung des männlichen Geschlechtes kommt. Diese
Mehrsterblichkeit wird aber zunächst fast ausschliesslich durch das Auftreten
der Lungentuberculose bedingt, wie sofort sichtbar wird:
Die Sterblichkeit (auf 1000 Lebendgeborene) in der Rheinprovinz
betrug:
Im Begierungsbezirk |
in den Städten
auf dem Lande
Düsseldorf..
25’7
23-5
Aachen.
26*4
24*7
Köln.
27*3
25*9
O oblenz.
25*2
25*4
Trier.
22*4
| 24*2
I
Das heisst: In den mit industriellen Arbeitern gefüllten Städten der Kreise
Düsseldorf, Aachen und Köln überwog die städtische Sterblichkeit; dies
kehrte sich aber bei Coblenz und Trier geradezu um, weil in diesen Bezirken
hauptsächlich die ländliche Bevölkerung in industriellen Betrieben beschäf¬
tigt ist. Noch deutlicher erscheint nun dieser Einfluss der Beschäftigung,
wenn man die Mortalität an Tuberculose vergleicht.
Es starben daran (pro 1000 Lebende):
Begierungs bezirk
| in den Städten
auf dem Lande
männlich
weiblich
männlich
weiblich
Köln..
6-0
3-9
57
5*1
Düsseldorf.
6*4
4*7
5*7
50
Aachen .
4*3
3*2
4*7
4-5
Coblenz. .
4'5
41
! 4*7
4*2
Trier.
3*8
3*4
1 3*7
!
3*5
!
l ) Oldendorff, Die periodischen Sterblichkeits-Schwankungen, ihre Gesetze
und Ursachen. Centralbl. f. allgem. Gesundheitspfl., II, 1, 1885.
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282
Dr. A. Noder,
so dass die Männer in den Städten, die Frauen auf dem Lande häufiger an
Tuberculose zu Grunde gingen. Wenn der Aufenthalt in der Stadt allein
hieran schuld wäre, so mussten die Frauen davon ebenso betroffen sein, wie
die Männer; dies ist aber nicht der Fall, vielmehr zeigt sich auch hier
wiederum, dass sogar dort, wo die industrielle Beschäftigung sich auf die
ländlichen Bezirke hinaus erstreckt, die Tuberculosesterblichkeit dann auch
auf dem Lande höher wird (vide Coblenz und Trier). Die gleichen Erfahrungen
sind fernerhin gemacht für Preussen überhaupt, wo die gleichen Ziffern be¬
tragen in den Stadtgemeinden männliche 3*8 pro Mille, weibliche 3*0 pro
Mille, in den Landgemeinden männliche 3*3 pro Mille, weibliche 2*9 pro Mille.
In der Schweiz (Vogt, Zeitschr. f. Schweiz. Statist. 1887, 1888) betrug die
mittlere allgemeine Sterblichkeit und die mittlere Sterblichkeit an Lungen¬
schwindsucht:
Berufsart !
i
| allgemeine
Sterblichkeit
Sterblichkeit an
Tuberculose
Landwirthschaftliche Arbeiter.
110
18
Fabrikarbeiter.
138
41
Höher Gebildete..
151
42
i
Handwerker:.
160
43
Handels- und Verkehrsangehörige . . . .
164
i
40
woraus ebenfalls die geringere Tuberculosesterblichkeit des Landbewohners
hervorvorgeht. Eine ähnliche Aufklärung giebt folgende englische Tabelle:
Es starben im Alter von 25 bis 65 Jahren:
Berufsart
überhaupt
an Tuber- ■
j culose
an anderen
Lungen¬
krankheiten
Fischer.
1 797
108
1 90
Bauern.
644
115
122
Krämer.
771
, 167
116
Tuchhändler.
j 883
301
I 129
Schneider.
l 1051
285
186
Buchdrucker.
1071
461
1
166
l
d. h. die im Freien arbeitenden Berufe waren auch hier an günstigster Stelle.
Die anderen Lungenkrankheiten, Pneumonie, Kehlkopf- und Bronchialerkran¬
kungen, scheinen indessen nach Finkelnburg weniger mit der Beschäf¬
tigung als mit anderen Einflüssen zusammenzuhängen, da sie Männer und
Frauen in gleichem Maasse betreffen. So waren es in der Rheinprovinz
hauptsächlich die Städte mit massenhafter Steinkohlenfeuerung (Essen,
Bochum, Duisburg, Dortmund), in denen diese Krankheiten zu ungewöhn¬
licher Höhe anstiegen, wobei erinnerlich, dass nach Smith in der Luft über
den grossen Fabrikstädten Englands freie Salz- und Schwefelsäure in ziem¬
licher Menge gefunden wird *).
*) Renk, Die Luft.
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Die Gesundheitsverhältnisse in Gressstädten und auf dem Lande. 283
Wie schon erwähnt, bildet aber die Erwerbsweise nicht den einzigen
Grund der höheren Mortalität der Städte. Betrachtet man die Todesursachen¬
tabellen, so findet man vor Allem die Krankheiten des Säuglingsalters und
gewisse Infectionskrankheiten überwiegen, wie aus folgender Tabelle her¬
vorgeht :
Es starben (auf 10 000 Lebende berechnet) 1877:
Name der Krankheit
auf dem Lande 1
i in den Städten
Preussens
Bayerns
Preussens
Bayerns
Männl. 1
l
Weibl.
Männl.
Weibl.
Lebensschwäche.
13*58
10*39
18*9
12*79
10*24
19*1
Durchfall | (
154
1*18
15*6
7*10
5*75
28*3
Abzehrung > der Kinder . j
8*01
7*58
25*8
10*46
9*79
33*9
Fraisen j (
—
—
52*0
—
—
27*4
Typhus .
6*04
5*49
5*4
6*35
5*90
9*2
Kindbettfieber.
—
—
1*4
5*03 |
4*16
1*6
Blattern.
0*04
0*04
3*8
0*04 1
0*02
4*2
Scharlach.
8*21
7*28
6*8
8*28
7*37
4*3
Masern.
5*45
4*97
2*0 1
3*43
3*38
1*8
Keuchhusten.
7*09
7*30
7*2
4*46
5*48
3*5
Diphtherie.
19*21 !
16*64
10*3
14*00
13*20 !
7*5
Brustfellentzündung . . .
12*28
8*87
20*7 I
j 20 73
16*79
26*9
Tuberculose.
31*96
26*63
21*2
i 42 76
32*00 |
45*3
Organisches Herzleiden .
0*93
0*94
4*0 |
3*03
3*38
9*0
Gehirnschlag.
11*08
7*80
9*2
15*33
11*54
12*3
Altersschwäche.
26*06
29*63
26*0
15*77
22*38
20*9
Das Ueberwiegen dieser Krankheiten weist aber darauf hin, dass die
zweite Ursache der Mehrsterblichkeit der Städte zu suchen ist in dem da¬
selbst gedrängten Zusammenleben der niedern socialen Schichten in unzu¬
reichenden mangelhaften Wohnungen und der damit gegebenen bald grösseren,
bald geringeren Verunreinigung von Luft, Boden und Wasser (Oldendorff,
1. c.). Die Kindersterblichkeit zunächst ist in der ersten Lebenswoche noch
auf dem Lande etwas grösser als in den Städten, was (Finkelnburg) theil-
weise mit dem zu frühen zur Taufe tragen bei ungünstigem Wetter zu¬
sammenhängt. Vom zweiten Lebensmonat an beginnt aber mehr und mehr
das Uebergewicht der städtischen Kindersterblichkeit, und vom sechsten an
ist dies so allgemein der Fall, dass die Gesammtsterblichkeit des ersten
Lebensjahres absolut davon beeinflusst ist, wie aus folgenden zwei Tabellen
hervorgeht:
Von je 100 im ersten Lebensjahr gestorbenen Kindern in Preussen waren
im Alter bis
in Gross¬
städten
in Klein¬
städten
im Alter bis
in Gross¬
städten
in Klein¬
städten
15 Tage ....
16*1
18*1
3 bis 4 Monat . |
10 0
9*1
V* bis 1 Monat .
9*0
9 0
4 bis 5 „ . .
8*2
7*8
1 bis 2 „ . .
12*5 j
11*8
5 bis 6 „ . .
6*8
6*3
2 bis 3 „ . .
10*7
10*7
6 bis 12 „ . .
26*8
27*6
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284
Dr. A. Noder,
Von 1000 Lebendgeborenen der Rheinprovinz (1875 bis 1877) starben
Alter |
in den Städten
auf dem Lande
in der 1. Woche.
20
23
im 1. Monat.
46
48
in den ersten 6 Monaten.
130
119
im 1. Jahr.|
188
167
Das Ansteigen des Uebergewichts beruht auf den gastrischen Kinder¬
krankheiten — Diarrhoe und Brechdurchfall —, welche besonders während
des Sommers in den Städten derartige Opfer fordern, dass z. B. in Berlin
zwei Drittel der Gesammtkindermortalität auf das Sommerquartal treffen.
Hier handelt es sich also um einen ganz durchschlagenden Einfluss des
Stadtaufenthalts, welcher um so stärker ist, je dichter bewohnt eine Stadt
ist. Dieser Einfluss macht sich (nach Finkelnburg) besonders bemerk¬
bar, wenn die socialen Verhältnisse ausserdem noch ungünstige sind, so dass
auch Landgemeinden mit verwahrloster Arbeiterbevölkerung die gleichen,
ja noch höhere Mortalitätsgrade aufweisen können, als die Stadt (wie bei
Trier: Stadt 18, Trier Land 24; Coblenz: Stadt wie Land 23 etc.). Aehn-
lich hat Geigel für Würzburg nachgewiesen, dass, während der II. und III.
District mit grösseren Strassen und wohlhabenderer Bevölkerung 5*3 und
5*7 Proc. Säuglingssterblichkeit aufwies, der V. District mit engen Gässchen
und schmutzigen, übervölkerten Häusern eine solche von 11*4 Proc. darbot
(Geigel, Kindersterblichkeit in Würzburg, Verein f. öffentl. Gesundheitspfl.
1871). Das gleiche oder vielmehr ein noch exorbitanteres Verhalten werde
ich später für Augsburg durch die schwäbische Morbiditätstatistik nachweisen.
Was die Infectionskrankheiten betrifft, so ist nach Oldendorff hervor¬
zuheben, dass sich hier bedeutende locale Verschiedenheiten zeigen. In
England überwiegen in den Städten sämmtliche Krankheiten dieser Klasse,
in Preussen zeigen Masern, Keuchhusten, Diphtheritis und in Bayern ausser¬
dem noch Scharlach eine Präponderanz des Landes, nicht der Städte. Be¬
sondere Bedeutung verdient vor Allem der Typhus, für welchen in Bezug
auf seinen Zusammenhang mit der Wohnungsdichtigkeit nachstehende Ziffern
bemerkenswerth sind.
Es erkrankten in Berlin bei einer Durchschnittseinwohnerzahl in einem
Hause von
42*2 Einwohnern an Typhus
42*7
45*1
46*3
50*4
57*5
n
TI
rt
rt
n
58*3
600
62*6
630
n
51
65*2
n
55
n
TI
51
51
n
51
51
n
0
1
2
3
4
5
6
Personen
51
n
n
ii
n
"51
8
9
10 bis 14
n
n
n
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Die Gesundheitsverhältnisse in Grossstädten und auf dem Lande. 285
7 2'4 Einwohner an Tvphns . .
. .
. 15
bis 19
Personen
90*3 „ n
.
. 20
. 24
T>
94*4 „ , . .
.
. 25
. 29
n
972 „ „ . .
.
. 31
» 53
T>
Dass übrigens die Wohuungsdichtigkeit allein dafür doch nicht maassgebend,
betont Finkelnburg, indem er daraufhinweist, dass in der Rheinprovinz
die Städte nicht so sehr nach dem Maass ihrer Bevölkerungsmenge und
-dichte, als vielmehr nach dem Verhältniss vorwiegender Arbeiterbevölkerung
und deren socialer Zustände, sowie nach dem Verhältniss öffentlicher Für¬
sorge (bezw. Vernachlässigung für Bodenreinigung und Wasserversorgung)
heimgesucht wurden. Wie berechtigt diese Annahme ist, ergiebt sich nega¬
tiv aus der schon erwähnten Herabminderung der Typhusmorbidität und
Mortalität für München l ), Berlin, Danzig und viele andere Grossstädte;
andererseits werde ich es durch die Morbidität Augsburgs gegenüber der
Schwabens auch positiv darzulegen im Stande sein.
Gehen wir noch weiterhin auf die Todesursachen ein, so finden wir so¬
wohl in der Gruppe der Herzleiden als der Apoplexieen ein reichliches Ueber-
wiegen der Städte, und auch dies ist recht gut zu erklären. Dass die Mehr-
sterblichkeit bei ersteren beide Geschlechter, sogar die Frauen etwas höher
als die Männer, betrifft, muss seinen Grund wiederum wie bei den Lungen¬
krankheiten (excl. Phthise) in einer gemeinsamen Ursache haben und diese
liegt auch nicht fern von der Hand. Sie ist eine doppelte und längst durch
praktische ärztliche Beobachtung constatirt. Einmal ist es die Blutarmuth
der städtischen Bevölkerung, von welcher wir wissen, dass sie durch Er¬
nährungsstörungen des Herzens häufig tiefere organische Veränderungen
einleitet, sodann die Nervosität, die nervösen Herzerregungen, welche als ein
bedeutendes Moment zu tieferen Herzstörungen erkannt sind (Finkeln¬
burg, 1. c.). Insofern ist sie eine Theilerscheinung der für die städtische
Hygiene im Allgemeinen so bedeutungsvollen Ueberreizung des Nerven¬
systems, der Neurasthenie, die aus den verschiedensten Factoren des gross¬
städtischen Lebens sich zusammenfügt. „Die unruhige Erregung der Sinnes¬
nerven durch grellere und wechselndere Eindrücke“, sagt der mehrfach
citirte Verfasser, „unter denen schon der Strassenlärm an sich eine unver¬
meidliche Stelle einnimmt, die beständigen Anreize zur Begehrlichkeit, zur
Genusssucht, zu Leidenschaften der edelsten wie der gemeinsten Gattung,
das fieberhafte Arbeiten unter der Peitsche der geschäftlichen und nicht
minder der gesellschaftlichen Concurrenz, die lebhafte Theilnahme an öffent¬
lichen Angelegenheiten und am Parteigetriebe, das rastlose Pflücken der
Zeit, welches selbst bei Mahlzeiten keine Gemüthsruhe aufkommen lässt,
alle diese Anstürme machen es nur zu leicht erklärlich, dass das Heer der
Nervenkrankheiten und insbesondere diejenigen des Gehirns und die Seelen¬
störungen eine weit stärkere Verbreitung und eine hartnäckigere Verlaufs¬
weise bei den Bewohnern der Grossstädte zeigen, als bei den Bewohnern
ländlicher Orte.“ Ganz ähnlich spricht sich Ziemssen 2 ) über die Neur-
l ) Soyka, Deutsche Vierteljahrsschrift für Gesundheitspflege, XIV, 1; Weyl,
Die Einwirkung hygienischer Werke auf die Gesundheit der Städte 1893.
*) Ziemssen, Klinische Vorträge, IV, ‘2.
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286
Dr. A. Noder,
asthenie aus und schreibt ebenfalls dem Grossstadtleben den hervorragend¬
sten Antheil an ihrer Entstehung und Vermehrung zu, wenn auch für die¬
selbe der statistische Nachweis der Frequenzzunahme nicht in dem Maasse
zu führen sei, wie für die Psychosen. Da die Neurasthenie selten bald zum
Tode führt, so ist aus der Mortalitätsziffer allerdings nichts für sie zu
eruiren; dagegen ist nach Finkelnburg zu erwarten, dass der Gegensatz
zwischen Stadt und Land sich in den Ziffern der Sterblichkeit an Gehirn¬
krankheiten wiederspiegele. In der That zeigt eine vergleichende Zusammen¬
stellung für den Zeitraum von 1875 bis 1879 in der Rheinprovinz folgende
Resultate:
Es starben an Gehirnerkrankungen von je 10 000 Einwohnern:
in den Städten
auf dem Lande
Männl.
Weibl.
Summa
1 Männl.
Weibl.
Summa
Rheinprovinz.
10*8
9*4
20*2
4’4
34
7-8
Köln.
12*5
in
23*6
1 5,1
4-0 J
9*1
Düsseldorf.
10-2
90 ;
• 19*2
5’4
4-8
10*2
Aachen.
9 7
* 7 8
17-5
30
29
59
Coblenz ... .
10‘3
81
18*4
4*2
25
6 7
Trier.
109
1 9'0
19 9
2*2
1 7
| 39
in Preussen.
! 98
75
17*3
| 32
2*6
5-8
in der Stadt Köln ....
135
1 12*3
25-8
—
—
in der Stadt Berlin . . .
14-6
10*9
1
25*5
1 1
—
1 “
Die Sterblichkeit an Gehirnleiden in den Städten übertraf also die auf
dem Lande um das Zwei- und Dreifache, ja sogar in Trier um das Sechs¬
fache und zwar in für beide Geschlechter ziemlich parallel laufendem Maasse.
Noch deutlicher wird dies, wenn man Köln Land der Stadt Köln allein ent¬
gegenstellt, wo in ersterem 9T, in letzterer 25*8 auf 10 000 Einwohner
starben, ebenso Berlin gegen Preussen (Land), wo die betreffenden Zahlen
25*5 gegen 5*8 betragen.
Endlich ist unter den Todesursachen noch die vorwiegende Bedeutung
der Nierenkrankheiten für die Morbiditätsdifferenz zwischen Stadt und Land
beachtenswerth, welche durch folgende Ziffern erläutert wird:
Es starben (1875 bis 1879) in der Rheinprovinz und Preussen auf je
10 000 Lebende
an Nierenkrankheiten:
|| in den Städten j
auf dem Lande
lj Männlich i
Weiblich
1 Männlich
Weiblich
Preussen ....
.i 2-8
i
! '7 ,
0*8
0-4
Rheinprovinz. .
.!' 19 !
1*4 '
, 0 5
0‘3
was ein Ueberwiegen der Städter um das Vierfache bedeutet und als directes
Symptom des stärkeren Alkoholmissbrauches derselben betrachtet werden
kann. Da aber nach der von der Harveyan Society angestellten Enquete die
Betheiligung der Alkoholiker an Nierentodesfallen noch gegen diejenige an
Tod durch Leber- und Verdauungskrankheiten zurücksteht, da der Alko-
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Die Gesundheitsverhältnisse in Gressstädten und auf dem Lande. 287
holmissbrauch namentlich auch das Hauptcontingent zur Irren-, Selbstmord-
und Verbrecherziffer stellt, welche hier gar nicht in Betracht gezogen sind,
so ist zweifellos, dass ein wesentlicher hygienischer Nachtheil der Gross¬
stadt auch in der Leichtigkeit der Erlangung
von
Alkohol liegt, wofür
nur noch folgende Ziffern anführen wollen.
Es treffen Wirthschaften
in Hamburg.
1
auf
71
Einwohner
Lübeck.
1
n
116
n
Darmstadt.
1
n
119
r >
Bremen.
1
V
141
n
Berlin.
1
»
160
n
während für ganz Deutschland erst 1 auf 200 Einwohner trifft. Der Bier-
consum beträgt jährlich pro Kopf der Bevölkerung für Deutschland 87*5 Liter
(Württemberg 186 Liter, Bayern 233 Liter), während er z. B. für München
432 Liter beträgt, ungerechnet den Export J ).
Dass aber nicht nur bestimmte Krankheiten in den Grossstädten einen
nachtheiligeren Einfluss auf den Menschen ausüben als auf dem Lande,
sondern dass in den Luft- und Lichtverhältnissen der Städte selber noch
ein nicht zu unterschätzender Factor für dieses Missverhältniss liegt, dafür
sprechen die Erfahrungen, welche bezüglich der jahreszeitlichen und monat¬
lichen Mortalität gemacht worden sind und im Folgenden ihren Ausdruck
finden:
Es starben in
den Monaten
in Preussen
in Berlin
Januar mit März.
95*8
81*7
April „ Juni.
84-6
90*6
Juli * September.
89*5
107-8
October „ December. .
83*7
80*4
Die höchste Sterblichkeit fällt also in der Grossstadt auf den Sommer,
wo die städtischen Wohnungen und Strassen nicht mehr entwärmt, wo die
Ventilation der bewohnten Räume und Gebiete nicht mehr genügend vor¬
genommen werden kann, wo gastrische und Infectionskrankheiten durch
ZersetzungsVorgänge in den Nahrungsmitteln und im Boden leichter auf-
treten und wo überhaupt die Widerstandskraft der städtischen Bevölkerung
gegen Krankheiten noch in höherem Grade als sonst verringert ist. Dass
von diesen Factoren die Kinder